"Selbstverwirklichung ist oft Selbstbespiegelung."

Vom aristotelischen Modell zur modernen Konsumwelt: Heute kennt die eigene Selbstverwirklichung scheinbar kein Ende mehr, kritisiert Peter Strasser.

Es gab eine Zeit des Humanismus, da war es üblich, sich auf Aristoteles zu berufen, wenn es um das Thema Selbstverwirklichung ging. Denn es gehörte zur Denkkultur, davon auszugehen, dass persönliche Begabungen und Schwächen der Ausdruck eines dem Individuum eingeprägten Entwicklungs­planes seien. Nicht nur im Pflanzen- und Tierreich sprach man von Entelechie, was bedeutete, dass die Lebewesen ihre vollendete Form gleichsam in sich trugen. Dieses Ziel war nicht einfach naturhaft, sondern als Endzweck dem Reifungsprozess quasi einverleibt.

Auch für Menschen galt Analoges, allerdings mit einem wichtigen Zusatz: Die Anlagen, die jedes Menschenkind in sich trug, seine Persönlichkeitssamen, gediehen unter dem Vorbehalt vernunftgeleiteter und dabei willensfreier Entschlüsse. Selbstverwirklichung bedeutete also, sich der Wertgestalt, die in der Psyche angelegt war, durch autonome Aktivitäten anzunähern.

Eine Frage des individullen Narzissmus

Mit der modernen Psychologie, die an den empirischen Wissenschaften orientiert ist, verlor das aristotelische Modell an Bedeutung. Nun gab es kein keimhaftes Persönlichkeitsideal mehr, dessen Erreichung die Person erst „zu sich selbst brachte“. Die menschliche Natur war fortan kein Ort gleichsam eingelagerter Werte, sie war ein wertneutraler Komplex nach Maßgabe genetischer Muster.

Dadurch wurde die Selbstverwirklichung zusehends eine Frage des individuellen Narzissmus, einer Selbstliebe und Selbstbespiegelung, die nur scheinbar autonom funktionierte. Werthaltungen wurden von außen übernommen, der Markt der Moden – ob es die Kleidung, den Körper oder die Umgangsformen betraf – modelte nun dasjenige, was die Person für ihr Eigenstes hielt.

Und da die Konsumwelt immer rascher Lebensmoden hervorbrachte und fallenließ, wurde die Rede, wonach sich ein Mensch nur dadurch „finden“ könne, dass sie oder er sich immer wieder selbst „neu erfinde“, als Optimierung der individuellen Freiheit missverstanden.

Besinnung auf Beziehungen hilft gegen Identitätskrisen

Denn erstens befördert der Drang, sich selbst zu „erfinden“, mangels einer bindenden Wertgestalt neurotische Suchbewegungen. Nie weiß man, ob man sich selbst schon nahe genug ist. Zweitens aber wird es immer schwieriger, zu anderen Menschen produktive Beziehungen zu unterhalten. Stets haben die anderen das Gefühl, bei ihren Selbstfindungsbemühungen nicht hinreichend gewürdigt zu werden.

Gegen die Dauerkrisen, die eine Folge der Psychologisierung sind, hilft – wenn überhaupt – nur eine Besinnung auf die ethische Dimension menschlicher Verhältnisse und damit auf die Pflichten, die aus unseren Beziehungen erwachsen.

Beispiel „Familie“: Sie wird nur dann funktionieren, wenn die Partner lernen, zwischen romantischen Turbulenzen und solchen Schwierigkeiten zu unterscheiden, die eine Folge der geforderten Erfüllung anstehender Verpflichtungen – Familienpflichten – sind. Das Motto lautet fortan nicht mehr: „Ich komme zu mir selbst, weil ich mir gefalle“, sondern realistischer: „Ich komme zu mir selbst, weil ich tue, was ich soll.“ Und dann mag auch Goethes himmlischer Chor recht behalten: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen!“

Peter Strasser ist Philosoph und Autor. Er war Professor am Institut für Rechtsphilosophie der Universität Graz

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