Neulich war es mal wieder so weit. Katrin Jacob hatte einen anstrengenden Arbeitstag in der Klinik gehabt, Spätschicht, einen Notfall nach dem nächsten und kaum eine Pause, um zwischendurch auch nur einen Schluck Wasser zu trinken. Zu Hause angekommen, sagte sie noch schnell ihren Kindern gute Nacht und ließ sich dann erschöpft aufs Sofa fallen. Ihre Mutter stellte ihr einen Teller Lasagne auf den Tisch, genau das, was sie jetzt brauchte. „Du siehst müde aus“, bemerkte da die Mutter. „Warum machst du dir…
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Als Katrin Jacob das erzählt, lacht sie. Doch der Ärger ist ihr noch anzumerken. „Diese Situation ist wirklich ein totaler Klassiker in der Beziehung zu meiner Mutter“, sagt sie. „Einerseits ist da diese große Fürsorge, sie kümmert sich um ganz vieles und hilft mir. Dafür bin ich ihr dankbar. Andererseits bringt sie mich schnell auf die Palme. Natürlich bin ich gestresst. Ich arbeite, bin alleinerziehend und habe drei Kinder. So sieht mein Leben nun mal aus!“
Frauen und ihre Mütter – das ist eine Beziehung, die im Laufe des Lebens kompliziert werden kann. Denn die innige Nähe der Kindheit weicht spätestens im Erwachsenenalter oft einer Ambivalenz. Die Beziehung zur Mutter kann dann einerseits noch immer von Liebe und Fürsorge geprägt sein und andererseits von durchaus unterschiedlichen Wünschen und Erwartungen. Auch alte Beziehungserfahrungen können immer wieder in Form von Kränkungen oder Schuldgefühlen auf die Mutter-Tochter-Beziehung einwirken.
Selbst in heilen Familien scheinen sich diese Spannungen kaum vermeiden zu lassen: Katrin Jacob findet, dass sie eine schöne Kindheit hatte, und spaziert noch heute sonntags gern mit den Eltern und Kindern durch den Wald nahe ihres Elternhauses, mit einem Halt am Kinderspielplatz, auf dem sie selbst als Kind schon gespielt hat. Und doch weicht die Verbundenheit, die sie dabei fühlt, immer wieder schnell diesem akuten Genervtsein. „Ich denke, es liegt teils an unseren unterschiedlichen Lebensentwürfen“, mutmaßt die Ärztin.
Die eigene Muttererfahrung
„Meine Mutter hatte als Erzieherin immer viel Zeit für uns. Ich arbeite fast Vollzeit und die Kinder müssen viel allein machen. Das findet meine Mutter nicht gut, vielleicht fühlt sie sich davon sogar ein bisschen provoziert. Mir macht das dann Schuldgefühle und gelegentlich führt das zu Anspannung zwischen uns. Aber das bewegt sich alles im Rahmen des Normalen. Mutter-Tochter-Beziehungen sind halt kompliziert.“
Töchter sind von ihren Müttern geprägt. Ob wir eine liebevolle, eine fürsorgliche, eine vernachlässigende, eine grenzüberschreitende, eine kühle oder eine abwesende Mutter erlebt haben – wir tragen die Muttererfahrung ein Leben lang mit uns. Wir zehren von ihr, wachsen an ihr, kämpfen gegen sie an oder grenzen uns von ihr ab. Manchmal wiederholen wir sie auch, ohne es zu wissen.
Es ist also unmöglich, über Mütter oder Muttersein nachzudenken, ohne dass die eigene Muttererfahrung mitschwingt. „Für Frauen berühren die Lebensthemen Mutterschaft und Muttersein natürlich sofort auch wieder die Geschichte mit der eigenen Mutter“, schreibt der Psychotherapeut Victor Chu. „Muttersein ist ein Fluss, der von Großmutter zur Mutter zur Tochter und so weiter fließt.“
Dem Einfluss der Mutter kann niemand entkommen, denn schon im Bauch beginnt die Mutter, ihr Kind zu prägen. Bereits im Mutterleib entstehen die ersten emotionalen Grundstrukturen eines Kindes: Das ungeborene Kind steht in engem Austausch mit seiner Umgebung und nimmt vieles wahr; anfangs nur über die psychobiologische Verbindung zum Körper der Mutter, später sogar über die sich entwickelnden eigenen Sinnesorgane. Dabei erfährt das Kind starke Prägungen in seiner Tiefenemotionalität, also dem sich entwickelnden Gefühlsleben.
Babys werden schon im Bauch emotional geprägt
Bereits diese ersten Gefühlserfahrungen schreiben sich in das schnell wachsende Gehirn des Fötus ein, vor allem in die Stamm- und Mittelhirnregion, in der unsere Gefühle generiert werden. Denn zu dieser Zeit ist die Neuroplastizität – die Veränderbarkeit der Nervenzellen – des menschlichen Gehirns am allergrößten. Durch ihr eigenes Gefühlsleben legt die Mutter deshalb bei ihrem ungeborenen Kind bereits erste „Sollwerte“ für das psychobiologische Stressmuster an.
Gute Erfahrungen im Mutterleib führen beim Ungeborenen also zu einer Stärkung von Netzwerken im Gehirn, die Glück und Zufriedenheit vermitteln. Schlechte Erfahrungen hingegen, etwa durch anhaltenden mütterlichen Stress, intensivieren die Schaltkreise für Traurigkeit und Angst.
Und so geht es auch nach der Geburt weiter: Über die Beziehung zur Mutter, die in den meisten Fällen ja weiterhin die erste Bezugsperson ist, wird die Entwicklung der Gefühle beim Baby angelegt. Denn vor allem nach der Geburt, in den ersten zwei Lebensjahren, vollziehen sich die wirklich wichtigen emotionalen Prägungen im Leben eines Menschen. Das Gehirn des Babys ist bei der Geburt noch nicht ausgereift und deshalb sehr offen für äußere Einflüsse.
Die Beziehungserfahrungen des Säuglings – ob gut oder schlecht – prägen sich in dieser Zeit direkt in die sich aufbauende Gehirnstruktur ein, legen Spuren für kognitive Fähigkeiten oder psychische Erkrankungen und vermögen selbst Gene ein- und auszuschalten. Der renommierte kalifornische Psychoanalytiker und Hirnforscher Allan N. Schore bezeichnet die Rolle der Mutter während des ersten Lebensjahrs deshalb als „Hilfskortex“ des Babys, also ausgelagertes Hilfsgroßhirn.
Mütter als "Container"
Je feinfühliger die Mutter auf die Affekte ihres Säuglings eingeht, umso besser lernt das Kind, mit seinen Gefühlsregungen umzugehen, und umso größer ist die Chance des kleinen Menschen, zufrieden und seelisch gesund durch das Leben zu gehen. Denn sicher gebundene Kinder können ihre Gefühlsregungen besser steuern, sie können sich bei Stress schneller beruhigen und sich bei Traurigkeit besser selbst trösten oder ablenken. Das Baby muss die Fähigkeit, verschiedene emotionale Zustände zu unterscheiden und zu reflektieren, nämlich erst entwickeln.
Den Bindungspersonen fällt es zu, die Gefühle ihres Kindes zu steuern, sein Leid und Unbehagen zu verringern, seine Zufriedenheit und sein Wohlbehagen zu steigern und später auch Erklärungen für Gefühle zu liefern. Sie ermitteln also die Gefühle des Kindes und spiegeln sie ihm wider, damit das Kind lernt, sich selbst emotional wahrzunehmen. Dabei nehmen sie auch die unangenehmen Gefühle des Babys auf und geben diese ihrem Kind in verarbeiteter und weniger bedrohlicherer Form zurück.
Als „Container“ beschrieb der britische Psychoanalytiker Wilfred Ruprecht Bion deshalb die Rolle der Mutter in den ersten Lebensjahren. Natürlich kann auch der Vater oder etwa ein Großelternteil die primäre Bindungsperson des Babys darstellen; dennoch ist es aufgrund der pränatalen Prägungen aus Sicht der Bindungstheorie optimal, wenn das Kind die Bindungsbeziehung zur leiblichen Mutter aufnimmt. Denn Mutter und Kind haben bereits während der Schwangerschaft viele gemeinsame Erfahrungen gemacht.
Die innere Elternstimme
Vor allem im ersten Lebensjahr stellen Mutter und Kind ein aufeinander abgestimmtes und im Wachstum begriffenes System dar, das kraft der emotionalen Bindung zusammengehalten wird und in der Regel Sicherheit, Zuwendung und Liebe spendet. Eine mächtige emotionale Erfahrung, die im Laufe des Erwachsenenlebens von Töchtern immer wieder mal herbeigewünscht wird.
„In Ansätzen kennen wir das ja alle: Wenn es nicht gut läuft oder wir traurig sind, würden wir am liebsten zu Mama laufen“, sagt die Familientherapeutin Sandra Konrad. „Denn die Mutter hat uns früher versorgt, wir möchten ihren Trost und ihre Geborgenheit wieder spüren. Idealerweise haben wir die mütterliche Fürsorge aber in Form einer guten Elternstimme verinnerlicht und können uns selbst beruhigen, müssen also als Erwachsene nicht mehr mit jedem Kleinkram zur Mutter rennen.
Problematisch wird es, wenn wir diese Geborgenheit als Kinder nicht ausreichend bekommen haben und dadurch ein Mangel entstanden ist. Die unbefriedigten Versorgungswünsche von früher werden dann bei aktuellen Konflikten wieder spürbar und es kommt zu Problemen.“
Loslösen aus der Symbiose
Gleichzeitig muss diese symbiotische Bindung irgendwann gelockert werden, ein Spannungsfeld, das die Mutter-Tochter-Beziehung nachhaltig prägen wird. Der Psychoanalytiker Ernst Abelin stellte 1971 die Theorie auf, dass das Kind spätestens im Kleinkindalter den Vater herbeisehnt, um sich ein Stück weit aus dem mütterlichen Einflussbereich zu lösen.
Im Rahmen dieser „frühen Triangulierung“ wird dem Vater die zentrale Position des „Dritten“ zugewiesen, der eine Distanz ermöglicht, ohne dass die Mutter endgültig verlassen werden muss – natürlich kann diese Rolle auch eine andere nahestehende Bezugsperson einnehmen. Wichtig ist dabei, dass die Mutter (oder die primäre Bezugsperson) nun einen Schritt zurücktreten kann.
„Auch die am meisten kindgerechte Mutterliebe enthält nämlich noch immer etwas Bedrohliches, Verschlingendes und schränkt Freiheit und Individualität ein“, sagt der Psychoanalytiker Mathias Hirsch. „Und so wünscht man dem Kleinkind ein ausgleichendes Moment, man stellt sich einen Vater vor, der die allzu innige Mutter-Kind-Symbiose relativiert.“
Individualität und geschlechtliche Identität
Denn Kinder bräuchten beides, um zu einer eigenen Individualität und später auch geschlechtlichen Identität zu finden: die intensive Liebe der Mutter und die emotionale Zuwendung des Vaters. Kinder, die bei gleichgeschlechtlichen Eltern aufwachsen, machen im Prinzip dieselbe Erfahrung: Der zweite Elternteil ist wichtig, um dem Kind die Ablösung von der primären Bezugsperson zu erleichtern.
Ein gesundes Maß an Nähe und Abgrenzung zu finden, das bleibt für Mütter und ihre Kinder oft bis ins Erwachsenenleben eine Herausforderung – insbesondere bei Töchtern. Denn während Körper und soziale Rolle des Sohnes für die Mutter eine fremde Erfahrung sind, erkennt sie sich in der Tochter immer ein Stück weit wieder.
Nicht nur mütterliche Liebesgefühle werden also in der Beziehung zur Tochter aktiviert, sondern stets auch die eigene Erfahrung als Mädchen, als Tochter, als junge Frau oder sogar als erwachsene Frau. Für die Mutter besteht die Kunst darin, die eigenen Erfahrungen der Tochter nicht überzustülpen, sondern sie ihren eigenen Weg gehen zu lassen.
Sich reiben und sich anlehnen
Für die Tochter hingegen ist die Mutter ganz automatisch das erste Rollenvorbild: Sie ist die Folie für Weiblichkeit, für die soziale Rolle der Frau, für das Muttersein. Während kleine Mädchen die Mutter noch nachahmen, ihr Parfüm ausprobieren und sprichwörtlich in ihre Schuhe steigen, müssen Töchter in der Pubertät dringend Abgrenzung zur Mutter suchen, um zu einer eigenen Identität als Frau zu finden.
„Meist wird die Tochter in der Pubertät die Mutter vom Sockel stoßen“, schreibt die Essener Psychotherapeutin Claudia Haarmann in ihrem Buch Mütter sind auch Menschen. „Die Tochter stellt sich die Frage: Wer bin ich eigentlich ohne sie?“ Die Mutter ist dann gleichzeitig zum Sichreiben und Sichanlehnen da – nicht immer eine dankbare Rolle.
Die Ansprüche an Mütter sind also hoch. Sie sollen stets Liebe, Geborgenheit und Akzeptanz vermitteln, gleichzeitig aber die bisweilen heftige Abnabelung ihrer Tochter mit stoischer Ruhe ertragen. Sie sollen immer da sein, aber zugleich genug Distanz halten. Allerdings auch nicht zu viel Distanz. Denn eine Tochter möchte sich trotz allem immer von ihrer Mutter geliebt fühlen, sie möchte im Laufe ihres Lebens weiterhin möglichst bedingungslose Liebe, Mutterliebe also.
„Der größte Schrecken eines Kindes ist, nicht geliebt zu werden, Ablehnung ist die Hölle, die es fürchtet“, schrieb John Steinbeck 1952 in seinem großartigen Roman Jenseits von Eden. Doch dieses bedingungslose Lieben und Geliebtwerden zwischen Mutter und Tochter gelingt nicht immer. Denn die Mutter-Tochter-Beziehung ist per se störanfällig. Die Gefahr, die Tochter mit den eigenen Lebensthemen zu besetzen, ist groß.
Selbstwertgefühl und Aufträge
Hanna Unger (Name geändert) hat den Kontakt zu ihrer Mutter vor einigen Jahren abgebrochen. Es ging einfach nicht mehr. „Im Moment geht es mir damit sehr gut“, sagt die 38-Jährige. „Die Beziehung zu meiner Mutter hatte mich krank gemacht, ich musste mich vor ihr retten.“ Sie beschreibt die Mutter als erfolgreiche Unternehmerin, unberechenbar, kontrollierend und narzisstisch, eine Frau, die nur um sich selbst kreist. Die Tochter hatte stets viele Aufträge von der Mutter.
Sie sollte gute Schulnoten nach Hause bringen, in der ersten Hockeymannschaft spielen, an den besten Universitäten studieren, Karriere machen, dabei gut aussehen und insgesamt allseits vorzeigbar sein. „Ich sollte großartig sein, aber natürlich auf keinen Fall großartiger als meine Mutter“, erinnert sich Hanna Unger. „Ich sollte selbständig sein, aber nicht zu selbständig. Ich sollte alles können, durfte aber nichts von meiner Mutter fordern. Das führte dazu, dass ich ständig massiv unter Druck stand, weil ich wahnsinnig hohe Ansprüche an mich stellte. Und gleichzeitig hatte ich überhaupt kein Selbstwertgefühl.“
Unger brach mit Mitte zwanzig ihr Jurastudium ab und geriet in eine echte Lebenskrise. Erst in einer Psychotherapie verstand sie, dass es nie um sie selbst gegangen war, dass ihre Sehnsucht nach authentischer Wärme und Zuwendung von ihrer Mutter immer unbeantwortet geblieben war und vermutlich immer unbeantwortet bleiben würde. Heute hat sie eine eigene Familie und kommt ohne ihre Mutter sehr gut zurecht.
„Ich weiß nicht, ob meiner Mutter das Mutter-Gen fehlte oder ob sie so geworden ist, weil sie selbst nie Anerkennung von ihren Eltern hatte“, sagt Hanna Unger. „Wenn man mit einer schlechten Mutter aufwächst, war oft ja auch schon deren Mutterbeziehung eine Katastrophe. Das trifft auf meine Mutter definitiv zu. Mir ist aber wichtig, dass ich das bei meinen Kindern anders mache.“
Mit destruktiven Muttertypen in ein "falsches Selbst"
Die amerikanische Psychotherapeutin Karyl McBride hat in ihrem Buch Werde ich jemals gut genug sein? über verschiedene Typen destruktiver Mutterbeziehungen geschrieben und unterscheidet zwischen „ignorierenden Müttern“ (unzureichende Zuwendung), „verschlingenden Müttern“ (übertriebene Bemutterung) und den „bedürftigen Müttern“ (emotionale Abhängigkeit).
Für die Töchter können all diese gestörten Formen der Bemutterung schlimme Folgen haben. „Wir Töchter glauben dann, wir müssten für unsere Mütter da sein und es sei unsere Aufgabe, uns um ihre Bedürfnisse, Gefühle und Wünsche zu kümmern, schon als junge Mädchen“, schreibt McBride. „Wir fürchten, unseren Müttern andernfalls gleichgültig zu sein.“
So lernen die Töchter, sich den bisweilen undurchschaubaren Anforderungen ihrer Mütter unterzuordnen und ständig ihre Antennen auszufahren, um zu schauen, was die Mutter gerade braucht. Dabei entfernen sich die Töchter immer stärker von sich selbst und laufen Gefahr, ein „falsches Selbst“ zu entwickeln.
„Eine Mutter wird ihre Tochter immer nur so weit eigenständig werden lassen, wie sie selbst fähig ist, sie loszulassen“, so die Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki. Der Unwille, von der eigenen Tochter infrage gestellt oder verlassen zu werden, kann dann stärker sein als der Gedanke ans Beste fürs Kind. Ablösung ist also eine lebenslange Aufgabe – für beide Seiten.
Schmerz gehört dazu
Die meisten Mütter tun ihr Bestes. Dennoch entwächst kaum eine Tochter der Mutterbeziehung, ohne dabei die eine oder andere emotionale Wunde davonzutragen. Vermutlich ist das kaum zu vermeiden: Familien seien dann dysfunktional, wenn sie aus mehr als einer Person bestünden, so ein Bonmot der 2020 verstorbenen Psychotherapeutin und Autorin Susan Forward.
Anders gesagt: Es liegt in der Natur von familiären Beziehungen, auch Schmerzen zu verursachen. Schon aufgrund der Tatsache, dass Kinder von ihren Bezugspersonen abhängig sind, entsteht viel seelisches Konfliktpotenzial. Eigene Werte zu entwickeln und autonom zu werden zählt zu den wichtigsten Entwicklungsaufgaben. Das geht nicht ohne Reibung.
Mütter und Töchter teilen irgendwann nicht mehr dieselbe Welt: Andere Zeiten bringen andere Sitten. Inzwischen haben viele Studien belegen können, dass Eltern ihre Erziehungsziele unbewusst den Werten der Gesellschaft anpassen, um ihrem Nachwuchs bessere Startchancen zu bescheren. Nicht selten hat die Tochter dann vollkommen andere Vorstellungen vom Muttersein als die eigene Mutter: Vielleicht will sie Karriere machen und ihr Mann hütet das Kind, dann muss die Oma ihre Erfahrungen eher an den Schwiegersohn weitergeben. Oder die Tochter ist nachgiebig, wo die Mutter früher streng war, und entspannt, wo die Mutter ängstlich ist.
Wie also kann es Müttern und Töchtern gelingen, eine gesunde Distanz zu wahren und trotzdem in Liebe miteinander verbunden zu bleiben? Töchter machen sich das Leben leichter, wenn sie lernen, ihrer Mutter als erwachsene Frau zu begegnen, und sich von dem Anspruch verabschieden, von der Mutter jederzeit bedingungslos unterstützt und geliebt zu werden. „Konflikte gibt es zum Beispiel häufiger, wenn die Tochter ihr erstes Kind bekommt und möchte, dass die Mutter sich nun viel um das Baby kümmert“, erzählt die Familientherapeutin Sandra Konrad.
Das eigene Leben selbst bestimmen
„Aber die Mutter ist nun in Rente und will erst mal reisen. Mutter und Tochter haben also unterschiedliche Bedürfnisse, und jetzt kommt es darauf an, wie sie damit umgehen: Bleibt die Tochter in der abhängigen, enttäuschten Kindrolle oder kann sie ihre Mutter verstehen und ihr die Freiheit gönnen? Das wiederum hängt davon ab, wie gut die Tochter sich als Kind von der Mutter versorgt gefühlt hat.“
Es gehört zum Erwachsenwerden, die Realität zu akzeptieren, sich also einzugestehen, dass wir vielleicht gerne mehr Unterstützung oder Zuwendung bekommen hätten, sie aber nicht mehr erhalten werden. Diese Erkenntnis kann schmerzhaft sein, ist aber wichtig, um die Beziehung zur Mutter weniger abhängig gestalten zu können. Das bedeutet nicht, frühere Verletzungen zu vergessen oder zu entschuldigen – sondern nur, fortan über das eigene Leben selbst zu bestimmen.
Gleiches gilt für das Recht auf Distanz und Abgrenzung. Als Erwachsene können wir bewusst selbst entscheiden, welche elterlichen Aufträge und Wünsche wir erfüllen möchten und welche nicht. Und alle müssen damit leben, dass Erwartungen eben nicht immer erfüllt werden.
Erwartungen zurücknehmen
Mütter hingegen stehen vor der Herausforderung, Frieden zu schließen mit der Tatsache, dass die Tochter nun ein eigenes Leben hat und die Zeit der Zweisamkeit vorbei ist. Das sei, so der Psychoanalytiker Fritz Riemann, womöglich die größte Zumutung des Elternseins überhaupt: das mit so viel Verzicht und Liebe aufgezogene Kind irgendwann „wieder loslassen, es dem Leben, den Einflüssen anderer überlassen zu müssen, an Bedeutung für das Kind zu verlieren und den Lohn darin zu sehen, dass es sich gut entwickelt und gedeiht, Dankbarkeit und Gegenliebe wohl erhoffend, aber nicht erwarten dürfend“.
Dazu gehört dann auch die Akzeptanz, dass es in Familien häufig nicht nur eine Perspektive, sondern mehrere gibt: Vielleicht fallen die Kindheitserinnerungen der Tochter ganz anders aus als die eigenen Erinnerungen an das gemeinsame Familienleben. Statt in Rechtfertigungen zu verfallen, wäre es hier besser, eigene Fehler offen zu reflektieren oder zu erklären, dass man vielleicht nicht anders handeln konnte, weil man es nicht besser wusste.
Und sollte Kritik tatsächlich angebracht sein: Lieber nicht auf Vorwürfe und moralische Belehrungen setzen, sondern die eigenen Gedanken und Gefühle äußern, Verallgemeinerungen vermeiden. Auch wenn das nicht immer gelingt, ähneln viele Mutter-Tochter-Beziehungen im Erwachsenenalter der von Katrin Jacob und ihrer Mutter: meist zugewandt, manchmal anstrengend, eben normal-kompliziert.
Die Mutter bemuttern
Wie kann ein Umgang mit dem Älterwerden der Mutter und dem damit verbundenen Rollenwechsel gelingen?
Es begann schleichend. Zwei oder drei Jahre ist es her, da kam die Mutter noch jeden Mittwoch, um das Mittagessen zu kochen und die Enkel zu betreuen. Nachmittags brachte sie die Kinder zum Sport oder mähte den Rasen, abends faltete sie schnell die Wäsche, bevor sie ging. Sie wurde älter, natürlich, aber eigentlich merkte man es kaum. Doch dann, allmählich, ließ die Energie nach. Das Essenkochen wurde ihr zu anstrengend, die Kinder waren zu laut, sie brauchte ihren Mittagsschlaf. Lieber kam sie nachmittags, um sich in den Garten zu setzen und einen Kaffee zu trinken. Ständig vergaß sie dabei etwas, Termine, die Tasche, den Schlüssel. Das Knie tat häufiger weh und das Treppensteigen wurde schwierig.
Während das Tempo der Tochter noch hoch ist, wird die Mutter plötzlich älter. War sie früher immer einsatzbereit und fürsorglich, so braucht sie inzwischen selbst Ruhe und Zuwendung, bald sogar womöglich Schutz und Fürsorge. Diese Erfahrung fühlt sich für Töchter oft an wie ein kleiner Schock. Die Rollenumkehr fällt schwer, schließlich würde ein Teil der Tochter gerne Kind bleiben. Denn die Tochter steht meist mitten im Leben, ist voll ausgelastet mit heranwachsenden Kindern, Haushalt und einem anstrengenden Job, hat also gefühlt selbst kaum Ressourcen. Zu kurz scheint zudem im Rückblick die Lebensphase, in der die großen Themen zwischen Tochter und Mutter endlich geklärt waren und eine Art produktiver Burgfrieden herrschte. Stattdessen geht es nun plötzlich darum, selbst mütterliche Gefühle für die eigene Mutter zu entwickeln – und vielleicht auch das zurückzugeben, was man einst bekam.
Mit dem Älterwerden der Mutter umzugehen ist also nicht leicht. Der neue Lebensabschnitt kann in der Regel jedoch besser bewältigt werden, wenn die Beziehung zu den eigenen Eltern gut war. „Im Idealfall gelingt es, nach einer Phase der krisenhaften Konfrontation mit dem Verlust des gewohnten Elternbildes zu einem neuen Zustand zu gelangen, nämlich zur sogenannten filialen Reife“, so die Schweizer Entwicklungspsychologin und Altersforscherin Pasqualina Perrig-Chiello. „Geprägt durch ein neues Rollenverständnis und durch adaptierte Kommunikationsformen, sollte es erwachsenen Kindern idealerweise gelingen, ihre betagten Eltern so zu akzeptieren, wie sie sind, ihnen zu helfen und sich zugleich abzugrenzen, ohne Schuldgefühle zu entwickeln.“
Doch die Entwicklung der filialen Reife, also der Rollenwechsel vom Kind zur Erwachsenen in der Beziehung zur Mutter, ist leichter gesagt als getan. Das unterstreicht auch Perrig-Chiello selbst: „Gefühle von Verpflichtung, des Helfenwollens, aber auch Überlegungen zur Rolle der anderen Familienangehörigen sowie Gedanken zur eigenen Autonomie stehen zueinander in Konkurrenz.“ Klar ist jedoch, dass dieser Lebensabschnitt noch schwieriger wird, wenn die Beziehung zur Mutter schlecht war. Denn dann drängt sich noch eine Art emotionale Kosten-Nutzen-Rechnung in diese komplizierte Lebensphase hinein; Töchter überlegen, inwieweit sie sich in die Beziehung zur Mutter neu einbinden lassen wollen und inwiefern die nun bevorstehende Care-Arbeit angebracht ist, wo sie sich doch selbst nicht gut umsorgt fühlten. Der Lebensabend der Mutter fordert von Töchtern also immer Auseinandersetzungen mit der eigenen Mutterbeziehung und eine entsprechende Neudefinition der Tochterrolle. Wie diese ausfällt, hängt stark zusammen mit den eigenen Kindheitserfahrungen: Wer viel bekommen hat, kann meist auch viel geben.
„Die Mütter von heute verzeihen sich nichts“
Wie sind Frauen in ihrem Muttersein geprägt von der Erfahrung mit der eigenen Mutter? Welche typischen Konflikte, Ängste, Sorgen ergeben sich dadurch? Ein Interview mit der Paar- und Familientherapeutin Birgit Kühl
Wenn Frauen Mutter werden, wollen sie ja meist vieles anders machen als die eigene Mutter. Wie stark prägt die Muttererfahrung dennoch?
Die eigene Muttererfahrung fließt immer mit ein, wenn wir Kinder bekommen. Wir alle tragen die Bilder unserer Kindheit ja in uns. Wie stark sie prägt, hängt aber davon ab, wie wir selbst die Kindheit erlebt haben. Wer als Kind emotional satt geworden ist, kann die eigene Elternrolle oft autonomer und selbstbestimmter gestalten als Menschen, die beispielsweise vernachlässigt oder überbehütet wurden.
Was passiert denn, wenn vernachlässigte Frauen Mutter werden?
Ich kann Ihnen dazu einen Fall aus meiner Praxis schildern. Eine junge Mutter, Ende dreißig, kommt mit ihrem Mann zur Paarberatung. Beide sind sehr erschöpft, ihr Kind ist knapp ein Jahr alt, es gibt viel Streit in der Beziehung. Die Eltern hatten sich vorgenommen, im ersten Lebensjahr des Kindes jeweils sechs Monate zu Hause zu sein, erst die Mutter, dann der Vater, anschließend sollte das Kind in die Kita. Doch als es nach sechs Monaten so weit ist, kann sich die Mutter schlecht trennen vom Baby. Unter Tränen geht sie wieder fast Vollzeit arbeiten und der Mann übernimmt. Ab dann läuft alles schief, das Kind lehnt den Vater ganz stark ab und auch die Eingewöhnung in die Kita ist eine Katastrophe.
Was ist passiert?
Das Kind spürt natürlich, dass die Mutter sich nicht trennen kann, und reagiert darauf. Der Grund dafür ist aber die Geschichte der Mutter. Sie war als Kind selbst emotional unterversorgt von der eigenen Mutter, erinnerte sich noch, wie sie als kleines Kind im Gitterbettchen stand und schrie und schrie und keiner kam. Sie konnte es dann schlichtweg nicht aushalten, wenn ihr Kind weinte. Es war ihr nicht mehr möglich zu differenzieren: Das ist mein Kind, das bin ich, ich bin eine andere Mutter als meine Mutter. Der Fall ist ein klassisches Beispiel dafür, was passieren kann, wenn der innere Mutteranteil sich meldet.
Für mich stellt sich aber auch die Frage, warum die Frau ihren intuitiven Bedürfnissen nach Zeit mit dem Baby nicht nachgeben konnte.
Ich denke, da kommt der enorme gesellschaftliche Druck ins Spiel, der auf Paaren lastet. In Großstädten geben inzwischen viele Paare die Kinder mit zwölf Monaten in die Kita und planen, sich vorher möglichst paritätisch ums Kind zu kümmern. Für viele Frauen passt das und dann ist es in der Regel auch okay fürs Kind. Aber meiner Erfahrung nach gucken die Frauen nicht mehr ausreichend, ob das für sie selbst emotional stimmig ist. Ich muss hinzufügen, dass junge Familien heute aber auch unter starkem finanziellem Druck stehen. Viele Frauen müssen schon wegen des Geldes schnell wieder in den Job einsteigen.
Warum können Frauen dennoch manchmal so schlecht auf ihre mütterlichen Bedürfnisse hören?
Viele Frauen haben ihre Mütter als zutiefst abhängig vom Vater erlebt und wollen keinesfalls in diese Rolle rutschen. Vielleicht waren die Mütter dann auch noch überversorgend, überfürsorglich und erdrückend. Das alles kann dazu führen, dass junge Frauen sich mit ihren Müttern gar nicht mehr identifizieren können und ihre eigenen mütterlichen und fürsorglichen Impulse unbewusst unterdrücken. Ich hatte ein Paar in Therapie, zwei Kinder, da ist die Frau jedes Mal in tiefe Krisen gerutscht, wenn sie ihre fürsorglichen Impulse gelebt hat, weil diese sie dann auf einer unbewussten Ebene immer direkt an ihre Mutter erinnerten.
Wie zeigte sich dieser Konflikt?
Einmal wollten sie in den Urlaub fahren. Sie hat die Koffer der Kinder gepackt und er hat die Campingsachen aus dem Keller geholt – und da hat sie die Krise bekommen, einen richtigen Aufstand gemacht, den sie selbst aber gar nicht verstand und ihr Mann erst recht nicht. Erst später merkte sie, dass die klassische Rollenverteilung in diesem speziellen Moment sie an ihre Eltern erinnerte. Es geht also immer darum zu gucken, was möchte ich eigentlich. Ist es okay für mich, wenn ich jetzt den ganzen Sonntag in der Küche stehe, um zu kochen und backen? Kann ich trotzdem eine erfolgreiche und berufstätige Frau sein?
Das Eigene zu finden ist manchmal ganz schön schwierig.
Viele Frauen wollen alles richtig machen, lesen Ratgeber bis zum Nimmerleinstag und haben wahnsinnig hohe Ansprüche an sich. Sie verzeihen sich nichts. Aber sie können schlecht fühlen, was sie eigentlich wollen. Möchte ich gerne Kinder, weil ich Kinder will? Oder möchte ich nur Kinder, weil meine Mutter sich Enkelkinder wünscht? Oder will ich keine Kinder, nur weil meine Mutter sich welche wünscht?
Die Mutter kann Frauen also schon sehr im Weg stehen auf der Suche nach der eigenen Mutterrolle.
Absolut. Manchmal reichen die Themen in der Frauenlinie der Familie aber noch viel weiter zurück. Ich hatte eine jüngere Klientin, die einen Kinderwunsch hatte, aber sagte, sie könne kein Kind bekommen, weil sie und ihr Mann ganz allein in der Großstadt seien. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wo das Problem ist: Ihr habt doch viele Freunde hier, warum meint ihr, das nicht zu schaffen? Erst viel später kam heraus, dass die Großmutter ihr viele schlimme Geschichten von der Flucht erzählt hatte, davon, dass sie mit drei kleinen Kindern im Nachkriegsdeutschland ganz allein in der Großstadt neu anfangen musste und niemand da war, um zu helfen. Meine Klientin hatte sich gemerkt: Du brauchst immer Familie um dich, du darfst mit kleinen Kindern nie allein sein. Als sie darauf kam, löste sich dieses Problem plötzlich auf und war kein Thema mehr. Ein paar Sitzungen später war sie schwanger.
Kann man überhaupt ohne seelische Narben aus der Mutterbeziehung hervorgehen?
Narben bedeuten ja immer, dass vorher eine Verletzung da war. Das gibt es in der Mutterbeziehung natürlich auch. Aber vielleicht sollten wir in diesem Zusammenhang lieber von schmerzlichen Spuren sprechen. Von dem englischen Psychoanalytiker Donald Winnicott wissen wir, dass Mütter nicht perfekt sein können und auch gar nicht perfekt sein sollen, Mütter sollen einfach nur gut genug sein. Denn es muss ja auch Raum für Differenz, für Loslösung und Abgrenzung bleiben. Insofern kann es keine konfliktfreie Mutter-Tochter-Beziehung geben. Wenn es die gibt, dann ist sie nicht echt, dann stimmt etwas nicht. Eine Kollegin hat mal gesagt: Mütter werden schuldig, das ist ein Naturgesetz.
Töchter sind zumindest oft schwer genervt von ihren Müttern. Das scheint auch so ein Naturgesetz zu sein.
Man braucht dieses Moment der Ablehnung und dieses Genervtsein, um sich entfernen zu können. Sonst könnte man ja nicht gehen, sonst wäre es zu dicht. Die Mutter-Tochter-Beziehung schwankt also immer zwischen zu nah und zu distanziert, das ist wie die Bewegung des Krabbelkindes, es krabbelt weg und dann krabbelt es wieder zurück zur Mutter, sogar in vielen Fällen das Leben lang. Man kann seine Mutter aber nur gut ablehnen, wenn man sich dessen sicher ist, dass sie trotzdem bleibt, wenn man also sicher gebunden ist. Die Mutter muss es dann natürlich auch aushalten, abgelehnt zu werden.
Wann ist es notwendig, den Kontakt zur Mutter abzubrechen?
Wenn die Mutter so destruktiv, negativ, narzisstisch, aggressiv, unzuverlässig, parentifizierend oder vernachlässigend ist, dass sie immer noch Schaden und Schmerz anrichtet. Es gibt Mütter, da gibt es nur den Weg des Kontaktabbruchs. Ich habe etwa eine Klientin, die noch heute, als eine erwachsene Frau, extrem von ihrer Mutter bedrängt wird. Die Mutter benutzt die Tochter noch heute, um ihr alles zu erzählen, was ihr auf der Seele liegt, Männergeschichten, intime Probleme, das ganze Programm. Gleichzeitig interessiert es sie gar nicht, wie es der Tochter geht. Die Tochter muss nun mühsam lernen, diesen Ärger spüren zu dürfen und sich abzugrenzen. Das fällt ihr sehr schwer. Aber manchmal denke ich auch, dass wir die zerstörerische Bedeutung von Müttern überschätzen. Wir geben ihnen zu viel Macht.
Inwiefern?
Die Mutter ist natürlich wichtig, aber nicht so wichtig, wie wir sie manchmal nehmen. Zum einen gibt es ja auch gute Väter, Großeltern, Lehrerinnen und Freunde, die in die Lücken springen können. Ich habe allerdings eine Klientin, die wirklich fürchterliche Sachen mit ihrer alleinerziehenden Mutter erlebt hat, das ganze Spektrum von Gewalt und Vernachlässigung. Wir sind in ihrer Geschichte auf die Suche gegangen nach anderen guten Bindungspersonen, die das hätten kompensieren können, aber da war niemand, nur ihr kleiner Bruder, um den sie sich als größere Schwester hingebungsvoll gekümmert hat. Man würde sich nicht wundern, wenn meine Klientin heute als Folge dieser Erfahrungen psychisch schwer krank wäre oder in prekären Verhältnissen leben würde. Aber nein. Obwohl die Mutterbeziehung schlimm war, ist sie einigermaßen gut daraus hervorgegangen, sie ist offensichtlich sehr resilient.
Wie schaffen es Töchter, im Erwachsenenalter eine einigermaßen harmonische Beziehung zur Mutter zu führen?
Es hilft auf jeden Fall, wenn man in der Lage ist, die Mutter nicht nur als Mutter, sondern auch als Mensch mit einer Biografie zu erkennen: eine Frau, die auch Tochter war, die auch Schwester war, die so geworden ist, wie sie ist, weil sie auch eine Geschichte hat. Vielleicht hat dieser Mensch Mutter es ja so gut gemacht, wie es ihm möglich war. Es hat vielleicht nicht ganz gelangt, aber mehr war eben nicht drin. Da geht es nicht um ein Verzeihen, sondern um einen Perspektivwechsel. Das kann ich aber nur, wenn ich vorher meine Enttäuschung und Wut auf die Mutter zugelassen habe. Wenn ich diesen Ärger spüren kann, weiß ich genau, was mich von meiner Mutter trennt. Das schafft Distanz und versichert mich der eigenen Identität. Man ist als Tochter rausgewachsen aus der Kinderrolle, wenn man der Mutter keine Vorwürfe mehr machen muss. Das heißt nicht, dass alles gut war, aber man kann akzeptieren: So war es und vielleicht warst du die beste Mutter, die du sein konntest. Aber ich gebe zu, das ist manchmal schwer.
Interview: Anne-Ev Ustorf
Birgit Kühl ist Paartherapeutin, Sexualberaterin und Physiotherapeutin. Sie arbeitet als Fachberaterin im Beratungs- und Seelsorgezentrum St. Petri und hat eine Praxis in Hamburg.
Zum Weiterlesen
Claudia Haarmann: Mütter sind auch Menschen. Mütter und Töchter begegnen sich neu. Orlanda, Berlin 2008
Sandra Konrad: Das bleibt in der Familie. Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten. Piper, München 2014
Silia Wiebe: Unsere Mütter. Wie Töchter sie lieben und mit ihnen kämpfen. Klett-Cotta, Stuttgart 2019
Anne-Ev Ustorf: Männer und ihre Mütter. Psychologie Heute 5/2020
Anne-Ev Ustorf und Susann Sitzler: Frauen und ihre Väter. Psychologie Heute 5/2021
Literatur
Victor Chu: Die Mutter im Leben eines Mannes. Eine lebenslange Bindung. Klett-Cotta, Stuttgart 2020
Claudia Haarmann: Mütter sind auch Menschen. Was Töchter und Mütter voneinander wissen sollten. Orlanda, Berlin 2008
Susan Forward: Wenn Mütter nicht lieben. Töchter erkennen und überwinden die lebenslangen Folgen. Goldmann, München 2015
Sandra Konrad: Das bleibt in der Familie. Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten. Piper, München 2014
Karyl McBride: Werde ich jemals gut genug sein? Heilung für Töchter narzisstischer Mütter. Probst, Lichtenau 2020
P. Perrig-Chiello: In der Lebensmitte. Die Entdeckung des mittleren Lebensalters. NZZ libro, 2011
P. Perrig-Chiello u.a.: Familienglück – was ist das? NZZ libro, 2012
Bärbel Wardetzki: Weiblicher Narzissmus. Der Hunger nach Anerkennung. Kösel, München 2021
Silia Wiebe: Unsere Mütter. Wie Töchter sie lieben und mit ihnen kämpfen. Klett-Cotta, Stuttgart 2019