Sehnsucht nach Verbundenheit

Das Ende der Einsamkeit. Wie wir Erfahrungen überwinden, die uns an dem hindern, was uns einander näher bringt: sich zu öffnen.

Ein Mann sitzt im dunklen Wald in einem erhellten Baumhaus und lässt ein rotes Seil herunter zu einer Frau, die am Boden steht und nach oben schaut
Manchmal genügt es, ein Seil den Mitmenschen zu seinem inneren Baumhaus herunterzulassen. © Luisa Jung für Psychologie Heute

Wie ein durch nichts zu stillender Hunger – so kann sich Einsamkeit anfühlen. Ein Hunger, der entsteht, wenn unser Grundbedürfnis nach einer Verbundenheit mit anderen Menschen nicht erfüllt wird. Marta Brehm – 39 Jahre, brauner Bob, verschmitzte Grübchen, kräftiger Händedruck – kennt das. Vor sieben Jahren zog die Unidozentin für eine neue Stelle und einen neuen Mann in den Norden, bewusst aufs Land, um mehr in der Natur zu sein. Eigentlich war dort alles gut. Der Partner wohnte nicht weit weg, die Katze…

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aufs Land, um mehr in der Natur zu sein. Eigentlich war dort alles gut. Der Partner wohnte nicht weit weg, die Katze räkelte sich gemütlich auf der Fensterbank, die Freunde und Freundinnen im Süden standen am Telefon parat.

Und doch machte sich eine Schwere breit. Ein diffuses Nagen und Stechen, das sich schwer greifen ließ. „Ich habe lange gebraucht, um zu merken, dass es Einsamkeit ist, was mir da zusetzt“, sagt Marta Brehm, die in Wirklichkeit einen anderen Namen trägt. Erst als sie ihren Urlaub an der Nordsee verbrachte und am Strand all die Familien, Paare, Freunde beobachtete, wurde ihr klar, was fehlte. „Ich konnte immer gut mit mir allein sein. Dass es in meinem Leben plötzlich einen Mangel geben sollte, obwohl ich ja objektiv gesehen alles hatte, das konnte ich mir nur schwer eingestehen. Es war ja nur ein Gefühl. Ein sehr blödes zwar, aber trotzdem nur ein Gefühl.“

Wir alle fühlen uns manchmal einsam, das ist ein normaler Teil des Lebens. Aber wenn dieser Zustand andauert, möchten die meisten Menschen, dass sich etwas ändert. Der Schmerz liegt oft nicht darin, dass wir zu wenig Kontakte haben, sondern darin, dass in diesen etwas fehlt – wenn wir miteinander sprechen, aber uns nichts sagen, wenn wir von der Arbeit erschöpft sind und der Partner es nicht merkt. Einsamkeit kann vielerlei Auswirkungen haben. Forschungsarbeiten der letzten Jahre zeigen, dass einsame Menschen häufiger unter chronischen Erkrankungen, Schlafstörungen, Stress, depressiven Symptomen und Selbstwertproblemen leiden.

In der Not

Denn wir brauchen das Gegenteil: tiefe, substanzielle und erfüllende Begegnungen. Der Münchner Bindungsforscher Karl-Heinz Brisch vergleicht die Funktion von emotionaler Versorgung und positiven Gefühlserlebnissen in Beziehungen mit der von Vitaminen: Sie sind lebensnotwendig und wir können sie nicht selbst herstellen. Menschen sind aufeinander angewiesen. Doch wie gelingen erfüllende Kontakte? Ein erster Schritt ist, sich zu öffnen.

Julia Mertens tut sich damit schwer. Als sich die Softwareentwicklerin von ihrem langjährigen Partner trennt, kann sie sich selbst nicht mehr leiden. Kummer und Schmerz machen sie zu einer schlechteren Version ihrer selbst, glaubt die 43-Jährige, die eigentlich anders heißt. Einer Version, die keinen Platz mehr in ihrem großen Bekanntenkreis hat. „Mein Umfeld bestand aus lauter erfolgreichen, attraktiven und unbeschwerten Menschen, die das Leben feiern wollten. Wir haben zusammen Sport getrieben, Partys besucht und uns über die stressigen Jobs aufgeregt. Zweifel oder Ängste wurden da nie geäußert.“

Als Julia in der tiefsten Krise ihres Lebens steckt, kann sie mit niemandem darüber reden. Die Kraft reicht nicht aus, um den Freunden ihr altes Ich vorzuspielen – und so muss sie die Zurückweisung des neuen Ichs erleben. „Ich hatte das Gefühl, dass keiner sehen wollte, wie es mir ging und was mich wirklich ausmacht. Das war eine schmerzhafte Erfahrung.“ Laut Wanja Kunstleben, Psychotherapeut in Freiburg, ist es durchaus typisch, was Julia erlebt hat. „Wenn Lebens­themen aufbrechen, zeigt sich oftmals, dass an dem Spruch etwas dran ist: In der Not erkennst du echte Freunde“, sagt er.

Der Kult der Autonomie

Das Beispiel von Julia zeigt noch etwas anderes: Um wirklich in Beziehung zu treten und nicht einsam zu sein, braucht es Selbstoffenbarung. Was hindert uns daran, uns so zu zeigen, wie wir sind? Dass wir in einer Gesellschaft leben, die auf Inszenierungen setzt, Perfektion zum Maßstab erhebt und Schwäche missbilligt – vermutet etwa David Myers, Psychologieprofessor am Hope College in Michigan. Auch ein ande­res zeitgenössisches Motiv erschwert uns den Weg zu Nähe: Autonomie, der Wunsch unabhängig zu sein. Das ist ein Grundbedürfnis; gegenwärtig wird es jedoch oft zum Ideal überhöht, wodurch die Gefahr steigt, seine ausgleichende Gegenspielerin zu vernachlässigen: die Verbundenheit. Noch ein weiterer gesellschaftlicher Grund wird im Diskurs über Einsamkeit häufig erwähnt: zu wenig Zeit. Deshalb schlägt der Arzt und Journalist Jakob Simmank in seinem vor kurzem erschienenen Buch Einsamkeit eine 32-Stunden-Woche vor. So hätten wir mehr Zeit und Kraft, um uns intensiven Kontakten zu widmen.

Doch äußeren Umständen und zeitgeistigen Strömungen allein die Schuld zu geben greift bei solch einer tiefgehenden Empfindung wie Einsamkeit zu kurz. Sie ist ein komplexes Phänomen. Wie gut wir sie überwinden können, hängt unter anderem davon ab, wie sehr wir anderen vertrauen und uns öffnen. Und das wiederum wird von vielen Faktoren geprägt: von der Art, wie wir uns zu binden gelernt haben, von Schutzschildern, die wir im Laufe des Lebens aufgebaut haben, um uns vor Verletzungen zu schützen, und ganz grundsätzlich von unserem Selbstvertrauen – davon, ob wir glauben, dass wir es wert sind, dass andere uns nahe sind.

Ob sich jemand offenbart, hängt davon ab, ob er dem anderen vertraut. Der mittlerweile verstorbene Psychologe Franz Petermann hat die bislang einzige deutschsprachige Monografie zu Vertrauen verfasst und er unterscheidet darin zwischen einer spezifischen und einer generalisierten Form. Die generalisierte Ausprägung, eine allgemeine Einstellung anderen Menschen gegenüber, bleibt über das Leben hinweg relativ ähnlich und ist bei extravertierten Menschen größer. Interessanterweise sagt diese Persönlichkeitseigenschaft aber sehr wenig über das spezifische Vertrauen aus, also wie sehr wir uns in einer bestimmten Situation auf jemanden verlassen. Dafür ist vor allem die andere Person entscheidend, genauer gesagt, für wie verlässlich und integer wir sie halten. Das beurteilen wir mithilfe von Menschenkenntnis und Empathie. Franz Petermann zufolge ist hierbei un­ser Einfühlungsvermögen so zentral, dass es zusammen mit Selbstvertrauen die Voraussetzung dafür bildet, überhaupt fähig zu sein, sich auf andere zu verlassen.

Der Einsamkeit auf die Schliche

Wir sollten also die Aufmerksamkeit auf den anderen lenken, um abzuschätzen, ob wir auf ihn zählen können. Doch das ist nicht ganz leicht, da wir oft um uns selbst kreisen, wenn wir unsicher sind. Gelingt es uns, die Selbstbezogenheit zu überwinden, könnten wir besonders auf Mimik, Gestik und Körperhaltung achten. Rosemarie Rothmeier und David N. Dixon haben Interviews analysiert und beschrieben, aus welchen Zeichen Menschen darauf schließen, dass jemand vertrauenswürdig ist. Da wären etwa: durchgängiger Blickkontakt, eine aufrechte Sitzhaltung, kein ständiger Blick auf die Uhr, ein konzentriertes Interesse an dem, was der andere sagt, das Vermitteln eines Eindrucks von Verschwiegenheit. Menschen, die lange isoliert und einsam gelebt haben, sind unglücklicherweise nicht so gut darin, zu erkennen, wer aufrichtig ist.

Marta Brehm ist das aber gelungen. Nachdem die 39-Jährige ihrer Einsamkeit auf die Schliche gekommen war, stürzte sie sich in ihrer neuen Heimat in verschiedenste Aktivitäten: Sie machte einen Angelschein, engagierte sich beim Roten Kreuz und trat einem Sportverein bei – immer auf der Suche nach neuen Kontakten. „Ich habe viele nette Menschen kennengelernt, aber so richtig andocken konnte ich nie. Das hat mich irgendwann ziemlich verunsichert.“ Ein Grillabend mit Vereinskolleginnen wird zum Schlüsselmoment. Als nur noch eine kleine Runde beisammensitzt, wird sie nach ihrer Vergangenheit gefragt. Sie ist überrumpelt und stockt.

Einsamkeit

Einsamkeit ist vielen Psychologen zufolge nichts, das sich an der bloßen Anzahl von Kontakten messen lässt, sondern vielmehr ein subjektives Gefühl. Es ist ein Empfinden, ohne Verbindung zu anderen Menschen zu sein, sich niemandem anvertrauen und keinen um eine praktische oder moralische Unterstützung bitten zu können. Das Gefühl mag einen allein zu Hause überkommen, im Beisein des Partners oder inmitten von Familienmitgliedern. In einer ARD-Umfrage bewerteten 68 Prozent der Befragten Einsamkeit als großes oder sehr großes Problem

In ihrer Kindheit mit einer, wie sie sagt, „ziemlich narzisstischen Mutter“ hat sie notgedrungen gelernt, ihr Innenleben zu schützen. Vor den ständigen Abwertungen und vernichtenden Urteilen, vor den enormen Ansprüchen und hohen Erwartungen, vor den bohrenden Fragen und entmutigenden Antworten. Doch das aufrichtige Interesse der neuen Bekannten macht ihr Mut. Sie erzählt vom Tod ihres Mannes und von der schweren Zeit danach – Dinge, die sie in der neuen Heimat noch nie preisgegeben hatte. „Dadurch ist plötzlich eine ganz andere Atmosphäre entstanden. Niemand war abgeschreckt, alle haben interessiert nachgefragt. Seitdem fühle ich mich nicht nur in dem Verein und der Gegend zu Hause, sondern habe auch meine Lebenslust wiederentdeckt.“

Räume der Sicherheit

Während manche Menschen, nachdem sie einander kennengelernt haben, diese Begegnung vertiefen, lassen sich andere nie ganz darauf ein. Eine Disziplin, die uns hilft, dieses unterschiedliche Verhalten zu verstehen, ist die Bindungsforschung. Die aus der Psychoanalyse kommende Forschungs­richtung legt ihr Augenmerk weniger auf Kontakte im Allgemeinen als vielmehr auf die bedeutendsten Beziehungen in unserem Leben, also die zu den Eltern, zum Partner oder zur besten Freundin. Verschiedenen Modelle legen im Detail unterschiedliche Schwerpunkte, aber fast alle unterscheiden zwischen sicheren und unsicheren Bindungsstilen.

Die meisten Erwachsenen – je nach Erhebung etwa die Hälfte – bezeichnen Bindungsforscher als sicher gebunden. Sie sehnen sich nach Nähe und erleben diese, sie fühlen sich abhängig davon, aber leben nicht in ständiger Furcht, verlassen zu werden. Sie betrachten Beziehungen als Räume der Sicherheit, als Rückzugsorte, an denen sie sich zeigen können, wie sie sind, und aus denen sie Kraft schöpfen können für die Herausforderungen und Unwägbarkeiten des Lebens. Weniger ideal verhält es sich bei Menschen mit einem unsicheren Bindungsstil, darunter fallen sogenannte unverarbeitet-traumatisierte oder besitzergreifende Ausprägungen. An dieser Stelle am wichtigsten sind die ängstlichen und die vermeidenden.

Zur Illustration der Ängstlichen können wir uns eine Frau namens Brigitte vorstellen. Brigitte sucht Nähe, aber tut sich nicht leicht damit. Manchmal überfordert sie ihr Gegenüber, denn sie öffnet sich schnell, gibt viel, verlangt aber auch viel. Dahinter steckt die Angst, verlassen zu werden. Besonders in Stresssituationen sucht sie viel Aufmerksamkeit. Unsicher-vermeidende Menschen hingegen schalten gewissermaßen ihr Bindungssystem ab. Nehmen wir als Beispiel den fiktiven Paul. Paul verleugnet sein Bedürfnis nach Nähe. Er betont seine Unabhängigkeit und löst alle Probleme allein. Soziale Distanz hilft ihm, ein Gefühl der Kontrolle herzustellen – die schützt ihn, weil er in der Vergangenheit enttäuscht wurde, als er sich verletzlich zeigte. Allerdings hat die Distanzierung ihre Kosten. „Die Vermeidung von engen Beziehungen gibt nur eine Scheinsicherheit“, sagt der Freiburger Psychotherapeut Wanja Kunstleben. „Sie kann die Komfortzone sichern und sich erst mal gut anfühlen, doch man muss viel Energie investieren, um diesen Zustand zu halten. Darin gibt es keine Entspannung.“

Neue Aushandlungen

In der Bindungsforschung galt lange Zeit (und es wird teilweise immer noch proklamiert): Der in der Kindheit in Beziehung zu den Eltern erworbene Bindungsstil überträgt sich zum einen ins Erwachsenenalter und zum anderen auf andere Beziehungen als die zu den Eltern, etwa auf den Partner. Wer als Kind unsicher an seine Mutter gebunden war, wäre demnach als 50-Jähriger unsicher an seine Partnerin gebunden – so die traditionelle Idee. Sehr entlastend ist nun, dass neuere Studien diesen Automatismus widerlegen. In einer umfassenden Metaanalyse aus dem Jahr 2013 untersuchten Psychologinnen rund um Martin Pinquart die Stabilität von Bindungsstilen. Sie betrachteten die Entwicklung von Kleinkindern bis zu jungen Erwachsenen. Das Ergebnis: Kurzfristig war die Bindungsart vergleichsweise konstant, doch je mehr Zeit verging, desto stärker veränderte sie sich. Nach 15 Jahren fanden die Forscher keine Stabilität mehr. Man kann also als 13-Jähriger unsicher-ängstlich an seine Eltern gebunden sein und als 28-Jähriger sicher an seinen Partner.

Die zweite Säule – dass man so wie an die Eltern auch an andere Menschen gebunden sei – brachte der Persönlichkeitspsychologe Jens Asendorpf ins Wanken: Er befragte Personen nach ihrem Bindungsstil zu verschiedenen Personen, also zu Eltern, Gleichaltrigen oder der Partnerin. Es zeigte sich, dass die Beziehungen sehr unterschiedlich sein können. Man kann unsicher an seinen Vater gebunden sein und sicher an seinen Freund. Laut Asendorpf ist das nicht verwunderlich, denn an einer Beziehung sind zwei Persönlichkeiten beteiligt, die ihr Verhältnis zusammen entwickeln. Mit jeder neuen Beziehung wird es auf Grundlage der vorhandenen Erfahrungen der beiden neu ausgehandelt. Der vermeidende Paul etwa könnte mit einem sicher gebundenen Freund erfahren haben, wie entlastend es ist, seine Schwächen nicht zu verstecken und sich mehr und mehr zu offenbaren. Doch dafür braucht es Reflexion und neue Erfahrungen. Für sie müssen wir offen sein, wir müssen sie zulassen, auch wenn wir uns damit verletzlich machen.

Die Kraft der Verletzlichkeit

Brené Brown, Professorin für soziale Arbeit an der Universität von Houston, wurde durch ihr Plädoyer für mehr Verletzlichkeit weltbekannt. Ihr TED-Talk The Power of Vulnerability – ein im Jahr 2010 veröffentlichter Onlinevortrag – wurde zum großen Erfolg. Er ist mittlerweile über 50 Millionen Mal abgerufen worden. In ihrem dazu passenden Buch Verletzlichkeit macht stark beschreibt Brown, weshalb es unerlässlich ist, Verletzlichkeit zu zeigen, wenn wir uns anderen Menschen zugehörig fühlen und Mitgefühl erfahren wollen.

Und Brown erklärt, was uns davon abhält: die Angst vor Ausgrenzung, „die Angst, dass etwas, was wir getan oder unterlassen haben, ein Ideal, dem wir nicht entsprochen, oder ein Ziel, das wir nicht erreicht haben, uns der Verbundenheit mit anderen unwürdig macht“ – kurz: Scham (siehe auch Kasten auf S. 22). Sie flüstert uns nicht nur nach peinlichen Ausrutschern ein, was für eine Idiotin wir doch sind. Sie erzählt uns permanent, dass wir nichts Liebenswertes an uns haben, und drängt uns zu Strategien, die echte Beziehungen untergraben. Brown bezeichnet diese Muster, die uns davon abhalten, uns verletzlich zu zeigen, als Schutzschilder. Dazu zählt sie etwa: 

  • Perfektionismus: Diese Haltung ist laut Brown selbstzer­störerisch, weil es Perfektion nicht geben kann, egal wie viel Zeit und Energie wir auf den Versuch verwenden. Unser zwangsläufiges Scheitern hinterlässt das Gefühl, dass wir nicht gut genug sind und uns immer weiter anstrengen müssen. Im Glauben, dass wir sind, was wir leisten, trifft Kritik immer den Kern unserer Person. Umso mehr bemühen sich Perfektionisten, ihre Schwachstellen zu verbergen und ihre Außenwirkung zu kontrollieren. Damit verleugnen und verstecken sie allerdings jegliche Unzulänglichkeit – auf Kosten ihres Selbstwertgefühls. Denn das eigene Verhalten hält andere davon ab, das echte, authentische Selbst wahrzunehmen.

  • Emotionale Betäubung: Wenn die Einsamkeit mit dem Glauben einhergeht, dass wir es nicht verdient haben, enge Beziehungen einzugehen, erzeugt das einen Schmerz, den viele unterdrücken wollen. Strategien wie übermäßige Arbeit, exzessiver Konsum von Alkohol, maßloser Gebrauch von Smartphones oder sozialen Medien, übertrieben viel Sport oder Essen überdecken zwar kurzzeitig den sozialen Hunger, lassen aber auch unsere Fähigkeit abstumpfen, Verbundenheit und Empathie zu empfinden. Denn wir können Emotionen nicht selektiv betäuben, meint Brown. „Wer das Dunkle betäubt, betäubt auch das Licht.“ Im Versuch, dem stechenden Gefühl von Unzulänglichkeit und Scham die Spitze zu nehmen, hat emotionale Betäubung deshalb einen hohen Preis.

  • Zynismus, Kritik und Status: Pauschale Herabsetzungen, persönliche Attacken, bissiger Humor und unbegründete Unterstellungen sind Facetten eines aggressiven Schutzschildes gegen Nähe und Verletzlichkeit. Es sind Waffen, „die nicht nur die eigene Verletzlichkeit fernhalten sollen, sondern mit denen man auch anderen wehtun kann, die verletzlich sind und dadurch Unbehagen in uns auslösen“, so Brown. Denn sie halten uns den Spiegel vor, in dem wir die eigenen Ängste und Schamgefühle sehen. Auch hinter Titeln, Positionen und Statussymbolen können sich manche Menschen gut verstecken. Sie haben große Angst, die Maske abzunehmen, weil niemand weiß, wie es darunter aussieht. Manchmal nicht einmal sie selbst.

  • Täterin oder Opfer: Ein weiteres Schutzschild ist eine Weltsicht, die Menschen in zwei Klassen einteilt: Opfer, die immerzu ausgenutzt werden, und Täter, die sich permanent davor fürchten, zum Opfer gemacht zu werden, und deshalb die Kontrolle behalten wollen. Diese Perspektive wird laut Brown von einem Gefühl des Mangels und der Angst geschürt. Wer in den Kategorien Macht und Ohnmacht denkt, erlaubt sich keinerlei Verletzlichkeit und damit auch keine Verbundenheit. Er könnte dadurch ja selbst zum Opfer werden. Mit Dominanz, Macht und Kontrolle wird versucht, die eigene, vermeintlich überlegene Position zu behaupten.

  • Übermäßige Offenheit: Manche Menschen hingegen setzen Verletzlichkeit als Strategie ein, um so schnell es geht möglichst große Nähe herzustellen. Die gnadenlose Offenheit und of intimen Informationen überfordern jedoch das Gegenüber und lösen das Gegenteil der erhofften Reaktion aus. Die anderen ziehen sich zurück und schotten sich ab, mit der Folge, dass die Scham und die Gefühle der Unverbundenheit beim Abgewiesenen noch größer werden.

Browns anschauliche Beschreibungen finden auf einer anderen Ebene statt als die Bindungsstile, aber beide beschreiben ungünstige Muster. Und deren Einfluss kann man begrenzen, indem man sie immer wieder wahrnimmt und hinterfragt. Wer beispielsweise ängstlich gebunden ist und beständig denkt, verlassen zu werden, kann sich bei einer neuen Bekanntschaft fragen, wie es früher war. Er erinnert sich, dass er diese Ängste auch früher hatte – und dass sie unbegründet waren. Mit diesem Wissen kann er sich beruhigen, indem er verinnerlicht: „Ja, ich habe diese Ängste, aber sie haben wahrscheinlich eher etwas mit mir zu tun als mit dem anderen.“ Ein anderes Beispiel: Wer weiß, dass er dazu neigt, sich emotional zu betäuben, zum Beispiel mit übertrieben viel Sport, kann sich beim nächsten Impuls, loszurennen, stattdessen die Zeit nehmen, in sich hineinzuspüren. Er kann sich fragen, ob er gerade vor etwas wegrennen möchte.

Primäre und sekundäre Gefühle

Eine Methode, die ebenfalls darauf abzielt, das eigentliche Gefühl ernst zu nehmen, empfiehlt Paartherapeutin und Autorin Ursula Nuber Paaren, die sich wieder näherkommen wollen. In ihrem Buch Der Bindungseffekt erklärt sie, wie man den Unterschied zwischen primären und sekundären Gefühlen erkennen und zu den primären gelangen kann. Dabei sind primäre Gefühle ursprüngliche Empfindungen, in diesem Kontext unerfüllte Bindungswünsche, und sekundäre solche, die man entwickelt hat, um die primären, die einen oft verletzlicher machen, zu überdecken. Unsicher gebundene Menschen hätten oft gelernt, ihre Bedürfnisse nach Nähe hinter vermeintlich sachlichen, vernünftigen Argumenten zu verstecken. Ein Beispiel ist ein Mann, der traurig ist, dass seine Partnerin spät nach Hause kommt (primäres Gefühl). Statt das zu sagen, schimpft er, dass das Essen kalt geworden sei. Der Ärger ist in diesem Fall nur das sekundäre Gefühl. Solange er nur ihn ausdrückt, wird seine Partnerin ihn nicht verstehen und die Stimmung schlecht sein. Doch wenn er sich traut, sein echtes Gefühl auszusprechen, können die beiden sich näherkommen.

Verbundenheit mit anderen erreichen wir aber nicht nur dadurch, dass wir uns zeigen und öffnen, wir müssen auch offen für den anderen sein. So sagt etwa die Karlsruher Psychotherapeutin Sabine Reinartz: Für intensive Begegnungen solle man bereit sein, sich auch auf Unvorhergesehenes einzulassen – und fähig dazu, die eigenen Denkkategorien und Konzepte zu erweitern: „Es braucht eine Offenheit für die Entwicklungsschritte des anderen und die Bereitschaft, das Verhalten oder die Sichtweise des Gegenübers als Anstoß für die eigene Entwicklung zu begreifen.“

Als sich Julia Mertens Leben änderte, konnte sie diese Offenheit nicht finden. Zusammen mit einem Psychotherapeuten schaute sie sich ihr Umfeld genauer an. „Es ging in meinem Freundeskreis viel um Statussymbole. Da wurde viel geurteilt und viel verglichen“, erzählt sie. „Hauptsache, man selbst konnte sich zu den Gewinnern zählen.“ Sie selbst war in der Runde immer eine der „Rampensäue“, immer vorne dabei, „immer ein bisschen drüber“. Erst als diese Rolle nach der Trennung nicht mehr passte, merkte Julia Mertens: Die war nie echt. „Zu verstehen, dass ich mich immer verstellt und nie ganz wohlgefühlt hatte, das war ganz schön heftig, aber auch befreiend.“

Selbstvertrauen ist Voraussetzung

Für erfüllende Beziehungen braucht es eben nicht nur ein passendes Gegenüber. Der Ausgangspunkt liegt in uns selbst, in unserem Selbstvertrauen. Psychotherapeutin Sabine Reinartz drückt dies so aus: „Ich glaube, dass innere Freiheit die Grundvoraussetzung von wirklich engem Kontakt ist. Erst wenn es gelingt, in sich selbst eine Heimat zu finden, kann eine tiefe Verbundenheit mit anderen entstehen. Ohne dass die Nähe ständig bewiesen und im Außen gelebt werden muss, ohne Abhängigkeit und ohne Manipulation.“ Nur wenn unser Selbstwertgefühl nicht bei jeder Interaktion auf dem Spiel steht, können wir uns wirklich zeigen. Nur wenn wir unsere Geschichte mit all ihren Facetten annehmen, können wir authentisch sein. Dazu gehört, Risse, Schrammen und Unzulänglichkeiten zu akzeptieren. Wer Zugehörigkeit erfahren will, muss daran glauben, dass er sie verdient. Was die Psychotherapeutin mit ihren Klientinnen erlebt, wird durch die Wissenschaft belegt: Auch Franz Petermann, der Vertrauensexperte, sah neben Einfühlungsvermögen das Selbstvertrauen als Voraussetzung für Vertrauen.

Petermann verstand dieses im Sinne einer generalisierten Selbstwirksamkeit. Das Konzept beschreibt, dass man überzeugt ist, schwierige Situationen aus eigener Kraft bewältigen zu können – eine Art Allzweckwaffe vieler Verhaltenstherapeuten, besonders gegen Depressionen. Wenn wir uns selbstwirksam fühlen, bringen wir die Ausdauer und Anstrengungsbereitschaft auf, die wir brauchen, um unsere Ziele zu erreichen. Anders als wenn wir an unseren Fähigkeiten zweifeln und unsere Kräfte und die Aufmerksamkeit mit den Unsicherheiten beschäftigt sind. Selbstwirksamkeit können wir zu einem Teil auch erlernen, sie wächst, wenn wir spüren, dass unser Handeln etwas bringt. Geht man immer wieder bewältigbare Aufgaben an und löst diese, steigert sich die Zuversicht in die eigenen Fähigkeiten. Man glaubt an seine eigene Kraft.

Die Lage ist also etwas verzwickt: Einerseits wagen wir erst, uns zu öffnen, wenn wir genügend Selbstvertrauen haben, andererseits wächst dieses mit jedem Mal, da wir uns gezeigt haben und ein gutes Gefühl uns dafür belohnt. Am besten also, man probiert es immer wieder – und rudert, wenn nötig, auch wieder ein Stückchen zurück. Um Sicherheit zu gewinnen, kann man darauf achten, wie der andere reagiert, und nicht hemmungslos alles erzählen, was einen gerade belastet. Man kann wahrnehmen, wie viel sein Gegenüber preisgibt und sich auf ein ähnliches Tempo einlassen. Unvermeidlich jedoch wird man auch Enttäuschungen und Zurückweisungen erleben, denn auf der anderen Seite steht ein Mensch, der andere Bedürfnisse haben kann. Umso wichtiger ist es, in solchen Situationen liebevoll und fürsorglich mit sich selbst zu sein, seine Scham zwar anzuerkennen, aber sich nicht in sie hineinfallen zu lassen, sondern sich um sich zu sorgen, zum Beispiel mit Aktivitäten, die einem guttun. Diese Mittel zur Selbstfürsorge sind nötig. Denn daran, dass es sich lohnt, Nähe zu wagen, besteht kein Zweifel. Nicht zuletzt, dass wir eine solche Vorsicht davor haben, zeigt, wie unfassbar wichtig sie ist.

Schamresilienz

Scham ist der Grund, weshalb wir uns anderen nicht öffnen, schreibt Brené Brown in ihrem Buch Verletzlichkeit macht stark. Hinter der Scham stehe „das äußerst schmerzhafte Gefühl […], zu glauben, dass wir fehlerhaft sind und deshalb keine Liebe und Zugehörigkeit verdienen“. Weil Schamresistenz nicht möglich ist, plädiert sie dafür, Schamresilienz zu entwickeln: „die Fähigkeit, authentisch zu bleiben, wenn wir Scham empfinden, die Erfahrung durchzustehen, ohne unsere Werte zu opfern, und aus der Erfahrung von Scham mit mehr Mut, Mitgefühl und Verbundenheit hervorzugehen“. Diese Tipps helfen dabei:

  • Die Scham verstehen Anhand körperlicher Signale erkennen wir, wann Scham auftaucht. Brown empfiehlt, sich „durch sie hindurch zu fühlen“, um herausfinden, welche Botschaften oder Erwartungen sie mit sich bringt.

  • Ein kritisches Bewusstsein entwickeln Oft will uns die Scham vermitteln, dass Unvollkommenheit gleich­bedeutend ist mit Unzuläng­lichkeit. Ein Irrglaube.

  • Die Hand ausstrecken Nur wenn wir unsere Geschichte und unser Empfinden mit anderen Menschen teilen, können wir Empathie erleben und Verbundenheit fühlen. Öffnen wir uns anderen gegenüber, lassen wir uns nicht mehr von der Scham definieren.

  • Darüber sprechen Der beste Weg, Scham zu bekämpfen und Selbstakzeptanz zu erreichen, ist, sich einer vertrauensvollen Person mitzuteilen. Auch mit uns selbst sollten wir in einen Dialog treten: so, als würden wir jemanden trösten, der uns sehr wichtig ist.

Zum Weiterlesen

Brené Brown: Verletzlichkeit macht stark. Wie wir unsere Schutzmechanismen aufgeben und innerlich reich werden. Goldmann, München 2017

Jens Asendorpf u.a.: Psychologie der Beziehung. Hogrefe, Bern 2017

Ursula Nuber: Der Bindungseffekt. Piper, München 2020

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2021: Sehnsucht nach Verbundenheit