Räume der Seele

Wie schließen wir von der Wohnung eines Menschen auf seine Persönlichkeit? Was erzählt die Architektur, die uns umgibt, über uns selbst?

Judith Utz und ihre Töchter Carlotta und Selma, fotografiert am 09.10.2019 in ihrer Wohnung in Berlin-Neukölln.
Eine Mutter mit ihren zwei Kindern sind am Klavier in ihrer Wohnung, die ihre Persönlichkeit verkörpert. © Steffen Roth

Langsam fährt die Kamera an einer Fensterfront entlang, an Glas, Stahl und Beton. Es kommt eine puristische Inszenierung ins Bild: wenige, aber exquisite Designmöbel, eine Wand aus Sichtbeton, geschmückt mit einem überdimensionalen expressiven Kunstwerk. Dann schwenkt die Kamera auf den Hausherrn, der regungslos aus dem Fenster starrt. Dem geübten Zuschauer ist sofort klar: Der hat Dreck am Stecken! Jemand, der sich in einer so kargen Umgebung wohlfühlt, geht auch über Leichen! Vielleicht ist er ja…

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Krimis kennt. Im Glashaus wohnt meist der Böse. Ob bei James Bond oder im Tatort – spektakuläre Baukunst paart sich in aller Regel mit miesem Charakter. „Weshalb denken wir bei moderner Architektur sofort an kapitalistische Dekadenz?“, fragt der Architekturkritiker Alexander Gutzmer. „Und weshalb findet bei uns im Kopf eine Verknüpfung von Stahlarchitektur und Verbrechen statt?“

Skrupellosigkeit in Stahl

Beim Blick auf die Drehorte in Deutschlands beliebtester Krimireihe werde schnell deutlich, dass „die Täter immer in modernistischen Villen wohnen, die Guten hingegen gerne in wild zusammengestückelten, aber sympathisch wirkenden Vorstadthäuschen“.

Das ist kein Zufall. Architektonische Impressionen werden strategisch eingesetzt. „Eine Filmszene muss den Charakter der Darsteller und die Stimmung der Situation schnell mit Bildern auf den Punkt bringen“, sagt der Location Scout Stefan Möller, der Drehorte für Filme ausfindig macht. „Härte, Kälte und Skrupellosigkeit lassen sich in einer Umgebung mit viel Beton, Stahl oder Glas sehr gut vermitteln – dafür sind moderne Häuser sehr geeignete Drehorte.“

Häuser und Wohnungen sprechen zu uns. Wir erleben sie als freundlich oder distanziert, zurückhaltend oder expressiv, unscheinbar oder extravagant, naturverbunden oder technikverliebt, elitär oder traditionsbewusst. Und dann schließen wir von der Architektur und ihrer Einrichtung auf die Bewohner. So wie seine Kleidung nehmen wir die Lebenswelt eines Menschen ganz intuitiv als einen Ausdruck seiner Persönlichkeit wahr.

Hecke als Einladung

Und tatsächlich ist die Verbindung von Identität und Wohnumgebung eng. Nicht zufällig wird die Wohnung unsere dritte Haut genannt. „Das Haus ist ein Spiegel unseres Selbst“, sagt die Architekturprofessorin Clare Cooper Marcus, nämlich „wenn wir lernen zu interpretieren, was wir sehen, wenn wir erfassen, was es bedeutet, und wenn wir umsetzen, was es uns sagen will“.

Die Geschichte, die ein Haus, eine Wohnung erzählt, beginnt bereits an der Grundstücksgrenze. Wenn eine bunt gemischte Hecke den Garten mit seinen Staudenbeeten einfasst und an der Haustür ein jahreszeitlich geschmückter Kranz hängt, erleben wir das als einladende Geste der Bewohner. Wenn stattdessen ein hoher Gartenzaun kaum Blicke auf das Gebäude dahinter freigibt, empfinden wir intensiv, dass uns jemand auf Distanz halten will.

Reaktion auf den Raum

Je näher wir kommen, je tiefer wir in die Welt der Bewohner eintauchen, umso zahlreicher werden die Indizien: die Größe der Fenster und die Art ihrer Dekoration, die Helligkeit im Entree, die Dichte der Schuhe dort, der Zustand von Fußböden und Wänden, der Stil und die Anordnung der Möbel, die Art und Intensität der Dekoration, die Zahl der Sitzplätze, die für Gäste vorgesehen sind, der Ausblick – schlichtweg jedes Detail und seine Wirkung im Zusammenspiel mit allen anderen fügt sich zu einer Atmosphäre, die wir in Sekundenbruchteilen aufnehmen.

Bevor wir noch darüber nachdenken konnten, gibt unser Körper schon Nachricht: „Hier will ich ganz schnell wieder weg!“ Oder: „Hier kann ich bleiben.“ Der Raum löst eine Reaktion des vegetativen Nervensystems aus, er beeinflusst Atemfrequenz, Puls, Blutdruck und Hautwiderstand. Wie intim die Beziehung unseres Körpers zum umgebenden Raum ist, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass schwere Erkrankungen zu einer veränderten Raumwahrnehmung führen können.

Neid, Abscheu, Identifikation

„Bevor es ein Bild gibt, haben wir eine emotionale Grundhaltung zum Raum“, sagt Axel Buether, Professor für Didaktik der visuellen Kommunikation. „Wir empfinden, in welcher Haltung der Planer, der Gestalter, der Bewohner sich dieses Raums angenommen hat. Ob sich jemand darum bemüht hat, dass wir uns hier wohlfühlen. Oder ob er diese Achtlosigkeit atmet, die wir oft erleben, wenn wir in ein Hotel- oder Krankenzimmer kommen. Noch bevor wir uns umgeschaut haben, erzählt der Raum uns das.“ Das funktioniere über den Thalamus, die Sinnespforte des Gehirns, wo die Eindrücke gefiltert und vorsortiert werden, also bevor die Wahrnehmung überhaupt im Bewusstsein ankommen kann.

Die Resonanz, die wir erleben, ist naturgemäß eine individuelle, weiß Tanja Vollmer, Professorin für Architekturpsychologie an der Technischen Universität München. „Wenn man den Wohnraum eines anderen betritt und ihn beurteilt, dann sieht man ihn immer durch die eigene Brille. Man setzt sich selbst in Relation zu dem, was man dort erlebt. Wenn ich etwa eine Wohnung sehe, die stark vom Statusbewusstsein eines Menschen geprägt ist, dann provoziert das mein eigenes Empfinden: Neid, Abscheu oder Identifikation.“ Und so ziehen wir über das Erleben der Wohnungen anderer Menschen Rückschlüsse auf ihr Wesen, auf ihre Verhaltensweisen.

Persönlichkeit im Raum

Wir können das ziemlich gut. Dies ergab unter anderem eine schon klassische Studie der University of Texas. Der Psychologe Samuel Gosling und sein Team untersuchten, ob Beobachter, die sich das Zimmer einer ihnen fremden Person ansehen, allein anhand des Augenscheins auf deren Eigenschaften schließen können. Dabei ging es um die Einschätzung der fünf zentralen Persönlichkeitsdimensionen, der sogenann­ten Big Five: Extraversion, Verträglichkeit, emotionale Stabilität, Offenheit für Neues und Gewissenhaftigkeit.

Zunächst schätzten sich die Zimmerbewohner selbst ein, dann wurden enge Freunde befragt und schließlich hatten fremde Beobachter jeweils 15 Minuten Zeit, die Zimmer zu erkunden und zu beurteilen, wie originell, gesellig oder organisiert der jeweilige Bewohner wohl sei. 

Die Treffsicherheit der Urteile war hoch. Sie variierte je nach Eigenschaft. Hinsichtlich der Extraversion und der Verträglichkeit stimmten die Einschätzungen der Freunde mit den Selbsturteilen der Bewohner stärker überein. Bei den Persönlichkeitsdimensionen emotionale Stabilität, Offenheit für Neues und Gewissenhaftigkeit waren die Ergebnisse der unbeteiligten Beobachter sogar noch präziser.

Intention, Überprüfung, Verhalten

Wie gelingt uns diese Decodierung der Persönlichkeit? Wir durchlaufen einen Prozess in drei Ebenen. In der ersten erspüren wir im Moment die emotionale Grundhaltung: die Intention, mit der eine Person diesen Raum gestaltet hat – ob sie gerne Besuch empfängt, sich hierher zurückzieht oder andere mit Statussymbolen beeindrucken will.

In der zweiten Ebene nehmen wir eine rationale Überprüfung vor: Welche Spuren der Nutzung können wir erkennen? Gibt es Bücher, CDs, technische Geräte, Familienfotos, Sportpokale, Stapel gelesener Zeitungen – oder eben nichts davon? Ist alles penibel aufgeräumt oder liegen Socken herum? Hieraus ziehen wir zahlreiche Erkenntnisse.

In der dritten Ebene schließlich fühlen wir uns animiert zu einem Verhalten: Wollen wir, bevor wir den Raum betreten, die Schuhe ausziehen, um den hellen Teppich nicht zu beschmutzen, uns an einen Tisch setzen, ein Gespräch beginnen oder schüchtern schweigen? Legt uns der Raum nahe, uns vertrauensvoll einzurichten, in Alarmbereitschaft zu bleiben oder auf dem Absatz kehrtzumachen? „Jeder Raum erzählt uns, was wir mit ihm tun sollen“, sagt Axel Buether, „er spricht zu uns und gibt uns eine Gebrauchsanweisung für seine Nutzung.“

Irritation und Identifikation

Das kann eine irritierende Erfahrung sein, wie Buether erzählt: „Wenn manche Menschen Kinder bekommen, dann verwandelt sich die ganze Wohnung in eine Spieloase. Man kann sich kaum noch auf ein Sofa setzen, weil überall Spielzeug herumliegt, und wundert sich, wie stark sich die Identifikation mit dem Lebensgefühl ‚wir sind jetzt Familie mit kleinen Kindern‘ ausdrückt. Dem ordnet sich alles andere unter. In der Regel auch die Kommunikation. Ein eigenständiges Gespräch unter Erwachsenen ist hier kaum möglich, die Kinder dürfen jederzeit unterbrechen – und so sieht es dort auch aus.“

Unsere Wahrnehmungen verdichten sich zu einem Bild der Persönlichkeiten derjenigen, die einen Raum gestaltet haben. Ihre Haltungen offenbaren sich, ihre Werte, ihr Lebensstil, ihre soziale Stellung, sogar ihre politischen Präferenzen. Das ist soziologisch gut erforscht. Seit Mitte der 1980er Jahre untersucht das privatwirtschaftliche Sinus-Institut in Heidelberg die Lebenswelten und die Alltagsästhetik der Deutschen.

„Wir hatten die Idee, dass wir unsere Gesellschaft so betrachten müssten, wie Ethnologen das mit indigenen Völkern tun, um den Alltag der Menschen besser zu verstehen“, erzählt der Geschäftsführer Berthold Bodo Flaig: „Wie sieht es bei den Deutschen aus, wie leben sie, wie wohnen sie – und warum?“ Man stützt sich dabei auf eine Einteilung der Gesellschaft in zehn soziale Milieus, die immer wieder aktualisiert wurde, sich aber als erstaunlich stabil erwiesen hat.

Motive des Wohnens

„Es gibt einen sehr engen Zusammenhang zwischen der Wohnwelt und der Grundorientierung der Menschen“, sagt Flaig. „Zu den Werten und Lebensstilen gibt es jeweils alltagsästhetische Entsprechungen – wir nennen sie ästhetische Grundmotive –, die den grundlegenden Wertpräferenzen entsprechen.“

Das Motiv „heile Welt“ etwa ist weit verbreitet, mit einem Schwerpunkt im Milieu „bürgerliche Mitte“. Es zeigt einen Rückzug in private Idyllen, steht für das Bedürfnis nach Geborgenheit, Harmonie und Wärme und ist Ausdruck einer Sehnsucht, im Privaten ein Reservat des Schönen inmitten des hässlichen Alltags zu bilden.

Das typische Symbol dafür: der Kranz an der Haustür. „In einer Wohnung dieses Milieus findet man außerdem häufig Trockenblumen-Arrangements oder Terrakottafiguren in Kombination mit vielen Grünpflanzen“, hat Berthold Flaig beobachtet. Die Bewohner schätzen das Praktische und Pflegeleichte – und drücken damit unbewusst nicht nur ihren Wunsch nach gesicherten und harmonischen Verhältnissen aus, sondern auch wachsende Ängste vor einem sozialen Abstieg.

Symbol: Sichtbeton

Im starken Gegensatz dazu die extravertierte Inszenierung von cooler Technik, Stahl und Glas im Milieu der „Performer“. Das Selbstverständnis als Avantgarde drückt sich in einem durchgestylten Modernismus aus, der jede Annäherung an kleinbürgerliche Muster vermeidet. Das Symbol: futuristische Designobjekte und Sichtbeton. Hierin zeigt sich eine neoliberale, effizienzorientierte Leistungselite, wie sich die Performer selbst sehen. Ihr Hang zur Repräsentation dokumentiert sich in Häusern, die sich geradezu programmatisch absetzen von denen der Nachbarschaft.

Diese Haltung der Performer kommt bei vielen Menschen anderer Milieus nicht gut an – weswegen gerade ihre Lebenswelt von Tatort-Regisseuren so gerne als Schauplatz von Verbrechen genutzt wird. Hier würden Klischees bedient und Vorurteile befriedigt, beschwerte sich die Süddeutsche Zeitung. „Der Zuschauer soll denken: Hart, kühl, herzlos, der war’s bestimmt. Verdient hätte er es jedenfalls.“

Keine Märchen für Teenager

Das ist der Grund, warum über Architektur oft so emotional und heftig gestritten wird: weil wir hinter manchen Fassaden Charaktere vermuten, deren Werte und Visionen wir ablehnen. Die Ungleichheit der Haltungen und Lebensstile wird in dem Moment spürbar, in dem wir ein Haus sehen, sich eine Wohnungstür öffnet und wir in uns eine Bedrängnis, vielleicht sogar einen Fluchtinstinkt wahrnehmen. Soziologen haben bereits den Begriff „Ekelschranke“ für die Grenzen zwischen weit voneinander entfernten Milieus geprägt.

Aber wovor nehmen wir da Reißaus: vor dem sozialen Milieu, den Haltungen, die wir ihm zurechnen – oder tatsächlich vor der Persönlichkeit der Bewohner, ihrem Selbst, das sich hier ausprägt? In welchem Zusammenhang stehen sie überhaupt? „Die Raumwahrnehmung jedes Menschen ist entwicklungspsychologisch geprägt und damit abhängig von körperlichen und geistigen Faktoren des Individuums“, sagt Axel Buether.

Dazu kommen kulturelle, soziale, wirtschaftliche und klimatische Umwelteinflüsse. „Mit der körperlichen und geistigen Entwicklung im Verlauf des Lebens verändert sich die Raumwahrnehmung, sie wird von persönlichen Indikatoren wie Erfahrung und Wissen, Gesundheit und Krankheit, von Erfolgen, Misserfolgen, Neigungen, Abneigungen und Interessen beeinflusst. Menschen sind nicht nur verschieden“, fasst Buether zusammen, „sie verändern sich zudem im lebenslangen Prozess der Individualentwicklung.“ Das findet seinen Niederschlag in den Wohnumgebungen, die wir gestalten. 

Persönlichkeit und Raumbedürfnis

Die Basis wird in früher Kindheit geprägt. Wir streben nach dem, was uns vertraut ist. Vor allem, wenn wir diese Zeit als positiv erlebt haben, entsteht zu der Lebenswelt, in der wir aufgewachsen sind, eine Anhänglichkeit, die sehr stabil sein kann. Zumal, wenn sie unbewusst wirkt. Trotzdem ändern sich, wenn wir heranwachsen, die Befindlichkeiten und Interessen und damit auch das Raumbedürfnis. Wir erleben, dass wir einen anderen Rahmen für unsere sich entwickelnde Persönlichkeit brauchen.

Wie grundlegend dieses Bedürfnis ist, zeigt eine amerikanische Studie über die Entwicklung und Befindlichkeiten von Kindern und Jugendlichen als Patienten von Kinderkliniken. Diese sind in den USA meist mit Märchenmotiven dekoriert, in der Regel von Disney – dabei sind viele der Patienten nicht Kinder, sondern Jugendliche. „Die zeigen dann regressives Verhalten“, berichtet die Architekturpsychologin Tanja Vollmer, „werden übermäßig ängstlich oder aggressiv. Sie finden es scheußlich, in dieser Umgebung zu sein, gerade wenn sie aufgrund chronischer Erkrankungen immer wieder dorthin müssen. Sie verschweigen diese Aufenthalte sogar ihren Peergroups.“

Bemerkenswert: Der erzwungene Aufenthalt in dieser für die Jugendlichen unpassend gestalteten Umgebung führt zu einer messbaren Stagnation ihrer Autonomieentwicklung.

In Stein wiedergeboren

Mit der Pubertät beginnt die Einordnung in das soziale Milieu, dem wir uns zugehörig fühlen wollen – „auch im Wohnen“, sagt Axel Buether. „Es findet eine Neuorientierung statt, und das ist oft nicht die Orientierung der Eltern.“ Der nächste Schritt der Verortung kommt während der Ausbildung. „Ich mache mit Studierenden oft die Übung ‚Entwerft euren eigenen Wohlfühlraum‘“, erzählt Tanja Vollmer, „und dann lasse ich jeweils die Kommilitonen wahrnehmen, ob sie sich dort ebenfalls wohlfühlen würden.

Meist zeigt sich, dass die Studierenden im Sinne eines Zugehörigkeitsgefühls, das in dieser Lebensphase räumlich sichtbar wird, eine ähnliche Gestaltung wählen.“ Sie sei überformt von Erwartungen des Milieus, der Kultur, der Peergroup. Dieser Effekt, sagt Vollmer, scheine ihr über die Jahre zugenommen zu haben – „obwohl wir alle glauben, wir seien ach so individualistisch“. Hier zeigt sich die Macht von Werbung und Social Media.

Axel Buether bestätigt: „Die eigene Färbung, die man noch hat, wenn man zu Hause ausgezogen ist, sich von den Eltern gelöst und etwas ausprobiert hat, wird zurückgedrängt zugunsten einer Umcodierung entsprechend dem Milieu, dem man sich zugehörig fühlen will. Eine unkritische Übernahme der Wohnwelt der Vorfahren gibt es eigentlich nicht mehr.“ Auch das hat sich in Zeiten von Ikea, Facebook und Instagram, der permanenten Anwesenheit von Lebenswelten in Fotos aufgelöst. Architektur und Design werden zum Rollenmodell.

Eine Lebenswelt für das Selbst

Wie schrieb der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi über die unbewussten Vorgänge, die sich in uns bei der Einrichtung einer Wohnung vollziehen: „Wir gestalten Umgebungen als Ausdruck unserer Persönlichkeit. Sie sollen uns sagen, wer wir sind, und zugleich uns als Vorbild dienen für das, was wir sein könnten.“

Vielleicht muss man ein so unabhängiger Geist sein wie Carl Gustav Jung, um sich diesen Mustern zu entziehen und eine Lebenswelt zu schaffen, die wirklich ganz dem eigenen Selbst entspricht. 1923 begann der Begründer der analytischen Psychologie, in Bollingen am Zürichsee einen Wohnturm zu bauen: „Eine Wohnstätte, welche den Urgefühlen des Menschen entspricht“, schrieb er in seinen Erinnerungen. „Sie sollte das Gefühl des Geborgenseins vermitteln – nicht nur im physischen, sondern auch im psychischen Sinne.“

In mehreren Stufen fügte er bis 1955 immer wieder Gebäudeteile an. „Ich baute das Haus in einzelnen Abschnitten und folgte immer nur den jeweiligen konkreten Bedürfnissen. Die inneren Zusammenhänge habe ich mir nie überlegt. Man könnte sagen, dass ich den Turm in einer Art Traum gebaut habe. Erst später sah ich, was entstanden war und dass sich eine sinnvolle Gestalt ergeben hatte: ein Symbol der psychischen Ganzheit.“

C. G. Jung: ein Turm als Ort der Reifung

Faszinierend ist nicht nur die Geschichte an sich: ein berühmter Psychiater baut sich selbst ein Haus, malt die Wände aus, verzichtet auf Elektrizität und hackt das Holz für Herd und Ofen. Beeindruckend ist auch die Deutung dessen, was dieses Bauen für Carl Gustav Jung bedeutete: „Von Anfang an wurde der Turm für mich zu einem Ort der Reifung – ein Mutterschoß oder eine mütterliche Gestalt, in der ich wieder sein konnte, wie ich bin, war und sein werde.

Der Turm gab mir das Gefühl, wie wenn ich in Stein wiedergeboren wäre. Er erschien mir als Verwirklichung des vorher Geahnten und als eine Darstellung der Individuation. […] Das hat in wohltuender Weise auf mich gewirkt, wie ein Jasagen zu meinem Sosein.“ Er fasste zusammen: „In Bollingen bin ich in meinem eigentlichsten Wesen, in dem, was mir entspricht.“

Steht eine Renovierung an? Ein Umzug?

Der Psychiater James Yandell, ehemals Vorsitzender des C.-G.-Jung-Instituts in San Francisco, leitet hieraus den Prozess einer Selbsterkenntnis ab, den jeder erleben kann, der sich der Gestaltung seines Zuhauses bewusst zuwendet: „Wir schaffen unsere unmittelbare Umgebung, betrachten sie und werden von ihr beeinflusst. Wir werden in ihr gespiegelt, sehen, was bisher nicht sichtbar war, und integrieren diese Spiegelungen in unsere Selbstwahrnehmung.“

Tatsächlich können diese Spiegelungen interessante Nachrichten enthalten – nicht nur für andere, auch für uns selbst: wenn wir auf einmal aus einer Alltagstrance aufwachen, unsere Lebenswelt anschauen und sehen, was in den vergangenen Wochen oder Monaten liegengeblieben ist, was dringend repariert werden müsste, was wir schon längst nicht mehr leiden können, aber aus Routine oder Achtlosigkeit an seinem Platz gelassen haben.

Warum fühlen wir uns in einer Wohnung, die jahrelang umsorgend war, auf einmal bedrängt? Was hat dieser Zustand mit unserer aktuellen physischen und psychischen Verfassung zu tun? Steht eine grundlegende Renovierung an? Oder gar ein Umzug? Im Zwiegespräch mit dem Raum bekommen wir Antworten.

Wohnung als Spiegel der Paardynamik

Und die bekommen wir nicht nur als Einzelne, sondern auch als Paar. Das ist ja eine spannende Frage, wenn wir uns in einer Wohnung umschauen: Wessen Selbst spiegelt sich denn hier? Früher galt der Satz „Wer eine gute Frau hat, hat auch ein gemütliches Zuhause“, aber mit dieser patriarchalischen Vorstellung vom Wohnen und Einrichten wollen wir uns zum Glück nicht mehr zufriedengeben. Heute ist die gemeinsame Wohnung also auch ein Spiegel der Paardynamik.

Die neue Freiheit in den Geschlechterbeziehungen macht es nicht unbedingt leichter. Wohnungssuche, Einrichten, erst recht ein Hausbau sind Beziehungsarbeit erster Güte, eine Stunde der Wahrheit für jede Partnerschaft. Hier wird alles geprüft, was eine Beziehung ausmacht: Bindung, Vertrauen, Toleranz, Konfliktfähigkeit, Geduld, Belastbarkeit. So eng, wie das Wohlbefinden in den eigenen vier Wänden mit dem Selbst verbunden ist, wollen natürlich beide Partner ihren Ausdruck finden.

Der Konflikt könne auf sehr unterschiedlichen Ebenen entstehen, schreibt die Architekturprofessorin Clare Cooper Marcus, auch sie an C.G. Jung geschult. „Für manche Paare, die ein gemeinsames Haus bauen, ist weniger die Ästhetik oder das Halten von Ordnung ein Konfliktpunkt, sondern mehr die symbolische Bedeutung, die das Haus für sie hat. Wenn es für den einen vor allem darum geht, seine soziale Stellung zu dokumentieren, dem anderen aber um die Familie, können diese Ziele nur schwer miteinander vereinbar sein.“

Hausbau: Bedürfnisse und Selbstbewusstsein

Eine Erfahrung, die für viele Architekten zum Alltag gehört. „Wir erleben oft bei jungen Paaren, für die wir bauen, dass im Prozess die unterschiedlichen Bedürfnisse deutlicher werden“, erzählt Tanja Vollmer. „Sie starten so verliebt und zuversichtlich in den Bau ihres Hauses, wollen ein Nest bauen, beschwingt an Gemeinschaft denken – und später erleben sie dann, dass es Differenzen darüber gibt, wie jeder seinen eigenen Raum findet.“

Vollmer hat daraus Konsequenzen für den Entwurfsprozess gezogen. „Zunächst mache ich eine Selbstbewusstseinsstärkung. Die Partner sollen getrennt voneinander erarbeiten, wie sie sich ihr zukünftiges Haus vorstellen. Häufig muss ich mir den Vorwurf anhören: ‚Ja, wollen Sie uns jetzt ein gemeinsames Haus bauen oder wollen Sie unsere Ehe zerrütten?‘ Ich erläutere dann erst einmal ausführlich, warum diese Übung zu einem nachhaltig positiven Entwurf für ihr zukünftiges Zuhause und ihre Partnerschaft beiträgt.“

„Wenn ein Paar entdeckt, dass es unterschiedliche Überzeugungen zur Gestaltung oder Bedeutung eines Hauses hat, dann muss das kein unüberwindlicher Graben sein“, beschwichtigt Clare Cooper Marcus. „Das Leben wäre ja so trübe, wenn der Partner einfach nur unser Spiegelbild ist!“ Tatsächlich steckt eine große Chance in dieser Differenz. Im Gestalten des gemeinsamen Zuhauses lernen wir nicht nur unser Selbst wieder ein bisschen besser kennen. Sondern auch das unseres Partners.

Die fünf Grundbedürfnisse des Wohnens

Wohnen ist zentral für unsere Existenz, für unsere physische und psychische Gesundheit. „Die Fähigkeit, die Privatsphäre zu kontrollieren und zu gestalten, ist unverzichtbar für die Identität eines Menschen“, sagt der amerikanische Psychologe Irwin Altman. „Wenn du keine Grenzen ziehen kannst, keine Geheimnisse und keine Rückzugsräume hast, bist du buchstäblich nichts.“ In der berühmten Hierarchie der menschlichen Bedürfnisse, die sein Kollege Abraham Maslow entwickelt hat, sind deswegen alle Stufen mehr oder weniger stark mit der eigenen Wohnung verknüpft.

Übersetzt in die Kategorien, mit denen wir unser Erleben in Privaträumen beschreiben können, sind es fünf Bedürfnisse, die wir erfüllt haben wollen:

  1. Sicherheit
  2. Kommunikation
  3. Intimsphäre
  4. Komfort
  5. Repräsentation

Die Unterschiede in der Gestaltung von Immobilien, die ein Spaziergang durch ein beliebiges Wohnviertel zeigt, basieren nicht etwa auf geschmacklichen Differenzen, sondern auf einer unterschiedlichen Ausprägung dieser Grundbedürfnisse. Und sie können in Konkurrenz zueinander stehen. Öffnet sich ein Haus mit bodentiefen Fenstern zur Umgebung, repräsentiert es einen modernen Lebensstil, bietet aber weniger Schutz und Geborgenheit. Gehen im Wohnbereich Kochen, Essen und Wohnen offenen ineinander über, fördert das die Kommunikation, allerdings oft zulasten der Möglichkeit zu Rückzug in einen intimen persönlichen Raum. SR

Was erzählt meine Wohnung über mich?

„Je mehr Geschichten ich hörte, umso deutlicher wurde mir, dass Menschen bewusst oder unbewusst ihr Zuhause benutzen, um etwas über sich auszudrücken“, schreibt die Architekturprofessorin Clare Cooper Marcus. „Auf der bewuss­ten Ebene ist das nichts Neues. Was viel faszinierender und weniger bekannt ist: dass wir in unserer Wohnumgebung auch Unbewusstes ausdrücken, gerade so wie in Träumen.“ Um diesem Unbewussten auf die Spur zu kommen, entwickelte Marcus eine Methode, die sie der Gestalttherapie entlehnte – und die zum Nachmachen einlädt:

1. Schritt: Ich nehme ein großes Blatt Papier und eine Handvoll Stifte und male auf, welche Gefühle, Stimmungen, Gedanken mich zu meinem Haus oder meiner Wohnung bewegen. Jede Form ist die richtige, einen künstlerischen Anspruch gibt es nicht.

2. Schritt: Ich lege das Papier auf einen Stuhl mir gegenüber und spreche zu der Zeichnung, als sei sie das Haus (die Wohnung), beginnend mit der Einleitung: „Haus, ich empfinde für dich…“

3. Schritt: Es werden – wie in der Gestalttherapie üblich – die Sitze getauscht. Und jetzt spreche ich in der Rolle des Hauses zu mir selbst als Bewohner. Wenn sich ein Gespräch ergibt, kann dieser Rollenwechsel wiederholt werden.

Immer wieder, berichtet Clare Cooper Marcus, entfuhr ihren Gesprächspartnern ein „Oh, mein Gott!“ – und dann kam ihnen eine bedeutende Erkenntnis ins Bewusstsein: warum Robert sich möglichst oft auswärts aufhielt, obwohl er doch die perfekte Wohnung gekauft zu haben schien; warum es um Jean herum immer ungemütlicher wurde und sie ihre Räume schleichend verkommen ließ.

Es kann ausgesprochen spannend sein, diese Übung als Paar zu machen – zunächst jeder für sich allein, um anschließend über die Ergebnisse ins Gespräch zu kommen. Ganz ohne Risiko ist das freilich nicht, denn womöglich kommen Aspekte der Paardynamik, die sich in der Wohnung spiegeln, ins Bewusstsein, die bisher aus gutem Grund nicht zur Sprache gekommen waren. SR

Unsere Wohnung soll uns sagen, wer wir sind. Und uns zeigen, wer wir sein könnten

Weiterführende Literatur

Alexandra Abel, Bernd Rudolf (Hg.): Architektur wahrnehmen. Transcript, Bielefeld 2017

Clare Cooper Marcus: House as a mirror of self. Exploring the deeper meaning of home. Conari Press, Berkeley 1995

Samuel D. Gosling u.a.: A room with a cue: Personality judgments based on offices and bedrooms. Journal of Personality and Social Psychology, 82/3, 2002, 379–398. DOI: 10.1037/0022-3514.­82.3.379

Herbert Reichl: Humane Lebenswelten. Eine Psychologie des Wohnens und des Planens. CreateSpace, North Charleston 2014

Peter Richter (Hg.): Architekturpsychologie. Eine Einführung. Pabst Science Publishers, Lengerich 2009

Tanja C. Vollmer, Gemma Koppen: Die Erkrankung des Raumes. Raumwahrnehmung im Zustand körperlicher Versehrtheit und deren Bedeutung für die Architektur. Herbert Utz, München 2010

„Ich habe das Gefühl, ich muss eine Axt nehmen“

Wenn wir erkranken, verändert sich auch, in welchen Räumen wir uns wohlfühlen. Architekturpsychologin Tanja Vollmer über die Wohnung als erweiterten Identitätsraum

Wenn wir von der Wohnumgebung eines Menschen sprechen, nennen wir sie oft seine „dritte Haut“. Finden Sie den Ausdruck zutreffend?

Ich kenne den Begriff gut, allerdings finde ich den Ausdruck „zweiter Körper“ zutreffender. Wir haben ihn aufgrund der Ergebnisse unserer ersten Studien zum Zusammenhang von Körpererleben und Raumwahrnehmung geprägt. Eine Haut wird zu sehr als eine verschließende Oberfläche gesehen, sie bietet nicht den Raum zum Atmen, den viele in ihrer Wohn­umgebung suchen. Außerdem wird das Bild der Haut nicht der Mehrdimensionalität der Architektur gerecht. Haut bleibt eine Schicht, während der Körper als räumliches Gebilde weit mehr Möglichkeiten für Selbstausdruck bietet.

Sie sprechen von einer sehr engen Verbindung des eigenen Körpergefühls und der räumlichen Umgebung. Gilt das grundsätzlich?

Unser Körper ist der erste Raum, den wir bewohnen. Wir lernen den Mutterleib als unsere Umgebung mit seinen Geräuschen, Gerüchen und Berührungen kennen. Wenn wir ihn verlassen, ist unsere Raumwahrnehmung davon tief geprägt. Sie steht in bleibendem Zusammenhang mit unserem Befinden, und zwar in zwei Richtungen: Zum einen bewerten wir, wie ein Raum auf uns wirkt, über unser Körperempfinden. Zum anderen wirkt unser Befinden auf das Raumerleben als Resonanz. So wird die Wohnung zu unserem erweiterten Intimitätsraum.

Sie sagen: „Die meisten Menschen gehen davon aus, dass die Raumwahrnehmung eine Konstante ist – ob gesund oder krank. Wie wir wissen, ist dies aber nicht der Fall.“ Was meinen Sie damit?

Wenn man sich körperlich schlecht fühlt, hat das Auswirkungen auf das psychische Empfinden. Das Stresserleben steigt, man hat Angst, fühlt sich hilflos und verletzlich. Man wird schutzbedürftiger, wird empfindlicher gegenüber Raumeindrücken und Aspekten wie Licht, Lärm, Gerüchen, Temperatur, Farben, aber auch Formen und sucht verstärkt nach Rückzugs- und Wohlfühlräumen.

Was heißt das konkret?

Als ich in der klinischen Psychologie onkologisch erkrankte Menschen betreute, haben sie in Zusammenhang mit ihren Erkrankungen immer wieder berichtet, wie sie ihren Lebensraum plötzlich als deutlich verändert erleben. Den Raum in der Stadt, aber auch ihren Wohnraum. Es fielen Sätze wie: „Ich habe das Gefühl, ich muss eine Axt nehmen und in meinem Wohnzimmer ein Loch in die Wand schlagen, weil ich dort nicht mehr atmen kann, so eng ist es.“

Das hat mich fasziniert, und ich habe mehrere Studien dazu erarbeitet. Zentral war eine in den Niederlanden. Wir untersuchten darin die Befindlichkeit, das physiologische und psychologische Stress­erleben sowie die Raumwahrnehmung von 393 Patienten mit Krebsdiagnosen. Die Kontrollgruppe wa­ren 191 gesunde Begleitpersonen.

Was war das Ergebnis?

Wir konnten beweisen, dass die Erkrankten ihre Lebensumgebung tatsächlich als verändert wahrnehmen. Nach der Verformung des Körpererlebens durch die Krankheit verformt sich der Raum im Erleben der Menschen. Wir nennen dieses Phänomen „Raumanthropodysmorphie“.

Wie erklären Sie diese Veränderung der Wahrnehmung?

Die Prägung unserer Raumwahrnehmung im Mutterleib macht unseren eigenen Körper zur am stärksten vertrauten Umgebung und gleichzeitig zum kleinsten Raum, den wir bewohnen. Er ist die Schutzhülle zum uns umgebenden Raum. Wenn er verletzt oder krank ist, fällt dieser kleinste Schutzraum weg. Das ist eine so heftige Erkenntnis, sie wirkt auf das Unterbewusstsein wie ein Blitzeinschlag. Wir nehmen die Umgebung, die uns plötzlich näher rückt, verstärkt als bedrohlich wahr.

Wie reagieren wir darauf?

Eigentlich würden wir am liebsten wegrennen vor dem, was gerade passiert, weil es unglaublich bedrängend ist, wenn ein Tumor wächst und uns gleichsam die Luft zum Atmen nimmt. Unsere Fähigkeit, uns selbst von innen zu sehen – wir nennen dies Intro­spektion –, verschärft das Gefühl. Denn im Innern herrscht Dunkelheit. Die einzige Flucht, die wir ergreifen können, ist der Blick nach draußen. Über die Körpergrenzen hinweg schicken wir ihn in eine Außenwelt, die unseren Raum zu vergrößern scheint. Das nennen wir Inkorporation.

„Ein Stück gesundes Terrain hinzugewinnen, wenn es auf dem Schlachtfeld der Krankheit im Körperinneren zu eng wird“ – so begründete mir eine Patientin ihr drängendes Bedürfnis nach Platz und Weitblick. Andere von mir betreute Patientinnen trennten sich sogar von ihren Partnern, weil diese die Veränderungen nicht mittragen wollten und einen Umzug in eine dem Bedürfnis entsprechende Wohnung ablehnten.

Bestehen die Zusammenhänge zwischen Erkrankungen und Bedürfnissen im Raum unabhängig von den Bedürfnissen, die der gesunde Mensch hatte?

Ja, das Bedürfnis der Erkrankten nach Weite und Licht entwickelt sich tatsächlich unabhängig von den vorherigen Wohnbedürfnissen. Das hat unsere erste Studie gezeigt, die wir mit an Brustkrebs erkrankten Frauen erarbeitet haben: Sie waren alle glücklich mit ihren vorherigen Wohnumgebungen, die so divers waren, wie man es sich nur vorstellen kann. Mit der Erkrankung kamen Veränderungen, die sich glichen. Es ging immer um Weiteschaffen, um eine Verminderung von Reizen – dem Gefühl folgend: „Das ist alles zu viel um mich herum“ –, und mehr Licht und Helligkeit. Diese drei Akzente haben wir immer wieder gefunden, unabhängig von der vorherigen Gestaltung.

Ist diese Veränderung stabil?

Das hängt von der Intensität der Erkrankung und der existenziellen Bedrohung ab. Je größer die Bedrängnis, desto länger bleibt die Veränderung erhalten. Die Patient*innen bauen sie in ihre Lebensumgebung ein und behalten den neuen Zustand zumeist bei, weil sie ihn als erleichternd erlebt haben. In Nachfolgeinterviews betonten einige, sie könnten das nie wieder zurückdrehen.

Kann man an der Wohnung generell eine Veränderung der Persönlichkeit ablesen, unabhängig von einer Diagnose wie Krebs?

Auf jeden Fall. Alles, was sich in uns ändert, findet seinen Niederschlag im Körpererleben und entsprechend auch in dem Raum, in dem wir leben. Wenn man dort auf Veränderungen achtet, kann man sehr viel über das innere Erleben und Empfinden eines Menschen lernen.

Also können Veränderungen in der Raumgestaltung auch auf eine Erkrankung der Psyche hinweisen?

Wir müssen vorsichtig sein. Dazu gibt es noch zu wenig Forschung. Wir wissen, dass Depressionen häufig mit dem Bedürfnis nach räumlicher Verkleinerung und Dunkelheit einhergehen, Schizophrenie mit dem Beharren auf einem Status quo, der nicht verändert werden darf. Aber wir können die Wohnung nicht als diagnostisches Instrument einsetzen. Sie ist ein Symptom, nicht mehr. Ich habe häufig Angehörige von Patienten mit der Bitte nach Hause geschickt, genau auf Veränderungen im Umfeld zu achten. Um zu erspüren, ob es da ein psychisches Unwohlsein geben könnte.

Und diese Veränderungen gibt es, zum Beispiel in der Anordnung des sozialen Raums. Plötzlich stehen um den Esstisch in der Wohnküche weniger Stühle als zuvor, die Abstände zwischen ihnen sind größer. Oder das Sofa im Wohnzimmer liegt auf einmal voll mit Kissen, so dass dort kein Platz mehr für Gäste bleibt. Ein interessanter Hinweis ist es auch, wenn sich jemand einen Rückzugsraum einrichtet. Das kann ein Impuls zur Selbstverwirklichung sein, aber auch das Symptom für einen inneren Rückzug. Es lohnt sich, neugierig zu sein.

Tanja C. Vollmer ist Professorin für Architekturpsychologie an der Technischen Universität München. Gemeinsam mit Gemma Koppen führt sie Kopvol, Büro für Architektur und Psychologie mit Sitz in Berlin und Rotterdam

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Räume der Seele: Psychologie Heute 12/2019