Es ist so weit: meine Nachbarin Frau Wiese zieht aus, aus beruflichen Gründen und in eine andere Stadt. Ich habe sehr gern unter Frau Wiese gewohnt, fast zwölf Jahre lang ist der Soundtrack ihres häuslichen Lebens zu mir heruntergerieselt. Wir haben einander nie in unsere Wohnungen eingeladen, aber wir sind immer sehr zutraulich gewesen: Wir haben uns eine Menge anvertraut im Hausflur, an Wohnungstürschwellen, im Heizungskeller. Jetzt stehen in ihrer Wohnung kaum noch Sachen und drei Leute herum: der alte Nachbar Pohl, Frau Wiese und ich.
Wir befinden uns in Frau Wieses ausgeräumter und deshalb hallender Küche, in einem lockeren Halbkreis, mit hängenden Armen und Klößen in den Hälsen; wir stehen da wie Teilnehmer einer systemischen Familienaufstellung, die ins Stocken geraten ist. Hin und wieder kommt ein Umzugshelfer herein, er ist eine schweißgebadete Erscheinung, ein Sumo-Ringer würde neben ihm zerbrechlich aussehen. Der Umzugshelfer schultert letzte Dinge. Gerade trägt er Frau Wieses Hometrainer an uns vorbei, der im Arm des Umzugshelfers so viel zu wiegen scheint wie ein Geodreieck.
Noch ist Frau Wiese da, und es ist nicht gut auszuhalten, tatenlos unter diesem „Noch“ zu stehen, deshalb deutet Frau Wiese auf die Fensterscheibe und sagt: „Die Aufkleber da, die könnte man noch ablösen.“ – „Sehr gute Idee“, sagt Herr Pohl, und dann eilen wir alle drei dankbar zu der Fensterscheibe. Die Aufkleber sind klein und alt, es handelt sich um drei vergilbte Prilblumen, die Frau Wieses Vormieterin dort hingeklebt haben muss.
Herr Pohl friemelt seinen Fahrradschlüssel von seinem Schlüsselbund und kratzt damit an den Aufklebern herum, Frau Wiese und ich piddeln mit den Zeigefingern. Es dauert zum Glück, die Prilblumen kleben sehr gut, und obwohl wir es besser wissen, versuchen wir entschlossen, einem…
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