Geliebte sein – darf ich das?

Therapiestunde: Eine junge Lehrerin hat sich in einen verheirateten Mann verliebt. Ihr größtes Problem dabei: Was werden ihre Eltern dazu sagen?

Illustration zeigt eine Frau, die eine Waage hält
Was ist wichtiger: Die Beziehung zum Geliebten oder die Meinung der Eltern? © Michel Streich

Die junge Frau vor mir, dunkelhaarig, hübsch und sehr gepflegt, ist ganz offensichtlich bekümmert. Sie hat sich verliebt, in einen verheirateten Mann, und er sich in sie. Gleichzeitig weiß sie genau: Ihre Eltern würden solch eine Beziehung niemals tolerieren, und sie darf es ihnen niemals sagen. Ihr einziges Kind hat etwas Besseres verdient! Das weiß Klara – so nenne ich sie hier.

Und Klara selbst hat zu alledem auch noch ein schlechtes Gewissen gegenüber der Ehefrau und dem Kind des Mannes. Soll sie also die Beziehung lieber abbrechen? Sie meint, dass sie das sicher nicht fertigbrächte. Schlafen kann sie mit all diesen Schuldgefühlen schon lange nicht mehr gut, dazu kommen nahezu täglich Kopfschmerzen.

Solch ein Problem hatte sie bisher noch nie. Klara liebt ihre Eltern, und die wussten bisher auch immer so gut wie alles von ihr. Alles, was eine Bedeutung hatte. Und nun geht es um ihre Gefühle, ihre Zukunft, und sie kann es ihnen nicht mitteilen. Klara steckt in einem Konflikt. Soll sie sich äußern und den Kontakt zu den Eltern damit riskieren, oder ist es besser, ihr Innenleben für sich zu behalten und ein Geheimnis zu haben?

Zunächst lasse ich sie erzählen. Wie sie den Mann kennengelernt hat, was sie an ihm besonders anziehend findet, was seine Ehefrau von ihr und überhaupt der ganzen Angelegenheit weiß. Wer weiß überhaupt etwas davon? Ich höre, dass sie ihrer besten Freundin davon erzählt hat, aber sonst niemandem. Das heißt also, dass sie kaum mit jemandem über das reden kann, was ihr auf der Seele liegt. Und ihre beste Freundin – eher ein Mauerblümchen, sagt sie – scheint sie inzwischen sogar zu beneiden, so dass sie auch ihr lieber nichts mehr anvertraut.

Dann fällt mir eine Intervention ein: „Was würden Sie als erfahrene Lehrerin einer Schülerin raten, die mit dem Problem zu Ihnen käme?“ Klara zögert eine Weile. Dann, nachdem sie sich anscheinend in die neue Rolle versetzt hat, sagt sie: „Ich wäre skeptisch. Was erwartet sie von der Beziehung? Das würde ich vermutlich zuerst herauszubekommen versuchen.“ „Nun, und was also erwarten Sie selbst von dem Mann und der Beziehung?“

Klara denkt nach. Dann antwortet sie: „Insgeheim wünsche ich mir natürlich, dass er sich trennt und zu mir bekennt, ganz öffentlich.“ „Und was meinen Sie, würde das etwas ändern am Urteil Ihrer Eltern? Wären sie dann einverstanden mit dieser Beziehung? Und was ist mit Ihnen – ginge es Ihnen besser, wenn Mutter und Vater zustimmen würden?“, hake ich nach.

„Sicherlich ja. Und ob er sich trennen würde, weiß ich eben nicht. Bislang habe ich mich nicht getraut, ihn danach zu fragen“, entgegnet sie. „Was befürchten Sie?“ Sie wirkt beschämt: „Dass er solch eine Frage als zu weitgehend empfinden würde.“ „Wie lange kennen Sie sich denn?“, fällt mir ein. Sie muss nicht lange nachdenken: „Seit einem halben Jahr“, sagt sie dann.

„Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, dass er möglicherweise ja auch darauf warten könnte, dass Sie ihn danach fragen?“, gebe ich ihr zu bedenken. „Das könnte gut sein“, meint sie dann. „Er hat schon so oft von seiner unglücklichen Ehe erzählt. Vielleicht hofft er, dass er mit mir glücklicher werden könnte. Für mich klingt es fast so.“

Endlich für sich selbst einstehen

„Was wissen Sie denn überhaupt über seine Ehe und von seiner Frau?“, frage ich sie und merke, dass ich immer skeptischer werde. Ist sie vielleicht einfach naiv? Solche Geschichten kommen ja haufenweise vor. „Und wenn Sie weiterhin in der Rolle der Geliebten wären, wie wäre das für Sie?“ „Das wäre auf jeden Fall ausgeschlossen. Meine Eltern würden das niemals akzeptieren“, antwortet sie.

„Sie wollen doch, dass ich glücklich bin und jemanden habe, der ganz für mich da ist.“ Aha, denke ich, es geht im Grunde um die Ablösung von den Eltern. Das sage ich dann auch. Sie ist zunächst betroffen. Nach einer Weile weint sie. „Was Ihre Eltern meinen, ist doch im Grunde völlig egal“, gebe ich ihr zu bedenken. „Es geht doch um Ihr Leben! Sie sind eine erwachsene Frau, haben einen angesehenen Beruf und können doch mittlerweile wirklich das machen, was Sie für sich für richtig halten.“

Normalerweise findet die Ablösung von den Eltern während der Pubertät statt. Dafür ist sie da. Also frage ich sie, wie ihre Pubertät war. Was erinnert sie? War sie rebellisch? Nein, sie blieb das liebe Kind, das ihren Eltern keinen Kummer machen wollte. Wenn die Klassenkameraden Drogen nahmen, tat sie es selbstverständlich nicht. Sie war nach wie vor die vorbildliche Schülerin. Keine Streberin im engeren Sinn, aber von Rebellion keine Spur.

„Also haben Sie sich damals nicht aufgemacht, um Ihren eigenen Weg zu finden, mit allen Risiken“, erkläre ich. Dann fahre ich fort: „Eine Neuorientierung, eine neue Zugehörigkeit gab es also bei Ihnen nicht. Aus der Entwicklungspsychologie wissen wir, dass die Rebellion, der Widerstand gegen die elterlichen Normen, erforderlich ist dafür, damit das Eigene gefunden werden kann.“ Sie ist still geworden und schaut vor sich auf den Boden. Ich merke, dass sie nachdenkt.

Es gilt, die Pubertät nachzuholen

Also sind wir inzwischen am Kern des Problems angekommen. „Wissen Sie denn, was Sie selbst, ganz unabhängig von Ihren Eltern wollen? Wirklich wollen?“ Nach einer Weile gesteht sie: „Ich glaube nicht.“ „Dann geht es also darum, das erst einmal herauszufinden.“

„Und wie finde ich das heraus?“, fragt sie mich eindringlich. „Es ist alles andere als leicht, sich nachträglich, als Erwachsene, auf den eigenen Weg zu machen. Denn die Rolle der lieben und angepassten Tochter bedeutet auch Sicherheit und Geborgenheit. Und beides aufzugeben wird ganz gewiss nicht leicht werden.“

Eigentlich – so denke ich mir– geht es ja darum, die Pubertät nachzuholen. Also im Prinzip darum, sich nicht leben zu lassen, sondern selbst das eigene Leben zu leben. Dazu gehört, herauszufinden, was ihre ganz eigenen Bedürfnisse und Wünsche sind. Das ist ein langer Weg, und das wird vermutlich erst das Ergebnis unserer Zusammenarbeit sein.

Möglicherweise muss sie zuerst herausfinden, was sie nicht will, also das, was sie anders machen möchte als bisher. Vielleicht könnte die Rolle der Geliebten ein Anfang sein. Aber das wissen wir noch nicht. Darüber wird sie erst noch bis zur kommenden Sitzung nachdenken und nachspüren.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2018: Akzeptieren, wie es ist
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