„Wenn wir zu unseren Schwächen stehen, entsteht Nähe“

Der Mut zur Verletzlichkeit ist alles andere als schwach. Psychologin Sabine G. Scholl im Gespräch darüber, wie wir zu unseren Fehlern stehen.

Die Illustration zeigt einen Mann mit rotem Kopf vor einem Mikrofon, während im Kopf viele Menschen sind
Keine Antwort auf die Frage im Vorstellungsgespräch? Angst vor der Präsentation? Gehen wir offen mit unseren Schwächen und Fehlern um, kann das die Nähe zu anderen Menschen fördern. © Hanna Barczyk für Psychologie Heute

Ein Gespräch mit der Psychologin Sabine G. Scholl über den Mut zur Verletzlichkeit und wie man ihn aufbringt.

Wir tun uns oft schwer damit, zu unseren Schwächen zu stehen und Probleme oder Fehler zuzugeben. Was sind typische Situationen, in denen wir uns unwohl fühlen?

Wenn Sie jemanden kennenlernen, den Sie attraktiv und interessant finden, und merken, dass Sie sich verliebt haben, sind Sie in einem Dilemma. Sie wissen nicht, ob der oder die andere Ihre Gefühle erwidert. Offenbaren Sie sich, riskieren Sie…

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Sie wissen nicht, ob der oder die andere Ihre Gefühle erwidert. Offenbaren Sie sich, riskieren Sie eine Abfuhr. Das kann sehr schmerzhaft sein. Wenn Sie sich bedeckt halten und Ihre Gefühle nicht zeigen, passiert vielleicht nichts. Denn jemand muss den ersten Schritt machen. Und dieser erste Schritt ist mit Ängsten verbunden.

Oder Sie waren unkonzentriert bei der Arbeit und müssen Ihrem Chef gegenüber zugeben, dass Sie bei der Kalkulation einen Fehler gemacht haben, der das Unternehmen 5000 Euro kostet. Das löst Scham und Angst aus. Es kann auch sehr unangenehm sein zuzugeben, dass Sie etwas nicht verstanden haben, während alle anderen scheinbar mühelos folgen können.

Ihre Forschung hat ergeben, dass die Sorge, vor anderen einen Fehler einzugestehen, oft unbegründet ist. Wie sind Sie darauf gekommen?

Die wichtigsten Ergebnisse verdanken wir der Doktorarbeit meiner Kollegin Anna Bruk. Gemeinsam mit Herbert Bless haben wir verschiedene Experimente gemacht, in denen die Teilnehmenden das Zeigen von Schwäche bewerten sollten. Uns hat interessiert: Was passiert, wenn Menschen sich entscheiden, ihre Ängste zu überwinden und authentisch ihre Gefühle zu offenbaren? Wenn sie sich also aus freien Stücken verletzlich zeigen.

In einem Experiment haben wir Studierende gebeten, sich vorzustellen, man selbst oder eine andere Person gleichen Geschlechts habe einen schweren Fehler gemacht und nach einigen Überlegungen entschieden, diesen dem Chef zu gestehen. Danach sollten sie dieses Geständnis bewerten: Sahen sie darin eine Stärke oder eine Unzulänglichkeit? Eine andere Gruppe sollte sich vorstellen, einer Person die Liebe zu gestehen, eine dritte um Hilfe zu bitten.

Das Ergebnis: Quer durch alle Situationen nahmen die Teilnehmenden das Zeigen ihrer eigenen Verletzlichkeit deutlich negativer wahr als bei anderen. Mit unseren eigenen Schwächen und Fehlern gehen wir also viel härter ins Gericht und befürchten das Schlimmste. Bei anderen sind wir viel eher geneigt zu sagen: „Das kann doch jedem mal passieren. Davon geht die Welt nicht unter.“ Oft sind wir sogar beeindruckt, wenn jemand zu einem Fehler steht, und interpretieren das als Stärke. Dieses Auseinanderklaffen von Selbst- und Fremdwahrnehmung nennen wir beautiful mess effect. Auf Deutsch: Effekt des schönen Elends.

Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?

Die unterschiedliche Bewertung lässt sich gut mit der psychologischen Dis­tanz erklären. Je nachdem, wie nah oder fern uns ein Ereignis ist, verändert sich unsere mentale Repräsentanz, also unsere Vorstellung davon. Angenommen Sie haben sich gründlich auf ein Vorstellungsgespräch vorbereitet, und dann stellt man Ihnen eine Frage, auf die Sie beim besten Willen keine gute Antwort haben. Sie entscheiden sich zuzugeben: „Ich weiß es nicht.“ In diesem Moment sind Sie gedanklich auf die negativen Konsequenzen fixiert: O je, was denken die jetzt über mich? Ich habe es vermasselt.

Erzählt Ihnen jedoch ein Freund von einem solchen Erlebnis, betrachten Sie die Situation aus einer größeren Distanz und können auch das Positive erkennen. Ihr Freund hatte den Mut, eine Wissens­lücke zuzugeben, und hat damit vielleicht sogar Punkte gesammelt.

Was kann helfen, die Angst zu überwinden, vor anderen schlecht dazustehen?

Wir haben überprüft, ob Selbstmitgefühl hilfreich ist. Nach Kristin Neff bedeutet Selbstmitgefühl: Ich behandele mich selbst wie einen guten Freund. Ich mache mir klar, dass alle Menschen Fehler begehen. Ich bemerke, wie unangenehm es mir ist, eine Schwäche zu zeigen, und wie viele negative Gedanken und Gefühle hochkommen. Ich lasse die Gefühle zu, ohne sie zu sehr zu dramatisieren. Ich kann mir sagen: Das war ein blöder Fehler, aber davon geht die Welt nicht unter, und ich bin deswegen kein schlechter Mensch. Ich lerne etwas daraus.

Tatsächlich erwies sich diese Haltung als hilfreich. Probandinnen und Probanden, die ein ausgeprägtes Selbstmitgefühl hatten, bewerteten es viel positiver, wenn sie ihre eigene Verletzlichkeit zeigten – ähnlich wie bei anderen Personen. Je mehr Selbstmitgefühl, desto geringer die Tendenz, über das Zeigen der eigenen Verletzlichkeit hart zu urteilen.

Hier können Sie mehr zum Thema Selbstmitgefühl lesen:

Warum tut es uns gut, mit unserer Verletzlichkeit liebevoller und offener umzugehen?

Wenn wir anderen nicht nur unsere Schokoladenseite zeigen, sondern auch zu unseren Schwierigkeiten, Zweifeln und Schwächen stehen, entstehen mehr Nähe, Offenheit und Vertrautheit. Der oder die andere fühlt sich auch ermutigt, eigene Schwächen zu offenbaren. So entsteht eine neue Qualität in der Beziehung. Die Fähigkeit, Fehler einzugestehen, ist in Partnerschaften sehr wichtig. Wenn ich zugeben kann, dass ich meinen Partner zu Unrecht beschuldigt oder ein Versprechen nicht eingehalten habe und es mir leidtut, ist das für die Beziehung heilsam.

Ein selbstmitfühlender Umgang mit der eigenen Verletzlichkeit senkt auch das Stresslevel. Uneingestandene Gefühle lassen sich nicht auf Dauer unter den Teppich kehren und sorgen für Spannungen. Studien zeigen: Ältere Menschen mit gesundheitlichen Problemen, die ihre Gebrechen und Schwächen selbstmitfühlend akzeptieren, tun sich leichter, praktische Hilfsmittel wie eine Krücke oder einen Rollator anzunehmen, und können sich damit das Leben leichter machen. Das wiederum erhöht ihre seelische Widerstandskraft.

Es kann uns auch mehr Respekt verschaffen, wenn wir eine Schwäche oder einen Fehler nicht vertuschen, sondern klipp und klar sagen: Ich habe das verbockt, ich mache es wieder gut. Oder: Damit bin ich überfordert.

Im Beruf kann es aber durchaus Nachteile bringen, Schwäche zu zeigen.

Die Botschaft unserer Studien ist nicht: Gehen Sie raus und zeigen Sie überall frei heraus Ihre Schwächen. Es ist wichtig, genau hinzuschauen, wann und wo ein Geständnis gut aufgehoben ist. Wir sollten überlegen: Wer ist mein Gegenüber? Wie offen ist dieser Mensch? Wie tragfähig ist unsere Beziehung? Stimmt der Rahmen?

Doch sogar wenn wir eine Situation falsch eingeschätzt haben und unser Gegenüber unsere Verletzlichkeit ausnutzt, kann Selbstmitgefühl uns helfen. Mit einer freundlichen Haltung schaffen wir uns innerlich einen sicheren Ort, wir können uns selbst trösten und darauf vertrauen, dass wir damit klarkommen.

Lässt sich ein selbstmitfühlender Umgang mit Verletzlichkeit lernen?

Der Grad des Selbstmitgefühls ist zum Glück nicht in Stein gemeißelt. Es gibt wirksame Übungen, eine selbstmitfühlende Haltung zu pflegen. Wir können regelmäßig in einem Tagebuch festhalten, wie wir uns gerade fühlen, uns mit wohlwollenden Worten stützen und reflektieren, wie andere ihre Schwächen offenbaren.

Oder wenn uns etwas misslungen ist, können wir uns einen Brief schreiben aus der Perspektive unserer besten Freundin und so unseren Blickwinkel verändern. Achtsamkeitsübungen helfen, schwierige Gefühle wie Scham und Angst zu spüren und wohlwollend anzunehmen.

Sabine G. Scholl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Mikrosoziologie und Sozialpsychologie der Universität Mannheim. Gemeinsam mit Herbert Bless und Anna Bruk hat sie zu Verletzlichkeit und Selbstmitgefühl geforscht.

Zum Weiterlesen

Anna Bruk, Sabine G. Scholl, Herbert Bless: You and I both: Self-compassion reduces self-other differences in evaluation of showing vulnerability. Personality and Social Psychology Bulletin, 48/7, 2022, 1054–1067

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2023: Selbstmitgefühl