Der Wunsch, Dinge zu besitzen

Wir alle haben viel und kaufen immer mehr. Expertin Astrid Müller über die Gründe – und ab wann die Kaufsucht beginnt

Eine Frau sitzt barfüßig auf einem Sofa, die neuen Schuhe und andere neu gekauften Dinge in Einkaufstüten um sich herum aufgestellt.
Die Konsumausgaben der Deutschen steigen: Wird sich zur Flugscham irgendwann die Kaufscham gesellen? © Martin Poole/Getty Images

Frau Professor Müller, die Konsumausgaben der Deutschen steigen jedes Jahr. Was treibt uns aus Ihrer Sicht dazu, dass wir immer mehr kaufen?

Das eine ist, dass es in den westlichen Industriegesellschaften eine ansteigende materielle Werteorientierung gibt. Untersuchungen zeigen, dass diese materielle Orientierung in der jüngeren Generation stärker ausgeprägt ist, und wenn diese Kohorten heranwachsen, kommt das natürlich auch in den höheren Altersgruppen an. Das andere ist, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der die Marketingstrategien darauf fokussiert sind, Produkte an den Mann zu bringen. Und durch das Internet gibt es die Möglichkeit, jederzeit und von überall auf der Welt bequem Dinge zu ordern.

Kann es auch mit dem steigenden Stresspegel zu tun haben, den viele Menschen empfinden?

Das kann sein, ist aber eine Hypothese. Ich kann nur etwas zu denjenigen sagen, die tatsächlich in eine Kaufsucht verfallen, die also exzessiv konsumieren. Bei denen ist ein Merkmal, dass sie zur Emotionsregulation einkaufen. Das hängt häufig damit zusammen, dass ihr subjektiver Stresspegel steigt und sie das kanalisieren, indem sie etwas tun, das verfügbar und sozial akzeptiert ist, nämlich einkaufen. Ob das aber für alle Menschen zutrifft, kann ich nicht sagen, dafür bräuchten wir Empirie.

Wo ziehen Sie die Grenze zwischen Menschen, die schlicht viel konsumieren, und jenen, die unter pathologischem Kaufverhalten leiden?

Menschen, die unter pathologischem Kaufverhalten leiden, sind sehr eingenommen von Gedanken ans Kaufen. Sie können sich davon kaum ablenken und spüren ein starkes Verlangen nach dem Kaufakt, einen starken Wunsch, Dinge zu besitzen. Sie können sich hin und wieder unter Kontrolle halten, aber es kommt regelmäßig zu Kontrollverlusten, bei denen sie Dinge konsumieren, die sie nicht benötigen und anschließend auch kaum oder wenig nutzen. Ein anderes wichtiges Kriterium für Kaufsucht ist, dass diese Menschen negative Folgen des Konsumierens erleben, also finanzielle Probleme haben, familiäre Probleme haben oder selbst sehr unbefriedigt bleiben und trotzdem nicht mit Kaufen aufhören können. Sie haben die Einsicht, aber sie können dem Kaufen nicht widerstehen. Bei ihnen kommt es auch zu neuro-adaptiven Veränderungen, so dass alle möglichen Reize, die irgendwie mit Kaufen assoziiert sind, sofort diesen Kaufwunsch auslösen, nicht nur, wenn sie in einem Laden stehen, sondern auch wenn sie eine Werbung sehen oder etwas hören.

Warum suchen Kaufsüchtige die Befriedigung im Konsum? Sie könnten ja auch andere Wege gehen.

Ja, da haben Sie Recht, sie könnten auch eine Essstörung entwickeln oder einen Zwang. Ein wichtiger Prädiktor für Kaufsucht ist die materielle Werteorientierung. Diese Menschen haben ein geringes Selbstwertgefühl und gleichzeitig die Überzeugung, dass andere sie danach beurteilen, was sie besitzen. Und sie selbst beurteilen andere Menschen auch danach, was die besitzen. Für sie gilt: Wenn ich mehr habe, dann fühle ich mich wertiger. Wenn diese Ideen als innere Schemata vorhanden sind, dann ist das ein ziemlich robuster Befund dafür, dass diese Menschen eher eine Kaufsucht ausbilden als Menschen, denen materielle Werte ziemlich egal sind. Ansonsten gibt es viele unspezifische Risikofaktoren für Kaufsucht, die Sie auch bei anderen psychischen Erkrankungen finden.

Würde das im Umkehrschluss für uns Normal-Konsumierer heißen: Je mehr Selbstwertgefühl ich habe, desto weniger kaufe ich ein?

Ja, das könnte man vermuten, wobei die Zusammenhänge sicher wesentlich komplexer sind.

Sie sagen, dass Kaufsucht insgesamt übersehen und bagatellisiert wird. Warum ist das so?

Zum einen wirkt das Verhalten normal – Sie sehen ja niemandem an, dass er kaufsüchtig ist, anders als zum Beispiel bei einem Menschen mit Alkoholabhängigkeit, bei dem Sie irgendwann die körperlichen Folgeschäden bemerken. Dahinter steht auch, dass wir nicht über Geld sprechen, das ist ein gewisses Tabuthema in unserer Gesellschaft. Wir würden ja erstmal jemanden, der sich ständig etwas Neues zulegt, nicht fragen: Kannst du dir das überhaupt leisten? Außerdem ist es den meisten Menschen mit Kaufsucht total peinlich, dass sie mit Geld nicht umgehen können. Deswegen sprechen sie nur ungern darüber. Das zweite ist, dass Kaufsucht keine anerkannte psychische Erkrankung ist, sie ist im Klassifikationssystem noch nicht verortet. Dadurch wird immer noch relativ wenig Wissen über Kaufsucht in der Ausbildung von Medizinern und Psychologen oder in Fortbildungen vermittelt. Und wenn wenig Wissen auf Seite der Behandelnden vorhanden ist, dann wird auch wenig spezifisch gefragt. Das ist eine Art Teufelskreis.

Meine Vermutung wäre ja gewesen: Konsum ist eigentlich die größte Freizeitbeschäftigung der Menschen und ist so positiv besetzt ist, dass es schwer ist, die dunkle Seite sichtbar zu machen.

Ganz genau. Aber das hängt eben auch damit zusammen, dass man nicht nachfragt: Kannst du dir das überhaupt leisten? Gleichzeitig muss man aber auch klar sagen: Die Prävalenzschätzungen gehen davon aus, dass ungefähr fünf Prozent der Erwachsenen gefährdet oder betroffen sind. Und 95 Prozent sind es nicht. Also muss etwas Individuelles dazukommen. Und vergessen Sie nicht, die Themen Kaufsucht und Schulden sind schambesetzt. Aber ja: Dass es so bagatellisiert wird, liegt auch an der Normalität des Einkaufens.

Sie haben sehr viel Erfahrung damit, wie man Kaufsüchtige therapiert. Können Sie daraus Dinge ableiten, die uns allen dabei helfen könnten, weniger zu konsumieren?

Das A und O ist die Selbstbeobachtung. Vielleicht nehmen Sie mal die Parallele zum Essen: Essen ist ja auch so etwas Normales, das machen alle, und manche essen mehr und manche weniger. Wie versucht man da, ein gesundes Ernährungsverhalten zu erreichen? Sicherlich über Essprotokolle, Tagebücher, Apps, bei denen man schaut: Wie viel bewege ich mich, wie viel esse ich, wie viel trinke ich? Das kann man übertragen aufs Kaufverhalten: Planen, was ich einkaufe, ansparen, sich fragen: Brauche ich das jetzt? Wofür brauche ich das? Wie oft werde ich es benutzen? Und wenn ich bemerke, dass ich einen Schrank öffne und da sind Dinge drin, die ich völlig vergessen habe. Dann in mich gehen und überlegen: Wie war das beim Kauf? Wie ist der abgelaufen, was war mein Motiv für diesen Einkauf? Was habe ich genau gemacht? Was habe ich gedacht? Was habe ich gefühlt? War das wirklich die Ware, die ich brauchte, oder ginge es um einen anderen Affekt, den ich in dem Moment bewältigen wollte? Oder um ein Bedürfnis, das ich durch Kaufen befriedigen wollte? Wenn ich bemerke, dass so etwas öfter passiert, dann muss ich überlegen, wie ich das verändern kann. Das andere ist der Bezahlmodus: Die Nicht-Barzahlungen, das schnelle digitale Einkaufen, dieses „one click and buy“, das ist natürlich Gift. Das unterminiert alles, was wir mit Patienten und Patientinnen mit Kaufsucht in der Therapie einüben: Nämlich erst einmal eine Verzögerung erreichen, einen Aufschub, in dem ich nachdenken kann: Brauche ich das, kann ich mir das leisten, ist das ein vernünftiger Kauf? Worum geht es gerade? Das ist ein Hinweis darauf – so lange das noch bei uns möglich ist – erstmal zu Cash-Zahlungen überzugehen.

Die globale Erwärmung verändert, wie wir über Mobilität denken. Glauben Sie, dass sich auch unsere Haltung zum Konsum wandelt, wird sich zur Flugscham die Kaufscham gesellen?

Ja, das könnte ich mir vorstellen. Die Bewegungen gibt es ja schon, Tauschbörsen, Second-Hand-Märkte, Upcycling. Ob das allerdings die Masse erreicht, wage ich zu bezweifeln. Ohne in ein Industrie-Bashing zu verfallen, muss man sagen, dass durch immer personalisiertere Werbung Wünsche geweckt werden, von denen man vorher nicht wusste, dass man sie hat. Und das zeigt Wirkung. Von daher glaube ich nicht, dass es zu einem generellen Konsum-Shaming kommt. So weit sind wir noch lange nicht.

Das postmaterielle Zeitalter sehen Sie noch nicht vor der Tür?

Nein, das sehe ich noch nicht vor der Tür.

Professor Dr. Astrid Müller ist Psychologieprofessorin an der Medizinischen Hochschule Hannover und eine der profiliertesten Expertinnen für Kaufsucht

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute Compact 58: Vom Glück des Weniger
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