Ihr Buch trägt den Titel Der desorientierte Mann. Worin äußert sich die Desorientierung?
Schon seit einigen Jahrzehnten kommt die Emanzipation der Frauen voran. Ich sehe viele beeindruckende Frauen, denen man die Lust an neuen Möglichkeiten anmerkt. Teil des Prozesses ist die berechtigte Kritik am toxischen Mann, das heißt an den Männern, die mit Herablassung und Gewaltneigung auf patriarchaler Überlegenheit bestehen. Wie aber geht Mannsein heute? Das ist eben nicht so einfach. Viele Männer sind verunsichert und haben kein Leitbild dafür, wie man gleichzeitig partnerschaftlich und männlich-selbstbewusst sein könnte. Dieses Fehlen eines Leitbildes führt zu einer tiefen Verunsicherung und Desorientierung bis hin zu einer destruktiven Selbstkritik, in der alles abgelehnt wird, was irgendwie männlich-selbstbewusst erscheint.
Sie attestieren vielen Männern einen „Autonomie-Dachschaden“. Wie macht sich dieser denn bemerkbar?
„Autonomie-Dachschaden“ ist der humorvolle Ausdruck für die zentrale Schwierigkeit, die ich bei Männern in Beziehungen beobachte. Er beschreibt den beträchtlichen Mangel an Verhandlungskunst in der Partnerschaft. Statt eigene Wünsche zu formulieren und aktiv im „Parlament der Beziehung“ zu verhandeln, passt sich der Mann ängstlich an die Partnerin an oder macht ohne Diskussion, was er will. Beides ist nicht partnerschaftlich und führt aufseiten der Frau zu Enttäuschung und Rückzug. Ihr Klärungsversuch – „Schatz, wir müssen reden“ – wird als Frontalangriff erlebt und führt zu allen möglichen Formen des Ausweichens. Der Mann zeigt dann einen Autonomie-Dachschaden, weil er seine berechtigten Autonomiewünsche nicht aktiv und partnerschaftlich verhandelt, sondern sie durchsetzt, als gäbe es gar keine Beziehung, oder scheinbar ganz auf Autonomie verzichtet.
Warum fällt es Männern so schwer, die Herausforderungen, die die Emanzipation der Frauen seit etwa 50 Jahren mit sich bringt, positiv anzunehmen?
Die Gründe dafür beginnen in der Kindheit. Mit dem Erkennen der eigenen Geschlechtsidentität beginnt der Junge, sich von der Mutter abzulösen, da er die Mutter nicht als Modell für die eigene Geschlechtsidentität verwenden kann. Der Junge löst sich damit zu früh, das heißt bevor seine emotionale Kompetenz stabil in sein Ich integriert ist, von der Beziehung zur Mutter. Stattdessen erotisiert der Junge Technik, Sport oder Ähnliches: Hier erlebt er Kontrolle. Kommt es in der Paarbeziehung dann erneut zu einer nahen Beziehung zu einer Frau, ist der Mann schlecht gerüstet für intensive emotionale Verhandlungen. Zudem kann er sich bezüglich der Aufgabe, eine Partnerschaft zu gestalten, weder an der Vorgeneration orientieren – die handelte ja patriarchal –, noch findet er in den Medien brauchbare Vorbilder.
Was steht denn dem Autonomie-Dachschaden auf der weiblichen Seite gegenüber?
Die bereits verstorbene französische Psychoanalytikerin Christiane Olivier beschreibt in ihrem Buch Jokastes Kinder die Frau, die, enttäuscht von ihrer Partnerschaft, ihre Kinder und insbesondere den Sohn für die eigenen emotionalen Bedürfnisse ausbeutet. Solche Mütter gibt es und sie sind auch nicht selten. Aber die kommunikative Schwierigkeit des Mannes, die ich beschreibe, ist sehr regelmäßig anzutreffen und lässt sich nicht allein diesem spezifischen Mutterthema zuordnen. Ich halte sie für die historische Schwierigkeit des Mannes, sich jenseits des Patriarchats neu zu orientieren. Gegenwärtig sehen wir in allen Gesellschaften rückwärtsgewandte Entwicklungen zurück zum klassisch dominanten Mann. Es gibt Anlass zur Sorge, dass die Kluft zwischen den Geschlechtern wächst.
Dr. Sebastian Leikert ist Diplompsychologe und niedergelassen als Psychoanalytiker in eigener Praxis in Saarbrücken
Sebastian Leikerts Buch Der desorientierte Mann. Hindernisse auf dem Weg zu einer generativen Männlichkeit ist bei Brandes & Apsel erschienen (148 S., € 19,90)