Angstfreier leben

Stau im Tunnel, fremde Leute auf Partys, die allgemeine Weltlage: Vieles wirkt gerade bedrohlich. Diese Strategien helfen, mit Angst fertig zu werden.

Die Illustration zeigt einen jungen Mann, der sich gegen bedrohliche Drachen stellt
Ängste sind allgegenwärtig. Doch welche Vorstellungen von Angst sind realistisch und hilfreich? © Orlando Hoetzel für Psychologie Heute

In meinem Alltag bin ich erstaunlich oft ängstlich: In dieser Woche habe ich beispielsweise eine Einladung zu einer Geburtstagsparty bekommen, auf der ich fast niemanden kennen werde. Schon die Vorstellung, verklemmt in einer Ecke zu stehen, macht mich nervös. Nur ein paar Stunden später beunruhigen mich die Nachrichten zur rasanten Inflation: Was wäre, wenn alles noch schlimmer wird und mein Geld nicht mehr zum Leben reicht? Diffuse Sorgen begleiten mich durch den Nachmittag.

Dagegen ist meine Aufregung,…

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als ich am nächsten Tag in einem Tunnel im Stau stehe und fürchte, dort länger festzustecken, geradezu aushaltbar. Routiniert sage ich mir, dass mir nichts passieren kann, der Stau vorbeigeht. Und genauso ist es auch. Doch fällt mir zunehmend auf, dass trotz der unterschiedlichen Stimmungen, die mich täglich begleiten, die Angst immer mitreist. Bin ich ängstlicher als andere? Oder ist all das eine Folge der beängstigenden Dekade, in der wir leben? Und ganz gleich ob die Gründe bei mir liegen oder bei der Weltlage: Wäre es nicht besser, einen anderen, bewussteren Umgang mit der Angst zu finden?

Betrachtet man die Statistiken, gehören Ängste zu den häufigsten psychischen Leiden. Der vom Robert-Koch-Insti­tut herausgegebene aktuelle Schwerpunktbericht Psychische Gesundheit in Deutschland zeigt dann auch, dass hierzulande die Wahrscheinlichkeit, innerhalb eines Jahres unter behandlungsbedürftigen Ängsten zu leiden, bei fast 20 Prozent liegt; die Zahlen für eine Depressionsdiagnose sind halb so hoch. Die Lebenszeitprävalenz, also die Wahrscheinlichkeit, einmal im Leben eine Angststörung zu entwickeln, liegt mit bis zu 25 Prozent noch höher.

Diese Zahlen sind seit Jahrzehnten ähnlich – in Krisensituationen verschärft sich die Lage aber. Laut einer WHO-Statistik von 2021 war die Wahrscheinlichkeit, eine Angststörung zu erleiden, während der Coronapandemie vorübergehend um 25 Prozent erhöht. In Krisen nimmt zudem die Angst in der Bevölkerung zu: Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung ergab im Frühjahr 2022, dass ein Viertel der Bevölkerung befürchtet, durch die Inflation zu verarmen, fast die Hälfte sorgt sich um die Gesamtwirtschaft. Zuvor waren diese Zahlen niedriger.

Angst haben ist menschlich

Der Soziologe Roland Paulsen von der Universität Lund vertritt die These, dass wir heute in einem Klima chronisch erhöhter Angstbereitschaft leben. In seinem Buch Die große Angst beschreibt er, dass Einzelpersonen ebenso wie Entscheiderinnen in Wirtschaft oder Politik ständig in einem „Was, wenn“-Modus unterwegs seien, stets alle möglichen Szenarien durchspielten und dadurch häufig Ängste durchlebten, die noch gar nicht real seien.

Laut Paulsen ist es zwar manchmal hilfreich, Risiken vorauszusehen, doch seien wir „gebannt von der Zukunft, von Ursache und Wirkung, von Risiken und Katastrophen“. Wir verließen uns zu sehr auf die Idee, Risiken zu kontrollieren, und könnten mit unabwendbaren Bedrohungen auch deshalb nicht angemessen umgehen, führt Paulsen seine Analyse fort.

Der Psychotherapeut und Autor Matthias Wengenroth beobachtet ein ähnliches Spannungsfeld: „Heute klaffen gelebte Realität und gefühlte Bedrohung oft auseinander. Den meisten von uns geht es noch gut. Doch unsere Sicherheit ist durch ökologische, wirtschaftliche, politische Faktoren bedroht. Wir haben zunehmend das Gefühl, in einem Kartenhaus zu leben, das jederzeit einstürzen kann.“

In seiner Praxis erlebt Wengenroth immer wieder, dass der Wunsch, diese belastende Lage aufzuheben, zu ungünstigen Lösungsmustern führt. Weit verbreitet sei der Versuch, Angstsituationen und -gefühlen auszuweichen oder sie unbedingt loswerden zu wollen. Auch wenn das verständlich ist: Ängste werden dadurch stärker. Das klingt deprimierend. Doch bedeutet es auch, dass man den Umgang mit Angst bewusst hinterfragen und verändern kann.

Ängste akzeptieren statt bekämpfen

Psychologinnen und Psychologen verschiedener therapeutischer Schulen sind sich weitgehend einig, dass ein erster wichtiger Schritt ist, Angst nicht zu bekämpfen, sondern sie bewusst wahrzunehmen und zu akzeptieren. Matthias Wengenroth schlägt sowohl bei alltäglichen als auch bei klinischen Ängsten eine neue Grundhaltung vor: „Es hilft, sich klarzumachen, dass es nicht peinlich, gefährlich, unerträglich oder schlimm ist, Angst zu haben – es ist schlicht menschlich.“

Angst eher als etwas zu sehen, was das Leben immer begleitet und täglich da ist, sei der Beginn einer akzeptierenden Haltung. So könne man ungünstige Muster wie die Vermeidung von Angst oder Betäubungsversuche durch Alkohol eher ablegen. 

Dass Akzeptanz dazu führt, dass man sich trotz Belastungen freudvoller fühlt, zeigt beispielsweise eine Studie der australischen Psychologen Lindsay G. Oades und Vinicius R. Siqueira. Sie untersuchten 67 Patienten und Patientinnen, die an Ängsten oder Depressionen litten, und stellten fest: Die Techniken der Akzeptanz- und Commitmenttherapie halfen dabei, mit Symptomen wie Niedergeschlagenheit oder Angst besser zurechtzukommen und ein positives Lebensgefühl zu entwickeln, obwohl die Menschen weiterhin krank waren.

Die Angst-Monster-Technik

Wenn ich nun über mich nachdenke, fühle ich mich zunächst ertappt: Auch bei mir sind es häufig Zukunftsängste, die rund um die Frage „Was wäre, wenn…“ mäandern. Sie beschäftigen mich oft auch an Tagen, an denen vieles erfreulich verläuft. Die Idee, Angst mehr zu akzeptieren und dadurch zu entkräften, finde ich deshalb ansprechend. Doch wie soll das gelingen, wenn ich mit schweißigen Händen auf einer Party stehe, durch einen ellenlangen Tunnel fahre oder mich um die Zukunft meiner Finanzen sorge?

Um leichter in eine annehmende Haltung zu kommen, kann man laut Psychotherapeut Matthias Wengenroth bildliche Vorstellungen zu Hilfe nehmen. Er schlägt in seinem Buch Das Leben annehmen zum Beispiel vor, sich Angst als ein Monster vorzustellen, das einen im Alltag begleitet. Die Frage ist dann, wie man mit diesem Monster umgeht, das einem ohnehin auf Schritt und Tritt folgt.

Kämpft man gegen das Monster, hat man weder freie Sicht auf das, was vor einem liegt, noch die Hände frei. Versucht man dagegen, Arm in Arm mit dem Monster durchs Leben zu gehen, wird es oft leichter. Manchen Menschen hilft es, sich vorzustellen, dass sie einen Bus fahren und das Angstmonster auf der Rückbank sitzt. Es darf da sein, auch mal rumpöbeln, aber das Steuer behält man selbst in der Hand.

Die Vorstellung, dass das Angstmonster bei der Party am Sekt nippt und sich an meinen Arm hängt, hilft mir sofort. Es erleichtert mich nicht nur, dass dieses Bild ein bisschen witzig ist. Ich spüre auch, dass das Monster einen guten Platz hat – und ich als Person etwas ungestörter agieren und mit anderen Partygästen sprechen kann. Doch irgendwann kommt die Monstermetapher an ihre Grenzen: Die Vorstellung, die Angst vor Verarmung einfach so neben mir gehen zu lassen, erhöht die Anspannung und erscheint mir fahrlässig.

Warum es kein Patentrezept gibt

Dass es für den Umgang mit Angst kein Patentrezept gibt, bestätigt auch Psychotherapeut Wengenroth. Das habe damit zu tun, dass Angst eine Empfindung sei und ihr Informationswert sehr unterschiedlich sein könne: Mal ist sie real, eine warnende Alarmglocke und berechtigte Aufforderung, etwas zu verändern. Mal ist sie vollkommen irrational, die Alarmglocke hat sich verhakt und schrillt grundlos. Und dann gibt es noch eine Menge Befürchtungen, die zwar berechtigt sind – weil man die Situation aber nicht ändern kann, ist es nicht sinnvoll, ständig darüber nachzudenken. Die Angst vor Krieg und Inflation gehört meistens in die letzte Kategorie.

Es gilt also zu verstehen, welchen Sinn oder welche Funktion Angst hat. Auch dazu ist es wichtig, aufkommende Unruhe nicht gleich wegzudrängen, sondern sie aufmerksam zu betrachten. „Es ist eine Chance, wenn wir verstehen, dass eine Angst nicht unbedingt das ist, was sie zu sein vorgibt“, erklärt Wengenroth. Um zu unterscheiden, ob eine Angst real oder irrational ist, helfe die Frage: „Was ist das Schlimmste, was in der Situation passieren könnte?“ Mir wird dadurch schnell klar, dass mir auf einer Party keine reale Gefahr droht. Die Angst vor Tunneln ist auch eher unbegründet. Was die Angst vor der Inflation angeht, gibt es tatsächlich einen bedrohlichen Aspekt, vielleicht auch Handlungsbedarf.

„Es ist sinnvoll, einer Angst nachzugehen, die uns konkret warnen will, etwa in Bezug auf gesundheitliche oder finanzielle Belange oder in Beziehungen“, sagt Wengenroth. Manchmal sei Angst dann der Weckruf, sich in eine Schuldenberatung zu begeben, ein Gespräch mit dem Liebsten zu führen oder zu einem Gesundheits-Check-up zu gehen. Aber auch bei diesen Themen sollte man schauen, ab wann das berechtigte Bedürfnis, sich zu kümmern, in Übervorsicht und Kontrolle umschlägt. 

Mit Unsicherheit leben lernen

Es erscheint mir also schon sinnvoll, mich angesichts der Inflation wieder einmal mit Konten und Vorsorgen zu beschäftigen und bewusster das Geld zusammenzuhalten. Diese Art des Kümmerns ist umsichtig, bringt Klarheit. Und doch bleibt eine Unsicherheit, die ich nicht ändern kann.

Die Fähigkeit, bestehende unsichere Lagen zu tolerieren und damit zu leben, gilt als wichtige Schlüsselkompetenz im Umgang mit Angst. Seit den 1990er Jahren belegen Wissenschaftler wie der Psychologieprofessor Nicholas Carleton von der University of Regina immer wieder, dass eine mangelnde Fähigkeit, Unwägbarkeiten auszuhalten, ein Nährboden für Angstsymptome ist.

Wie wichtig es ist, ein gewisses Maß an Unsicherheit tolerieren zu können, betont auch die Psychotherapeutin Luise Reddemann in ihrem aktuellen Buch Die Welt als unsicherer Ort. Sie sagt: „Wir müssen lernen, damit zu leben, dass die Welt ein unsicherer Ort ist. Nicht immer können wir uns gut schützen und alle Schwierigkeiten umschiffen. Es hilft aber, eine gewisse Zuversicht zu entwickeln, schwierige Momente meistern zu können“. (Lesen Sie mehr dazu im Interview mit Psychiaterin und Traumatherapeutin Luise Reddemann „Mit der Realität verbunden sein“)

Die drei Anteile der Angst

All das klingt komplex. Mir erscheint es jedenfalls anspruchsvoll, für die unterschiedlichen Angstthemen jeweils angemessene Reaktionen zu finden. Damit die innere Dynamik von Angst greifbarer und handhabbarer wird, arbeitet man in der Therapie von Ängsten oft mit „Teilemodellen“. Sie helfen, innere Persönlichkeitsanteile zu unterscheiden, die an Angstreaktionen beteiligt sind.

Der systemische Psychotherapeut Daniel Voigt macht in seinem Buch Ängste, Panik, Sorgen Leserinnen mit drei typischen inneren Anteilen vertraut, die immer dann interagieren, wenn wir Angst haben: Zum einen ist da eine „innere Chefin“, die beobachtet und den Überblick hat. Sie steht in dem Modell für neurophysiologische Steuerungs- und Regulationsprozesse im Neokortex. Die Chefin und ihre steuernden Funkti­onen sind jedoch in einer beängstigenden Situation infolge der massiven Anspannung meist abgeschaltet.

Daneben gibt es zwei weitere Teile: den inneren Angstmacher – eine Stimme, die sagt, dass da gerade etwas ist, vor dem man Angst haben muss – und den furchtsamen dritten Anteil, der ein Gefühl der Anspannung und Ohnmacht bewirkt. Diese beiden – der Angstmacher und der Teil, der sich ängstigt – repräsentieren schnelle, intuitive Alarmreaktionen und Fluchtimpulse, die in älteren Hirnregionen wie dem limbischen System stattfinden. „In Angst­situationen geht es oft darum, die innere Chefin, also die Steuerung im Neokortex zu stärken und zu fragen, was da überhaupt los ist: Ist das jetzt wirklich gefährlich oder habe ich nur Angst?“, sagt Daniel Voigt.

In der Therapie sei es dann wichtig, die drei Teile miteinander in einen Dialog zu bringen. Oft helfen Fragen wie: „Was nimmt die innere Chefin wahr?“ „Was will der Angstmacher, was ist seine positive Absicht?“ „Was braucht der ängstliche Teil, um sich zu beruhigen?“

Oft erlebt Voigt seine Klientinnen und Klienten als erleichtert, sobald sie verstehen, dass das Angstgefühl immer nur ein Teil von vielen ist und es auch in schwierigen Situationen noch innere Teile gibt, die handlungsfähig bleiben. Irgendwann rücken ein ängstlicher Teil und ein besonnener Teil nebeneinander. „Wenn diese Balance gelingt, wird ein Umgang mit Ängsten leichter“, erklärt Voigt.

Neuen Umgang mit Angst und Panik erlernen

Besonders bei überwältigender Angst und Panik kann die Arbeit mit den drei inneren Teilen hilfreich sein. Es wird dann möglich, einen neuen Umgang mit starker Angst in kleinen Schritten zu lernen. „Bei einer theoretischen Beschäftigung mit der Angst vergisst man leicht, dass die meisten Klienten in angstauslösenden Situationen extrem angespannt sind, sie die Zustände als sehr unangenehm und bedrohlich empfinden“, sagt Voigt. Mit dem Modell können sie während einer akuten Angst- oder Paniksituation, zum Beispiel in einem Tunnel, vorsichtig immer wieder in die innere Chefin gehen, von dort die Situation klarer einschätzen und zum Beispiel vorher erlernte Entspannungs- und Atemtechniken anwenden.

„Darüber hinaus ist es wichtig, bewusst die Erfahrung zu sichern, dass die Angst aushaltbar ist und das Befürchtete nicht eintritt“, sagt Voigt. So wachse nach und nach das Zutrauen, eine Situation trotz Angst meistern zu können. Dazu ist es natürlich wichtig, sich den angstauslösenden Situationen auch immer wieder bewusst zu stellen.

Konfrontation mit der Angst

Die Angst vor der Angst aufgeben, die Vermeidung hinter sich lassen, angstmachende Situationen aufsuchen: Dass die Konfrontation zur Angsttherapie gehört, wissen heute viele. Wer wie ich Angst davor hat, bei Partys allein in der Ecke zu stehen, sollte hingehen. Auf meine Frage, ob es immer und vor allem darum geht, Vermeidung zu überwinden, ist Daniel Voigts Antwort eher vorsichtig: Es sei zu kurz gedacht, sich um jeden Preis mit jeder Angst zu konfrontieren. Wichtiger sei, den Blick im Vorfeld einmal über die Angst hinaus zu öffnen und sich zu fragen, was überhaupt der eigene Antrieb ist, ein bestimmtes Verhalten zu ändern, mit einer Angst anders umgehen zu wollen.

Für Daniel Voigt ist jede Arbeit an Ängsten auch eine Arbeit an Wünschen und Motiven. Fragen wie: „Was wollen Sie demnächst verwirklichen?“, oder: „Wovor lohnt es sich, Angst zu haben?“, sortieren oft rasch, wo es ansteht, Vermeidung aufzugeben: Viele Menschen mit Ängsten sagen dann etwa, sie wollten unbedingt wieder Sport machen, eine Partnerin finden oder Führungskraft werden. Oder sie wünschen sich, bestimmte Flugreisen oder S-Bahn-Strecken nutzen zu können, um Menschen zu besuchen, die ihnen wichtig sind. Mit dieser Motivation im Blick wird es leichter, sich Angstsituationen auf stimmige Weise zu stellen – und sie nicht nur als Mutprobe aus Prinzip zu sehen.

Wann werden Ängste zum Problem?

Diese Blickrichtung empfinde ich als klärend, merke schnell, dass mein Unbehagen gegenüber Partys wenig problematisch ist. Die konkrete Feier, um die es geht, ist mir letztlich unwichtig. Zu ähnlichen Abenden von guten Freunden würde ich sofort gehen – obwohl ich weiß, dass ich die erste halbe Stunde oft als ungut erlebe. Bald heiratet eine Freundin mit viel Brimborium. Dort habe ich längst zugesagt. Sie und der Kontakt zu ihr sind mir wichtig.

Damit klärt sich zumindest in Bezug auf meine Angst vor Partys die Frage, ob ich etwas grundsätzlich ändern möchte: Nein, denn diese Angst hindert mich an nichts, was mir wichtig ist. Natürlich lohnt es dennoch, ehrlich zu prüfen, ob man nicht Vorwände sucht, der Angst aus dem Weg zu gehen.

Matthias Wengenroth empfiehlt in diesem Zusammenhang folgende Faustregel: „Das psychologische Problem beginnt, wenn Handlungen immer mehr aus dem Motiv heraus betrieben werden, weg von Unsicherheitsgefühlen und Ängsten zu kommen. Die meisten Menschen wissen, wenn sie ehrlich zu sich sind, ob die Dinge, die sie aus der Angst heraus tun, wirklich zu ihrer Sicherheit beitragen oder ob es sich um Versuche handelt, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen.“ Sobald ausgeprägtes Ausweichverhalten den Alltag bestimmt, Kontakte und Möglichkeiten einschränkt, wird Angst oft auch behandlungsbedürftig.

Je länger ich mich mit der Angst beschäftige, desto mehr kommt es mir vor, als seien meine alltäglichen Ängste zwar immer wieder da, aber nicht sehr hinderlich. Was mich dagegen wirklich quält, sind sorgenvolle Zukunftsvisionen wie die Angst vor der Inflation, die durchaus mit dem Szenario enden kann, unter einer Brücke zu landen. Bei ehrlicher Betrachtung solcher Katastrophengedanken muss ich mir eingestehen, dass ich sie schon seit Ewigkeiten kenne. Oft sind sie begleitet von mahnenden Sätzen wie: „Sei dir nie zu sicher, sonst passiert etwas Schlimmes.“

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„This will end schlimm“

Psychotherapeut Wengenroth weist darauf hin, dass wiederkehrende Sorgenschleifen oft mit Prägungen aus der Kindheit und Jugend zu tun haben, ein Teil unserer Lerngeschichte sind: „Auch wenn viele dieser Sorgen heute inhaltslos sind, können wir sie nicht ganz loswerden.“ Wir können ihnen allerdings in unserem Denken einen anderen Platz geben. Das gelingt mit „Entschmelzungstechniken“, mit denen man sich von Sorgensätzen distanziert und so einen neuen Umgang findet.

Das konkrete Vorgehen ist vielfältig: Eine Möglichkeit wäre, die Befürchtungen ins Lächerliche zu ziehen und sich vorzustellen, wie ein Papagei sie krächzt. Andere Ansätze schlagen vor, die Sorgen in sehr schlechtem Englisch zu formulieren, zum Beispiel: „This will end schlimm“, oder eine altbekannte Horrorvision mit gespitzten Lippen zu flöten: „Öch wördö önter öjnö Bröckö löndön.“ Die Gedanken bleiben dann stehen, verlieren aber ihren beängstigenden Ton und ihre Dringlichkeit.

Am Anfang sorgten diese Techniken oft für Irritation, erzählt Matthias Wengenroth. Viele Patientinnen merkten aber schnell, wie entlastend sie sind. Mir jedenfalls hilft es, wenn ich mir vorstelle, dass ein heiserer Papagei meine Angstsätze krächzt. So wird der Inhalt entkräftet. Und genau das ist Sinn der Übung.

Auf der Suche nach dem Ursprung der Ängste

Bleibt die Frage, ob es lohnt, sich damit zu beschäftigen, woher die Ängste kommen, die man seit Jahren mitschleppt. Um kompetent mit bangen Gefühlen umzugehen, kann das hilfreich sein, findet Psychotherapeut Daniel Voigt. In seiner Praxis erlebt er oft, dass Klienten mit Angstthemen sich zuvor als starke Persönlichkeiten erlebt haben. Sie stellen in der Therapie dann fest, dass sie seit Jahrzehnten nach der Devise leben: „Angst ist gefährlich. Sie muss weg. Ich gehe drüber weg. Und schaffe das.“

Kommen diese Menschen in Situationen, wo ihre Strategie versagt – in einer persönlichen Krise oder wenn etwas nicht wie gewohnt gelingt –, können sie mit ihrer Angst nicht umgehen. Sie haben nie gelernt, sich bei Gefühlen von Unsicherheit gut zuzureden oder trotz banger Gefühle handlungsfähig zu bleiben.

Wer so agiert, hat oft bereits im Elternhaus verinnerlicht, dass Angst schlimm ist und nicht sein darf. Es kann sein, dass Vater und Mutter selbst Angst abgewehrt haben, nie über eigene Angst gesprochen und mit Sprüchen wie: „Du brauchst vor Gespenstern keine Angst zu haben“, oder: „Sei kein Angsthase“, einen kompetenten Umgang mit Verletzlichkeit und Angst verhindert haben. Oder das Elternhaus war ein unsicherer Ort, in dem es tatsächlich gefährlich war, Angst zu zeigen.

Vielfach lernt man dann erst als Erwachsener mühsam, alte Überlebensstrategien abzulegen. Die Erkenntnis, dass sie in der Vergangenheit Angst ausschließlich negativ bewertet haben, hilft vielen Menschen jedenfalls weiter. In der Psychotherapie wird dann daran gearbeitet, auch die positiven, hilfreichen Aspekte von Angst zu sehen.

Diese positive Neubewertung wird Reframing genannt (siehe Definition unten). Wie effektiv es sein kann, körperliche Gefühle der Anspannung neu zu interpretieren, zeigt eine Studie der Harvard Business School. Die Teilnehmenden sollten vor Fremden Karaoke singen. Einigen der Versuchspersonen wurde geraten, Gefühle wie Herzklopfen, weiche Knie und Anspannung als vorfreudige Aufregung zu interpretieren. Die anderen bewerteten die gleichen Körperzustände als Angst. Es zeigte sich, dass diejenigen, die ihre Aufregung positiv deuteten, souveräner mit der Situation zurechtkamen und besser sangen. Eine Veränderung der Sichtweise kann also den Umgang mit Angst erleichtern.

Voigt nennt verschiedene Arten von Reframing von Angst: Sie kann Lebensretter sein. Sie kann ein Ausdruck einer besonderen Sensibilität sein. Sie kann kreative Prozesse beschleunigen. Außerdem – und dieser Aspekt ist besonders wichtig – begleitet Angst alle Veränderungs- und Lernprozesse. „Neue Herausforderungen sind einerseits mit Neugier, andererseits mit Angst verbunden“, sagt Voigt.

Angst als Entwicklungsbegleiterin zu sehen kann in besonderem Maße helfen, sie mehr zu akzeptieren und zu begrüßen. Um Klienten mit dieser positiven Facette in Kontakt zu bringen, erinnert Voigt sie daran, wie es war, als sie das Radfahren, Schwimmen oder Autofahren lernten. Viele profitieren, wenn sie sich daran erinnern, dass alle wichtigen Entwicklungen im Laufe des Lebens von Angst begleitet waren – und sie heute in diesen Situationen ziemlich sicher sind.

Angst haben: lohnenswert?

Für mich bleibt am Schluss vor allem die Frage übrig, wovor es sich lohnt, Angst zu haben. Diese Sichtweise gefällt mir, macht mich handlungsfähig. Und sie zeigt mir, was ich ändern will: weniger über die Zukunft grübeln und dafür mehr die Dinge tun, die ich wichtig finde. Partyeinladungen unter Fremden sind kein großes Thema, ich kann das, es macht nur keinen Spaß. Was ich aber unbedingt häufiger machen will: in größeren Gruppen, zum Beispiel beim Elternabend oder einer Vollversammlung im Job, meine Meinung vertreten.

Das fand ich bisher so bedrohlich, dass ich nichts gesagt und mich später darüber geärgert habe. Das soll sich ändern. Dazu stelle ich mir noch einmal das Angstmonster vor. Es sitzt neben mir in der Elterngruppe, hakt mich unter, fläzt sich, nörgelt. Ich sitze daneben, melde mich und sage, was ich sagen will. Angst und Mut, beides kann dann gleichzeitig da sein.

Reframing bezeichnet eine Technik aus der systemischen Familientherapie, bei der einer Situation, einer Emotion oder Aussage eine andere Bedeutung zugewiesen wird. Dadurch entsteht eine andere Rahmung der Situation, die neue Erkenntnisse ermöglicht. Wer etwa im Stau denkt: „Mist, ich stecke fest“, könnte sich stattdessen sagen: „Okay, jetzt habe ich ein bisschen Pause.“ Anderes Beispiel: Eine Tochter ärgert sich, dass ihre Mutter sich ständig einmischt. Die Therapeutin bietet die Lesart an: „Ihre Mutter macht sich Sorgen um Sie.“ 

Zum Weiterlesen

Roland Paulsen: Die große Angst. Warum wir uns mehr Sorgen machen als je eine Gesellschaft zuvor. Mosaik, München 2021

Daniel Voigt: Ängste, Panik, Sorgen. Störungen systemisch behandeln. Carl-Auer, Heidelberg 2022 (2. Auflage)

Matthias Wengenroth: Das Leben annehmen. So hilft die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT). Hogrefe, Göttingen 2016 (3. Auflage)

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2022: Angstfreier leben