Frauen und ihre Väter

Väter sind die ersten Männer im Leben von Frauen und damit prägend. Manche hadern lebenslang mit ihrem Vater. Welche Spuren hinterlassen Väter?

Die Collage zeigt einen Vater, der mit seiner kleinen Tochter auf einem roten Sofa sitzt und ihr aus einem Buch vorliest.
Die Beziehung zwischen Vater und Tochter kann sehr unterscheidlich sein – und ist doch immer prägend. © Luisa Stömer

An manchen Tagen war es am sichersten, den Vater gar nicht anzuschauen. Wenn er von der Arbeit kam, war er oft schlecht gelaunt und verschwand sofort in der Garage, um an seinem alten Mercedes zu basteln. Ansprechen durften ihn dann weder Mutter noch Tochter; wer ihn störte, riskierte einen Wutanfall. Nur der ältere Bruder durfte hin und wieder hinein, um zu helfen.

Die kleine Karin blieb ein Mutterkind, musste sich früh von der Idee verabschieden, den Vater für sich gewinnen zu können. „Als Mädchen hatte…

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für mich völlig unzugänglich. Jetzt würde ich ihn als depressiven Eigenbrötler beschreiben. – Trotzdem hat mein Vater mich immer stark beschäftigt, unter anderem weil er so eine Leerstelle hinterlassen hat.“

Die verschiedenen Rollen des Vaters

Ganz anders bei Mareike Koch, die ebenso wie Karin Gercke in Wirklichkeit anders heißt. Die inzwischen 35-Jährige hat eine innige Beziehung zu beiden Eltern. Zwar war die Mutter, eine Lehrerin, in ihrer Kindheit mehr zu Hause als der Vater. Trotzdem war dieser immer bemüht, in seiner Freizeit möglichst viel mit seiner Tochter und auch den beiden Söhnen zu unternehmen. Er ging mit ihr am Wochenende zum Schwimmunterricht und las ihr abends vor, fuhr später zu allen Punktspielen ihrer Fußballmannschaft. Als sie studierte, lernte er mit ihr für die Prüfungen. „Beide Eltern haben mich immer total unterstützt“, sagt Mareike Koch. „Und das ist nach wie vor so. Mein Mann und ich renovieren gerade ein Haus. Und wer ist fast jedes Wochenende mit uns auf dem Bau? Mein Vater.“

Väter. Sie füllen ihre Rolle äußerst unterschiedlich aus. Viele sind mit Liebe und Engagement dabei. Andere wiederum kommen nicht zurecht mit der Verantwortung, fühlen sich überfordert von der neuen Rolle oder werden durch Mütter ausgebremst. Aber ob engagiert oder ablehnend, ob liebevoll oder distanziert – sie alle hinterlassen Spuren bei ihren Töchtern. Oft sogar ein Leben lang. Denn die Beziehung zum Vater wirkt auf vielen Ebenen nach. Karin Gercke etwa haderte lange mit dem Verhältnis zu ihrem Vater und musste hart an sich arbeiten, um für sich ein positiveres Vater- und Männerbild entwerfen zu können. „Dabei habe ich vermutlich auch einige Partnerschaften verschlissen“, sagt sie. Mareike Koch hat diese Probleme nicht, sie fühlte sich immer im Reinen mit sich und den Männern, zumindest im Großen und Ganzen.

Mutter und Kind. Und der Vater?

Der Vater kann also beides: seiner Tochter Kraft und Zuversicht geben – und zum Problem werden. Das gilt selbst für Mädchen, die vaterlos aufwachsen. Denn der Vater steckt nicht nur genetisch in jeder einzelnen Körperzelle eines Menschen; er prägt mit seinem Verhalten, seiner emotionalen Beziehung zur Tochter deren Biografie, er kann das Leben einer Frau nachhaltig beeinflussen (siehe auch das Vaterporträt von Susann Sitzler ab Seite 20). Und schließlich ist bei jedem und jeder von uns unterschwellig das kollektive Bild des Vaters präsent, also all die gesellschaftlichen Vorstellungen, Projektionen und Sehnsüchte, die mit Vaterfiguren einhergehen.

Viele Jahrzehnte konzentrierte sich die Forschung zur kindlichen Entwicklung fast nur auf die enge Bindung zwischen Mutter und Kind. Der Vater blieb außen vor. Heute weiß man, dass auch der Vater eine ganz eigene Rolle für das Kind spielt. Zunächst ist er wichtig als Beschützer der engen Bindungsbeziehung zwischen Mutter und Säugling. Etwas später tritt er dann aber selbst als Dritter in den Bund zwischen Mutter und Kind ein, löst es nach der Stillzeit zunehmend aus der exklusiven Symbiose mit der Mutter, wird also zur „zweiten Liebe“ des Kindes – Triangulierung nennt sich dieser Prozess in der psychoanalytischen Fachsprache.

„Die Triangulierung funktioniert allerdings nur dann gut, wenn Mutter und Vater selbst eine Liebesbeziehung zueinander haben“, erklärt die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Eva Rass. „Sonst entwickelt das Kind zwei Dyaden, eine zur Mutter und eine zum Vater. Dann ist der Vater auch wichtig, aber das Kind erlebt nicht die Geborgenheit einer Dreierbeziehung.“ Eine Tochter bliebe dann vermutlich stärker an die Mutter gebunden und könne mit dem Vater weniger gut neue Erfahrungswelten und die Außenwelt explorieren.

Ein anregenderes Verhalten

Das wäre dann eine Leerstelle auf dem Entwicklungsweg, denn Väter bieten ihren Töchtern oft etwas ganz anderes als Mütter. Anhand einer Metaanalyse hunderter Vater-Kind-Studien zeigten Alan Russell und Judith Saebel von der Flinders University in Australien, dass Väter ihren Kindern gegenüber meist ein anregenderes Verhalten an den Tag legen als Mütter. Demnach bevorzugen Väter in ihren Spiel- und Freizeitaktivitäten eher aufregende motorische und körperliche Aktivitäten: Sie werfen ihre Kinder häufiger in die Luft, kämpfen spielerisch mit ihnen, messen sich mit ihnen.

Dabei fördern sie die Selbständigkeit und Individuation (siehe Definition) ihrer Sprösslinge. Insgesamt böten Väter ihren Söhnen und Töchtern mehr Herausforderungen, sagt auch Eva Rass. „In vielen Familien ist die Mutter diejenige, die dem Kind am nächsten ist und es eher schont. Väter aber frotzeln mehr, sticheln mehr und fordern das Kind auch in seinem Schamgefühl und seiner Verletzbarkeit. Sie bieten mehr Reibungsmöglichkeiten.“

Im Jugendalter geben die berufstätigen Väter – heute allerdings meist auch die Mütter – dann häufig ein gutes Modell für Getrenntsein trotz Verbundenheit ab: Man muss seine Liebsten nicht ständig um sich haben. So unterstützen sie die Loslösung der Heranwachsenden. Rass erlebt in ihren Therapiesitzungen allerdings auch oft, dass Mütter aufgrund einer eigenen problematischen Vatergeschichte das väterliche Verhalten als zu roh empfinden und ihren Partner für seine vermeintlich mangelnde Einfühlung in das Kind kritisieren: „Das normalväterliche Ver­halten wird als ungut fürs Kind erlebt, und die Mutter wirft sich schützend vor es. Ich muss der Mutter dann erklären, warum das männliche Verhalten wich­tig für das Kind ist, und dem Vater erklären, warum das Verhalten der Mutter wiederum eine eigene Geschichte hat.“

Gleiche Funktionen, gleiches Verhalten

Allerdings zeigen Untersuchungen an alleinerziehenden Vätern, dass sich Väter genau wie Mütter verhalten, wenn sie deren Funktionen gänzlich übernehmen müssen. „Sie sind also ebenso kompetent und eignen sich Fähigkeiten wie Feinfühligkeit und Expressivität an, wenn sie die gleichen Lernmöglichkeiten haben“, so die Entwicklungspsychologin Inge Seiffge-Krenke. „Die Frage ist also nicht, ob Väter fähig sind, zu agieren wie Mütter, sondern welchen be­sonderen Beitrag sie für die Entwicklung ihrer Kinder leisten.“

Insgesamt unterscheiden Väter jedoch stärker zwischen Söhnen und Töchtern als Mütter. So gehen Väter mit ihren Töchtern insgesamt sanfter, vorsichtiger und emotionaler um als mit Söhnen – und unterstützen so die normative Geschlechtsrollenidentität ihrer Töchter, was man bedauern kann. Bedeutsam ist der Vater für die Tochter aber auch, weil er die erste männliche Bezugsperson und damit ein wichtiges Vorbild für spätere Männerbeziehungen ist. „Den Grunddialog mit dem männlichen Geschlecht lernen wir Frauen nicht mit der Mutter, sondern in der Beziehung zum Vater“, sagt die Schweizer Psychotherapeutin Julia Onken. „Die Begegnung mit dem Vater eröffnet uns die männliche Welt. Er legt den Grundstein dafür, wie wir uns später in dieser Welt einrichten werden.“

Erstkontakt mit der Männerwelt

Die Tochter beobachtet genau, wie der Vater auf die Mutter und andere Frauen reagiert. Wen findet er attraktiv? Welche Verhaltensweisen und Eigenschaften sind für ihn bei einer Frau begehrenswert? Zudem kann sie mithilfe des Vaters gut ihre eigene weibliche Wirkung erproben. Vermittelt er ihr das Gefühl, ein interessanter und attraktiver Mensch zu sein, wird sie sich später als Frau vermutlich auch eher begehrenswert fühlen. Ist dies nicht der Fall, entwickelt sie womöglich weniger Selbstbewusstsein. „Im Umgang mit dem Vater liegt die Grundlage dafür, wie eine Frau sich selbst später einschätzt, aber auch, wie sie mit anderen Männern zurechtkommt und welchen Männertyp sie mag“, sagt der Psychotherapeut Uwe Bohlmann, Ko-Autor des Buches Starke Väter – starke Kinder. „Töchter, die erleben, dass ihr Vater sie wirklich mag, haben ein besseres Selbstwertgefühl und weniger Ängste.“

Viele Bestsellerbücher über Vater-Tochter-Beziehungen zeichnen jedoch ein eher düsteres Bild von dieser besonderen Beziehung. Gerade ältere Frauen, die oft noch mit kriegs­geschädigten Vätern aufgewachsen sind, hadern mit ihren strengen, abweisenden oder emotional unzugänglichen Vätern – wie Karin Gercke. Lange hatte sie das Gefühl, nicht richtig zu sein als Frau. In Liebesbeziehungen war sie oft verunsichert und passte sich an die Bedürfnisse ihrer Partner an, wechselte sogar ihren Frisuren- und Kleidungsstil je nach Geschmack des Mannes. „Ich habe mir zwar andere Männer als meinen Vater gesucht, eher nette Typen“, sagt sie heute. „Aber die habe ich oft verschreckt durch mein bedürftiges Verhalten. Ich war kein wirklicher Sparringpartner für sie. Und habe lange den Männern die Schuld daran gegeben.“

Auch im Beruf wiederholte sich dieses Verhalten. Als Anwaltssekretärin erfüllte Karin Gercke ihre Aufgaben immer zu 200 Prozent, kämpfte unentwegt um Anerkennung und hatte doch oft das Gefühl, nicht genug gesehen und wertgeschätzt zu werden. Deshalb wechselte sie häufig ihre Jobs. „Heute weiß ich, dass ich nachträglich versucht habe, mir von meinen wesentlich älteren Chefs abzuholen, was mein Vater mir nicht geben konnte“, sagt sie. „Also Lob, An­erkennung, Gesehenwerden und so weiter. Natürlich konnten die mir das gar nicht geben. Das hört sich jetzt so banal an. Aber es hat tatsächlich lange gedauert, bis dieser Groschen gefallen ist.“

Vaterkomplexe

Wenn die Beziehungserfahrungen einer Tochter mit dem Vater derart wirkmächtig sind, dann sprechen analytisch orientierte Psychotherapeuten von einem „Vaterkomplex“. Das Konzept geht auf den Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung zurück. Bei einer eher defizitären Vater-Tochter-Beziehung entwickelt sich häufig ein „negativer Vaterkomplex“; wie Karin Gercke ist die Tochter dann in verschiedenen Lebensbereichen unbewusst geprägt von der Sehnsucht nach väterlicher Anerkennung. Julia Onken hat drei Varianten der mit einem negativen Vaterkomplex belasteten Tochter identifiziert: die Gefalltochter, die immer wieder versucht, die Zuneigung des Vaters durch körperliche Attraktivität oder besondere Anpassung zu gewinnen; die Leistungstochter, die sich auf die Interessengebiete des Vaters stürzt und sich dort zu profilieren versucht; die Trotztochter, die dem Vater Widerstand entgegensetzt, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen.

Doch auch ein „positiver Vaterkomplex“ kann eine Tochter in ihrer selbstbestimmten Lebensgestaltung behindern. Er entsteht durch eine sehr enge Bindung zwischen Vater und Tochter, deren Ziel die gegenseitige Bewunderung ist. Die Mutter spielt in dieser Konstellation keine große Rolle mehr, sie bleibt außen vor. Auch später definiert sich die Tochter dann häufig über männliche Autoritäten und vermeidet es, eigene Entscheidungen zu treffen und auf eigenen Beinen zu stehen. Papa, der Ehemann, der Chef – sie alle bewundern sie und wissen, wo es für sie langgehen soll. Für weibliche Autonomie ist da kein Platz. „Das gute Selbstwertgefühl hängt von der Bewunderung durch die Männer ab“, beschreibt die Schweizer Psychoanalytikerin Verena Kast diese Konstellation. „Und da steckt das große Problem für Frauen mit dieser Komplexprägung: Wenn jemand uns den Selbstwert garantiert, dann sind wir diesem Menschen ausgeliefert. Verlieren wir diesen Menschen, dann verlieren wir diesen Selbstwert.“

Genau diese Frauen, die bewundernd zu Vater und Mann aufschauen und dessen Bestätigung zu gewinnen suchen, waren in unserer patriarchalischen Gesellschaft jedoch über Jahrhunderte das Idealbild. Und noch immer ist dieses Frauenbild – auf einer unbewussten kollektiven Ebene – wirkmächtig. Wir sehen es nach wie vor: in der angepassten Tochter, in der Frau, die sich den Wünschen und Bedürfnissen ihres Partners unterordnet, in der Kollegin, die trotz gleicher Leistung weniger Anerkennung und Gehalt erhält als die männlichen Kollegen.

Das Rollenmuster ändert sich

Denn obwohl Mütter eigentlich mehr Zeit mit den Töchtern verbringen, leben wir nach wie vor in einer „vaterkomplexigen Welt“, findet Verena Kast: „Selten zur Verfügung stehend, nimmt der Vater vor allem dank des Patriarchats und dank der Idealisierung durch die Frauen eine weit bedeutsamere Rolle ein, als ihm kraft seiner Beziehungsarbeit zu den Kindern zustehen würde.“ Für die erwachsenen Töchter sei es also an der Zeit, sagt Kast, in der eigenen Vorstellung den Vater als Patriarch zu entmächtigen. Denn der Vater sei nie so groß und mächtig gewesen, wie er einem als Kind erschienen sein mag. Dennoch bleibe es eine Herausforderung, sich aus der sozialen Rolle der angepassten Tochterfrau zu lösen, für die es häufig ja immer noch gesellschaftliche Anerkennung gibt.

Mareike Koch kann mit diesem Frauenbild ohnehin nicht viel anfangen. Sie ist anders sozialisiert. Die junge Gymnasiallehrerin hatte nie das Gefühl, als Tochter vom Vater anders behandelt zu werden als die beiden Brüder. Ihr Vater sei sehr auf Fairness bedacht gewesen. „Es ist schon so, dass meine Mutter vielleicht eher meine Vertraute war und mein Vater eher der, mit dem ich Dinge unternommen habe“, sagt sie. „Aber sie waren immer beide da für mich und sie waren auch füreinander da. Bis heute gehen sie total wertschätzend miteinander um.“ Das, glaubt Mareike Koch, sei sowieso vielleicht das Wichtigste: eine gute Beziehung der Eltern zueinander. „In der Ehe meiner Eltern waren beide berufstätig und beide gleich wichtig für uns. Ich hatte also zwei Vorbilder. Warum sollte ich da das Gefühl haben, als Frau weniger wert zu sein?“

Wie Mareike Koch geht es vermutlich vielen jüngeren Frauen. In den letzten Jahrzehnten haben sich starke Verände­rungen angebahnt: Feminismus und Gleich­berechtigung haben Frauen in dem Gefühl bestärkt, dass ihre Identität an sich wertvoll ist und sie ganz verschiedene Rollen leben können. Auch das Selbstverständnis der Mütter und Väter hat sich verändert, sie haben unterschiedliche Entwürfe davon, wie sie als Mutter oder Vater sein wollen (siehe dazu den Kasten auf Seite 17).

Vatersein als persönlicher Gewinn

Das belegt auch der Väterreport 2018 des Familienministeriums: Zwar übernehmen nach wie vor Mütter physisch und emotional den Großteil der Kinderbetreuung, 70 Prozent der Väter erklären jedoch, dass sie sich mehr beteiligen als die Väter ihrer Elterngeneration – und bewerten das als persönlichen Gewinn. „Mehr als die Hälfte der Väter mit Kindern unter sechs Jahren würde gerne mindestens die Hälfte der Kinderbetreuung übernehmen“, heißt es in der Studie. „Für eine Mehrheit gehört zum Vatersein ein intensives Engagement in der Familie dazu.“ Heute haben Mütter und Väter zudem jeweils mütterliche und väterliche Anteile in ihrer Rolle, beide dürfen sowohl fürsorglich und liebevoll als auch strukturierend und begrenzend sein – was, nebenbei, in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften ja ohnehin keine Frage ist. Die normativen Eigenschaften, die einem Geschlecht zugeschrieben werden, sind also nicht mehr in Stein gemeißelt, und das macht es Töchtern und natürlich auch Söhnen leichter, zu einer ganz eigenen Identität zu finden.

Was einen guten Vater für eine Tochter ausmacht, bleibt jedoch klar: Er hilft ihr, sich aus der Symbiose mit der Mutter zu lösen, und bietet der Tochter nicht nur bedingungslose Liebe, sondern auch neue Erfahrungswelten, Schutz und Rückhalt und viel Bestätigung bei ihrer Entwicklung zur Frau. Hat sie all das erfahren, kann sich die Tochter selbstbewusst in die Welt hinauswagen.

Wahr ist aber auch, dass ein väterliches Defizit niemals durch noch so geeignete Ersatzväter im Erwachsenenleben gutgemacht werden kann. In dieser Situation helfe nur eine Auseinandersetzung mit den emotionalen Verletzungen von damals, sagt Julia Onken: „Die Vater-Wunde heilt dann, wenn wir unseren alten Gefühlen zu begegnen wagen, sie zulassen und durchleiden.“ Heißt: Dann kann es gelingen, die Fixierung auf den Vater zu lösen und ein wirklich eigenständiges Leben zu führen, das nicht mehr geprägt ist vom Kampf um väterliche Anerkennung oder unbewusste Wut auf Vaterfiguren.

Karin Gercke ist auf diesem Weg. In einer längeren Psychotherapie hat sie sich auseinandergesetzt mit den Prägungen durch ihre Herkunftsfamilie. „Inzwischen weiß ich, dass ich keinem mehr zu gefallen brauche. Keinem Vater, keinem Mann, keinem Chef. Das hat mir sehr geholfen, heute eine tolle und gleichberechtigte Partnerschaft führen zu können. Ich bin ganz zufrieden mit mir selbst und meinem Leben.“ Und sie fühlt sich im Reinen mit ihrem Vater. Denn sie hat ihn als das erkannt, was er ist: ein ungeliebtes Kind, das schon früh von seiner Mutter abgelehnt wurde, ein Mann mit einer unglücklichen Kindheit und einer unglücklichen Jugend im Krieg, der später nie sein Potenzial entfalten konnte. Seine Ablehnung hatte, so weiß sie inzwischen, stets mehr mit ihm selbst zu tun als mit ihr. „Er ist jetzt sehr alt“, sagt Karin Gercke. „Ich besuche ihn regelmäßig im Altenheim, und dann freut er sich auch. Wir haben unseren Frieden geschlossen. Ich bin zwar immer noch seine Tochter – aber ich bin keine Vatertochter mehr.“

Sechs Vatertypen

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Rolle des Vaters in Deutschland grundlegend verändert. Viele Väter kümmern sich heute sehr engagiert um ihre Kinder – und doch gibt es nach wie vor eine große Vielfalt in der Ausgestaltung der Vaterrolle. Andrea Bambey und Hans-Walter Gumbinger forschen seit bald zwanzig Jahren über Väter. In einer qualitativen Studie sind sie anhand von Fragebögen und Interviews mit Elternpaaren der Frage nachgegangen, welche Vatertypen in unserem Land dominant sind

1 Der egalitäre Vater

Mit 28,5 Prozent stellen die egalitären Väter die größte Gruppe. Die Haltung dieses Vatertyps ist partnerschaftlich, dem Kind zugewandt und geduldig. Er fühlt sich in seiner Vaterrolle gut und sicher, lehnt traditionelle Rollenklischees ab, verfügt über hohe emotionale Kompetenz und setzt sich immer wieder mit seiner Rolle in der Familie auseinander. Die Qualität der Beziehung zu seinem Kind und seiner Partnerin bewertet er als sehr gut. Trotzdem ist die Rollenaufteilung auch in der Familie des egalitären Vaters häufig traditionell, oft aufgrund beruflicher oder finanzieller Zwänge. Dennoch bleibt er ein wichtiger emotionaler Bezugspunkt für das Kind.

2 Der fassadenhafte Vater

Mit 24,7 Prozent macht dieser Typ die zweitgrößte Gruppe in Deutschland aus. Er beschreibt sich als engagierter Vater und möchte keinesfalls nur der Brotverdiener in der Familie sein. Ein traditionelles Rollenverständnis lehnt er ab. Der fassadenhafte Vater glaubt, dass er viel für sein Kind tue und ein „Freund“ für es sei. Die Realität sieht anders aus: Im Paarinterview zeigte sich, dass der fassadenhafte Vater im Familienalltag wenig präsent ist und nur wenig Anteil am Leben des Kindes nimmt. Tatsächlich stellt er seine eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund.

3 Der traditionell-distanzierte Vater

Mit 17,8 Prozent die drittgrößte Gruppe. Seine Hauptaufgabe sieht er darin, für das Einkommen der Familie zu sorgen. Er überlässt das Management der Familie lieber seiner Frau, die er auch für viel kompetenter in Sachen Erziehung hält. Er hat keine Probleme mit diesem traditionellen Rollensystem und zeigt sich emotional eher distanziert. Über sportliche Aktivitäten oder technische Interessen jedoch sucht er Kontakt zu seinem Kind.

4 Der unsichere Vater

Dieser Typ macht 12,8 Prozent der Väter aus. Der unsichere, gereizte Vater findet nur schwer in seine väterliche Identität und ist in seiner Rolle überfordert. Er reagiert oft ungeduldig und genervt auf die Bedürfnisse des Kindes und hat das problematischste Vater-Kind-Verhältnis der gesamten Studie. Aber er beschönigt sein Verhalten auch nicht und gibt ehrlich zu, dass sein Verhältnis zum Kind eher schlecht ist.

5 Der randständige Vater

Mit 10,2 Prozent sind diese Väter die fünftgrößte Gruppe. Der randständige Vater fühlt sich wenig akzeptiert und in der Dreierbeziehung als eher am Rande stehend. Also zieht er sich aus dem Familienleben zurück, da er der Meinung ist, seine Partnerin wolle das so. Tatsächlich aber zeigten die Interviews, dass die Mutter sich von ihm im Stich gelassen fühlt, weil sie allein für die Erziehung zuständig ist.

6 Der partnerschaftliche Vater

Mit sechs Prozent die kleinste Gruppe. Er hat große Ähnlichkeit mit dem egalitären Vater – beide engagieren sich stark, sind geduldig und werden von der Partnerin in hohem Maß akzeptiert. Allerdings hält der partnerschaftliche Vater an männlich geprägten Rollenvorstellungen in der Erziehung fest. Eine Ohrfeige als erzieherische Maßnahme ist für ihn zum Beispiel völlig in Ordnung.

Andrea Bambey, Hans-Walter Gumbinger: Neue Väter? Rollenmodelle zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie, Band 24. Campus, Frankfurt a.M. 2017

Freud und der Penisneid

Nach Sigmund Freud verläuft die psychosexuelle Entwicklung von Jungen und Mädchen zunächst symmetrisch: Der Sohn begehrt unbewusst die Mutter, die Tochter den Vater. Im Zuge dessen entdeckt das Mädchen jedoch, dass es keinen Penis hat, und entwickelt die Vorstellung, dass es kastriert worden sei; es plagt sich fortan mit Penisneid. Der identitätsbildende Kastrations­komplex führt die Tochter zunächst in eine Idealisierung des Vaters, wird aber später überwunden.

Diese defizitäre Betrachtung gilt heute als überholt. Schon 1922 kritisierte die Psychoanalytikerin Karen Horney die Idee des Penisneids und stellte ihr eine Theorie des männlichen Gebärneids gegenüber. Später rückte Melanie Klein die Wichtigkeit der frühen Mutter-Kind-Beziehung für die Identitätsentwicklung in den Vordergrund.

Mittlerweile argumentieren viele in der Psychoanalyse, dass weibliche Sexualität von Geburt an ihre eigene Spezifität besitze und Töchter hier nicht auf ein männliches Gegenüber angewiesen seien. Dennoch spielt die Liebesbeziehung zum gegengeschlechtlichen Elternteil in der Theorie noch immer eine Rolle. Das Überwinden dieser Idealisierung und die anschließende Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil werden als wichtiger Reifungsschritt auf dem Weg zur Ablösung von den Eltern gesehen.

Quellen

Andrea Bambey, Hans-Walter Gumbinger. Neue Väter? Rollenmodelle zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie, 24, 2017. Campus Verlag

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Väter-Report 2018. Vater sein in Deutschland heute.

Verena Kast: Vater-Töchter, Mutter-Söhne: Wege zur eigenen Identität aus Vater- und Mutterkomplexen. Kreuz Verlag, 2005

Andrea Micus, Uwe Bohlmann: Starke Väter - starke Kinder: Was Kinder von ihren Papas brauchen. Humboldt, 2013

Julia Onken. Vatermänner: Ein Bericht über die Vater-Tochter-Beziehung und ihren Einfluss auf die Partnerschaft. C.H. Beck, 2020

V. Phares, B. E. Compas. The role of fathers in child and adolescent psychopathology: Make room for daddy. Psychological Bulletin 111, 1992

Eva Rass. Bindung und Sicherheit im Lebenslauf: Psychodynamische Entwicklungspsychologie. Klett-Cotta, 2017

Eva Rass. Psychodynamische Therapie mit Kindern und Jugendlichen in der Praxis: Affekte regulieren und Bindungen stärken. Klett-Cotta, 2021

A. Russell, J. Saebel. Mother-son, mother-daughter, father-son, and father-daughter. Are they distinct relationships? Developmental Review, 17, 1997

Inge Seiffge-Krenke. Gut, dass sie anders sind.

Inge Seiffge-Krenke. Families with daughters, families with sons: Different challenges for family relationships and marital satisfaction? Journal of Youth and Adolescence, 3, 1999

Inge Seiffge-Krenke. Väter und Söhne, Väter und Töchter. Forum Psychoanalyse, 17, 2001

Mein Vater

Der Vater – schweigsam, fordernd und verletzend spöttisch – hat es Susann Sitzler nicht leichtgemacht. Bis zu seinem Tod hat sie mit ihm gehadert. Und ihn geliebt

Mein Vater war ein großer Mann. Eins neunzig, das war zu seiner Zeit und da, wo wir lebten, ziemlich ungewöhnlich. Er wusste, dass er damit Eindruck machte, und er nutzte diesen Vorteil so oft und gut er konnte. Er ging mit langen, schweren Schritten, den Rücken etwas gebeugt, man konnte die Last auf den Schultern förmlich sehen. Es war die Last, mehr vom Leben zu wollen als die anderen um ihn herum. Mehr Adrenalin, mehr Intensität, mehr Bestätigung womöglich auch. Und auch mehr Leistung.

Unter seinen Freunden war er der erste, der heiratete. „Ordentliche Verhältnisse schaffen“, nannte er das, und jeder wusste, dass die Formulierung ironisch, der Wunsch jedoch vollkommen ehrlich war. Mein Vater sehnte sich nach geordneten Verhältnissen. Er klammerte sich geradezu an ihnen fest, während er, kaum war er verheiratet und Vater, jeden Tag ein Stück mehr an ihnen zu scheitern begann.

Gestorben ist mein Vater wie ein alter Indianer. Er zog sich für Monate ins Schweigen zurück und ging mit sich ins Gericht. Dann machte er sich auf den Weg. Er wusste, was er schuldig geblieben ist und dass die Zeit nicht mehr reicht, es zurückzuzahlen.

Die Nische einer modernistischen Urnenwand

Hin und wieder besuche ich nun sein Grab. In der Realität nicht oft, es ist weit weg von da, wo ich lebe. Doch in Gedanken bin ich häufig dort. Die Urne steht in der abgezirkelten Nische einer modernistischen Urnenwand. Ich sitze in Gedanken auf dem Bänkchen davor. Gemeinsam schauen wir in die Ferne. Es ist gar nicht so sehr anders als früher, als er noch lebte und ich bei ihm in seinem Wohnzimmer saß. Die friedlichsten Momente waren, wenn wir einfach schweigend beieinander waren, jedes von seinen eigenen Gedanken erfüllt. In diesen Stunden fühlte ich mich auf eine Weise ruhig und wohl, die ich sonst nicht erlebte. Denn auch wenn das Reden fast immer schwierig war zwischen uns, so machte es für mich jedes Mal einen Unterschied, wenn wir beisammen waren. Ohne ihn war alles immer unbeschwerter. Doch mit ihm fühlte es sich immer irgendwie richtiger an. So war es, seit ich ein Kind war, und so ist es geblieben, bis er starb.

Eines der ersten Bilder, die mir in den Sinn kommen, wenn ich an meinen Vater und mich denke, stammt aus meiner mittleren Kindheit. Er und ich sitzen auf einem niedrigen Mäuerchen vor einer Blumenrabatte aus Beton. Wir sind dicht nebeneinander, berühren uns aber nicht. Der Oberkörper meines Vaters in dem kurzärmligen bügelfreien Hemd ist ein wenig nach rechts gedreht, mir zugewandt. Mit einem breiten Lächeln, fast einem Grinsen sieht er mich an. Ich bin ein Mädchen mit langen feinen Haaren und einer großen Brille. Auch ich sitze ihm zugewandt, die Beine etwas sperrig überschlagen. Auch mein Lächeln ist breit und reicht von Wange zu Wange, es ähnelt seinem. Kein Grinsen wie bei ihm. Aber doch ziemlich großräumig für das glatte Gesicht eines zehnjährigen Mädchens. In der Art, wie ich auf diesem Foto meinen Vater anstrahle, sieht man mein ganzes kindliches Herz.

Außer diesem Strahlen ist alles an dem Bild gestellt. Ganz genau hatte mein Vater mir gesagt, wo und wie ich mich hinsetzen soll. Fluchend hatte er an dem Selbstauslöser herumgedrückt und war dann zu dem Mäuerchen gerannt, auf das er sich ächzend fallen ließ. Kaum hatte er mir den Kopf zugedreht und seine Wangen zum Grinsen auseinandergezogen, verschoss die Kamera ihren Blitz. Ich kann mich an die Angespanntheit erinnern, die er beim Hantieren mit der Kamera zeigte, und an meine Sorge, im falschen Moment zu blinzeln und damit das Bild zu ruinieren. Was ich vergessen hatte, ist die Freude, die man auf dem Bild in meinen Augen sieht. Es sagt die ganze Wahrheit. Ich liebte und bewunderte meinen Vater und hätte alles getan, damit er mir so zugewandt blieb, wie er auf diesem Foto aussieht.

Warum verstand er so wenig von mir?

Wenn ich an meinen Vater denke, werde ich meistens traurig. Das ist schon mein ganzes Leben so. Als ganz kleines Mädchen war ich traurig, wenn er mit mir schimpfte oder wenn er morgens zur Arbeit ging und ich ihn den ganzen Tag nicht sah. Als Jugendliche überlagerte sich die Trauer mit Wut. Über den Spott, mit dem er meine Frisurenexperimente ebenso aushebelte wie meine Schwärmereien für Musikgruppen und Filmschauspieler, meine erwachende Lust am Diskutieren über Geschmack und den Sinn des Lebens. Alles, was er sagte, weckte damals in mir Zorn und auch Verzweiflung. Warum hörte er mir nicht zu? Warum zählten meine Worte für ihn nicht? Warum verstand er so wenig von mir?

„Du hast immer ein Zimmer bei mir“, das betonte er wieder und wieder mit Nachdruck. Und so war es. In jeder der Wohnungen, in denen er lebte, nachdem er bei uns ausgezogen war, gab es einen Raum für mich. Als wütender Teenager wohnte ich ein paar Monate bei ihm an einer grauen Hauptstraße. „Zweck-WG“ trifft die Lebensform am besten. Wir kommunizierten, wenn überhaupt, mit Zetteln. Das heißt, er schrieb mir Zettel, wenn er der Meinung war, dass ich die Küche nicht sauber genug hinterlassen oder die Waschmaschine mit meiner Wäsche nicht zeitig genug geleert hätte. Hin und wieder kochte ich etwas für uns beide. Doch er schlang das Essen immer wortlos herunter, und ich ging davon aus, dass es ihm nicht schmeckte.

Trotzdem spürte ich in all den Jahren meines Lebens nie eine so umfassende Ruhe und Geborgenheit wie an jenem Abend, als ich als 16-Jährige bei ihm eingezogen war und in dem für mich eingerichteten Zimmer in dem Bett lag, das er extra für mich gekauft und mit neuer Bettwäsche bezogen haben musste. Nebst einem neuen Plüschpinguin, der auf den Kosenamen anspielte, den er seit meiner Geburt für mich hatte und der auch in den Jahren des Streites und des Schweigens gültig blieb.

Ein Gespräch aus Floskeln

Als junge Frau sah ich ihn nur sporadisch. Unsere Begegnungen waren meist kurz, und die Gespräche beschränkten sich auf Floskeln. Dann kamen die Jahre, in denen ich ihm als Erwachsene gegenübertrat. Ich tat es, indem ich ihm einen Ehemann präsentierte und später noch einen. Es waren Jahre, in denen ich mich in Sicherheit wog. Vor seinem Spott. Vor allem aber, das weiß ich heute, vor meiner Trauer.

Ich weiß nicht, warum mein Vater und ich uns nie verstanden haben. Warum zwischen uns stets so viel Schweigen war. Er hat sich nie von mir abgewandt. Auch nicht, als ich es tat. Er hat sich mir bloß nie genügend zugewandt.

Die guten Erinnerungen an meinen Vater kommen bruch­stückhaft. Und nie, wenn ich mich um sie bemühe. Nur die schmerzhaften Gedanken rufe ich ohne Mühe ab. Sie tauchen auf, sobald ich an ihn denke. Sein spöttischer Blick, mit dem er mich an der Wohnungstür musterte. Die brennende Beschämung, viele Jahre früher, als ich mit sieben oder acht vor dem Schaufenster des neueröffneten Ballettshops stehenblieb und sehnsüchtig das Trikot mit Tüllborte ansah. Seit ein paar Monaten ging ich zum Ballett und mein Geburtstag stand bevor. Darum wagte ich zu sagen, dass ich mir so ein Trikot wünsche. Wie er dann „Dann würde ich an deiner Stelle noch mehr essen“ antwortete und ungerührt weiterging.

Die verräterische Position des Lesezeichens

Die guten Erinnerungen nehmen einen anderen Weg. Sie kann ich nicht bewusst anlocken. Immerhin weiß ich inzwischen, dass es sie gibt. In unerwarteten Momenten sind sie plötzlich da. Wenn ich im Badezimmer vor dem Spiegel stehe und mir die Zähne putze, taucht plötzlich eine auf. Der Gedanke an das Fax, das er mir vor vielen Jahren schickte. Am Abend zuvor hatte ein Theaterstück Premiere, bei dem ich hinter den Kulissen mitgewirkt hatte. Die Premiere war tumultuös, wie es das Stück verlangte, auf der Bühne sprangen Ballerinen und Frauen mit Boxhandschuhen herum, und am Ende hatte wohl niemand ganz genau verstanden, worum es dabei eigentlich ging.

Mich hatte die Arbeit daran amüsiert, aber in Gedanken nur wenig interessiert. An den Abend der Premiere erinnere ich mich nicht. Ich hatte zwischendurch sogar vergessen, dass mein Vater überhaupt zu diesem Anlass erschienen war. Am nächsten Morgen weckte mich das Pfeifen des Faxgerätes, das eine Zeichnung auszuspucken begann. Mit wenigen schwungvollen Strichen war ein geöffneter Theatervorhang skizziert und darin in der stakkatohaften Handschrift meines Vaters sein Glückwunsch. Sowie der Hinweis, dass er zwar nichts verstanden habe, ich es aber offensichtlich „geschafft“ hätte.

Es ist das direkteste Lob, das ich jemals von ihm bekommen habe. Und es galt einer Leistung, die mir selbst nur wenig bedeutete. Die Zeit, als es mich für eine Weile in die Theaterwelt zog, lag damals schon viele Jahre zurück und das Engagement mit den Ballerinen war reiner Zufall gewesen. Die Bücher waren wichtig für mich. Meine letzten Bücher hat er nur noch angelesen und dann zur Seite gelegt, das erkannte ich an der Position des Lesezeichens.

Er schwieg, doch wollte mir nah sein

Über das erste hatte er nie etwas gesagt. Doch war er, nachdem ich ihm eher scherzhaft eine Einladung zur Buchpremiere in meiner Stadt geschickt hatte, als Überraschungsgast wenige Minuten vor Beginn aufgetaucht. Offensichtlich war er dafür in ein Flugzeug gestiegen, was ihm großes Unwohlsein bereitete, und hatte einen jungen Kollegen, den er in meiner Stadt kannte, als Begleitung organisiert. Er genoss die gelungene Überraschung, die Grüße und Ehrbezeugungen, die von allen Seiten kamen. Fürs Foto drückte er mir mit stolzem Blick die Hand. Doch am nächsten Tag flog er zurück, ohne mich noch einmal treffen zu wollen.

Ein paar Jahre später wohnte ich während eines Arbeitsaufenthaltes noch einmal für mehrere Monate in seiner Nähe. Monatelang wartete ich auf ein Signal. Doch es kam nicht. Am drittletzten Tag vor meiner Rückreise rief ich ihn an und fragte, ob er mich vielleicht zum Flughafen fahren wolle, eine gut einstündige Fahrt, damit wir doch noch etwas Zeit zusammen verbringen, bevor ich wieder weg bin. Sofort stimmte er zu und sein Auto hielt pünktlich vor meiner Tür. Auf der Fahrt wechselten wir buchstäblich kein Wort. Kaum war ich eingestiegen, schien er einfach vergessen zu haben, dass ich da war. Während der gesamten Stunde explodierten in meinem Kopf Worte und Sätze, die ich sagen wollte. Doch sein Schweigen lähmte mir den Mund. Am Flughafen schüttelte er kurz meine Hand und forderte mich auf, „sauber“ zu bleiben. Sein üblicher Abschiedsgruß für Bekannte aller Art.

Bevor er sich ans Sterben machte, habe ich meinen Vater noch ein letztes Mal besucht. Zu meinem Erstaunen hatte er für unser Mittagessen nicht das Café in der Innenstadt vorgeschlagen, wo er Stammgast war und wo wir uns meist getroffen hatten. Mit seinem neuen, winzigen Auto fuhren wir stattdessen in den Teil der Stadt, wo unsere Familie, als er noch mit uns lebte, zu Hause gewesen war. Als die Kellnerin die leeren Teller abtrug, waren die Themen durch. „Kommst du noch zu mir?“, fragte er, als wir aufbrachen. Das war eine Erklärung seiner Liebe. Auch nach zwei Stunden und nachdem aus seiner Sicht alles geklärt war, war er noch nicht ungeduldig. Er wollte mich noch ein bisschen um sich haben. Ich nickte. Meine Brust fühlte sich frei an wie lange nicht mehr in seiner Gegenwart oder vielleicht noch nie.

Am Ende der Frieden

Wir fuhren schweigend, wie früher so oft. Er steuerte seltsame Wege, und nach einer Weile begann ich zu erkennen, dass er Orte anfuhr, die in unserer gemeinsamen Zeit eine Rolle gespielt hatten. Mein alter Schulweg zur Grundschule. Die Wohnung, wo ich als 16-Jährige ein paar Monate bei ihm unterkam. Die frühere Wohnung meiner großen Schwester. Und schließlich die letzte Wohnung, wo wir noch alle zusammengelebt hatten. Ich wusste, dass er wusste, dass ich den Sinn der Route erkannt hatte.

Als wir schließlich bei ihm ankamen, schien mein Vater müde und wusste nichts Richtiges mehr mit mir anzufangen. Wir saßen noch eine Weile auf dem Sofa und ich erkundigte mich nach seiner Diagnose. Im Flur sah er zu, wie ich, langsamer als nötig, in meinen Mantel stieg. Dann streckte er mir zum Abschied, wie es bei uns üblich war, die Hand entgegen. Doch diesmal machte ich es anders. Kurz und entschieden legte ich die Arme um ihn, bevor er erstarren oder zurückweichen konnte. Durch die feine Wolle seines Pullovers fühlte ich den knochigen Oberkörper meines Vaters. Wir hatten uns nie mehr umarmt, seitdem ich ein Kind war. Er war völlig verdattert. Das hätte er sich niemals getraut. Er muss geglaubt haben, dass er mit seinen Irrtümern und all dem Schmerz, den er den Menschen in seiner Umgebung immer wieder zugefügt hatte, das Recht darauf, von seinen Kindern geliebt zu werden, verwirkt haben muss. Als ich ging, war mein Herz leicht.

Noch einmal bin ich in Gedanken auf Besuch bei der Urne meines Vaters. Jetzt, wo ich Frieden mit ihm habe, würde ich keinen anderen zum Vater gewollt haben als ihn.

Susann Sitzler ist eine Schweizer Journalistin und Autorin. Dieser Text ist ein Auszug aus ihrem Buch Väter und Töchter. Ein Beziehungsbuch , das soeben bei Klett-Cotta erschienen ist. Abdruck mit freundlicher Genehmigung 

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2021: Frauen und ihre Väter