Anders als die anderen

Zu dick, geschieden, kinderlos? Psychologen nahmen Stigmata unter die Lupe: Manche sind harmlos, andere schaden der Gesundheit, auch der seelischen.

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Illustration zeigt einen Menschen, der in zu großer Kleidung auf dem Boden sitzt
Mit dir stimmt etwas nicht: Stigmata können uns krank machen.

Zwei Drittel der Männer (67 Prozent) und die Hälfte der Frauen (53 Prozent) in Deutschland sind übergewichtig.“ Solche Zahlen, wie diese des Robert-Koch-Instituts, werden oft in den Medien veröffentlicht. Geht es um die finanziellen Folgen der Problematik, werden auch drastische Formulierungen verwendet: Von „schwerwiegenden Belastungen“ und hohen Folgekosten für die nationalen Gesundheitssysteme ist die Rede. Die implizite Botschaft könnte lauten: Übergewichtige sind selbst schuld und verursachen hohe und vermeidbare Kosten.

Eine solche Sichtweise, ob nun in den Medien suggeriert oder vom eigenen Umfeld, belastet die Betroffenen, setzt sie unter Stress und erschwert den Umgang mit den eigenen Emotionen, wie eine Studie über Stigmata des US-amerikanischen Psychologieprofessors John E. Pachankis von der Yale University und seiner Kollegen von der Columbia University sowie der University of California ergeben hat: Übergewicht gehört demnach zu den einflussreichsten Brandmalen, die in unseren Köpfen „lagern“. Dies ist aber nur ein Beispiel. Pachankis und seine Kollegen untersuchten das Vorkommen und die Auswirkungen von insgesamt 93 Stigmata, und es zeigte sich: Einige bewirken nichts Schlimmes, andere erschweren es, den Gefühlshaushalt im Griff zu behalten, und senken die Fähigkeit, mit Stress klarzukommen. Manche gehen mit hoher Diskriminierung einher. Viele schaden der Gesundheit, und einige haben mehrere negative Auswirkunge auf einmal.

Stigmata sind weit verbreitet

Fast jeder hatte oder hat einmal in seinem Leben mit einem Stigma zu kämpfen, stellen die Psychologen in der Studie fest. Dabei definieren die Wissenschaftler den Begriff sehr weit – darunter fallen für sie Phänomene wie Scheidung, Arbeitslosigkeit, Prostitution, Alkoholismus, leichtere und schwere Erkrankungen, aber auch die Religionszugehörigkeit, die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit, ein wenig anziehendes Äußeres, freiwillige Kinderlosigkeit genauso wie unfreiwillige, Homosexualität, Tattoos, Piercings, geringe Bildung, eine kriminelle Vergangenheit, Obdachlosigkeit, das falsche soziale Milieu und vieles mehr.

Um das gesamte Spektrum möglichst vollständig abzudecken, recherchierten die Forscher in der Fachliteratur und in wissenschaftlichen Datenbanken. Sie führten Gespräche mit Stigmaforschern sowie Studierenden. Anschließend stellten sie eine Liste mit 93 Stigmata zusammen. Um dann deren Häufigkeit sowie die Auswirkungen effizient ermitteln zu können, ließen die Forscher Laien und Experten Cluster bilden – das heißt, es wurden Stigmata zu einer Gruppe zusammengefasst, die sich im Hinblick auf ihre Eigenschaften ähneln. Die Zahl der Eigenschaften war dabei begrenzt, so galten als Kriterien beispielsweise die Sichtbarkeit eines Stigmas, die Dauerhaftigkeit, die Bedrohlichkeit oder das Ausmaß der Diskriminierung. Fünf Cluster kamen dabei heraus, und von diesen steht demnach jeder für eine ganz bestimmte Kombination von Eigenschaften. Tatsächlich stellten die Forscher fest, dass sich an dieser Kombination erkennen lässt, wie die zugehörigen Stigmata wirken.

Übergewicht und Depressionen sind einflussreiche Stigmata

Welche der 93 Stigmata werden am häufigsten erlebt und welche spielen im täglichen Leben eine wichtige Rolle? Dies wollten die Psychologen als Nächstes wissen und befragten dafür 1123 zufällig ausgewählte Probanden. Am häufigsten nannten die Teilnehmer „Arbeitslosigkeit“, am zweithäufigsten „Fettleibigkeit oder Übergewicht“. Auf Platz drei dieser Rangliste landete eine „Tätigkeit in der Dienstleistungsbranche“. Bei den bedeutsamsten Stigmata nahm „Fettleibigkeit und Übergewicht“ Platz eins ein, auf den Plätzen zwei und drei standen „Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse/Armut“ und „Depressionen“.

Pro Cluster konnten die Forscher ein spezielles Wirkungsprofil zeichnen. Eines versammelte etwa in sich unangenehme Stigmata, die als einflussreich gelten, die sozialen Kontakte beeinträchtigen und der Gesundheit schaden, dazu gehören etwa geistige Einschränkungen, körperliche Behinderungen oder Autismus. Ebenfalls gesundheitsschädlich und mit hoher Diskriminierung verbunden sind bedrohliche Stigmata wie Alkoholismus, Drogensucht, Obdachlosigkeit, eine kriminelle Vergangenheit. Nur geringe Auswirkungen haben die vielen Stigmata, die als unverfänglich eingestuft wurden, etwa Atheist sein, jüdische Religionszugehörigkeit, Stimmungsschwankungen, einer sexuellen Minderheit angehören, bestimmte Krebserkrankungen oder die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse. Dagegen gelten Stigmata, die den Träger als unattraktiv oder wenig anziehend erscheinen lassen, als emotional belastend, sie schaden dem Wohlbefinden und verschlechtern die Fähigkeit, mit Stress umzugehen. Sie sind ebenfalls in einem bestimmten Ausmaß gesundheitsschädlich – wie beim Übergewicht.

John E. Pachankis u.a.: The burden of stigma on health and well-being: A taxonomy of concealment, course, disruptiveness, aesthetics, origin, and peril across 93 stigmas. Personality and Social Psychology Bulletin, 2017. DOI: 10.1177/0146167217741313

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2018: Akzeptieren, wie es ist
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