Versunken in Geschichtslosigkeit

Immer mehr Menschen leben heute „herkunftsneutral“. Sie haben keine Geschichtskenntnisse und, schlimmer, kein Geschichtsbewusstsein. ​

Eine junge Frau mit einem Schlüssel vor den Augen, ist umgeben von geschichtlichen Ereignissen und versucht ein Bewusstsein für Geschichte zu bekommen
Geschichte: Auch ein Schlüssel zur Selbsterkenntnis © Christian Barthold

In Deutschland wissen heute vier von zehn Schülern nicht, wofür Auschwitz-Birkenau steht, hat eine Umfrage aus dem Jahr 2017 ergeben. Auch bei den Erwachsenen zeichnet sich ein Nachlassen historischer Kenntnisse ab: 2012 war noch 90 Prozent der erwachsenen deutschen Bevölkerung klar, was Ausschwitz-Birkenau war, heute sind es nur noch 86 Prozent. Geht man davon aus, dass dieser Ort schon deshalb bekannt sein müsste, weil er als Inbegriff des Grauens gilt, so dürfte der tatsächliche Verfall an…

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gilt, so dürfte der tatsächliche Verfall an Geschichtsbewusstsein in unseren westlichen Demokratien noch viel eklatanter sein.

Fallen wir aus historischen Zusammenhängen heraus, die die Generationen vor uns noch verinnerlicht hatten? Droht uns eine neue Form von kollektiver Kontextlosigkeit, die sich an andere, schon bestehende reiht? Das moderne Individuum verortet sich immer seltener in konkreten Zusammenhängen, etwa in sozialen oder politischen wie Vereinen und Parteien – und erst recht nicht mehr in traditionellen Zusammenhängen. Und so sind nicht nur die guten alten Heimatvereine landauf, landab im Aussterben, sondern auch die einst populären „Geschichts- und Altertumsvereine“, wie sie vor 150 Jahren überall in Deutschland als Ausdruck eines historischen Bewusstseins gegründet worden waren. Geschichte selbst scheint zu etwas Antiquarischem zu werden: nur noch etwas für Liebhaber. Tatsächlich leben wir immer weniger in einem Geist des Bewahrens und Erinnerns und immer mehr in einer Kultur, die Geschichte ignoriert. Oder wenn sie sie zwischendurch einmal thematisiert, dann oft nur noch kommerziell: als folkloristisches Event, als Stoff für Fantasy-Romane.

Geschichtslosigkeit ist kein Gegenwartsphänomen. Sie greift immer wieder um sich, zumal in ­Epochen, in denen die Motive, sich die eigene Geschichte bewusstzumachen und sie im Gedächtnis zu bewahren, in ihrer verpflichtenden Kraft nachlassen oder sich scheinbar nicht mehr von selbst ergeben. Glaubt man etwa Theodor Lessing – selbst ein lange vergessener Denker, der 1933 von den Nationalsozialisten im tschechischen Exil ermordet wurde –, dann war seine Heimatstadt Hannover Schauplatz solch einer grassierenden „Geschichtslosigkeit“. In seinen Lebenserinnerungen von 1928 schreibt er, wie hier viele große Geister – so auch der vielleicht berühmteste Sohn der Stadt, Gottfried Wilhelm Leibniz – „in stumpfer Gleichgültigkeit“ schon wenige Jahrzehnte nach ihrem Tod in völlige Vergessenheit gerieten. So sehr, dass man schon bald nicht mehr wusste, wo er überhaupt begraben lag und wie man seinen Namen buchstabierte. Als man ihm irgendwann doch noch ein Denkmal errichtete, schrieb man seinen Namen auf dem Sockel fälschlicherweise mit „tz“, so auch auf den Schildern einer Straße, eines Platzes und zuletzt einer Keksfabrik, die man nach ihm benannte – und korrigierte den Fehler erst viele Jahre später.

Geschichte ist uns die Erinnerung

Wenn vom historischen Vergessen die Rede ist, geht es aber nicht so sehr um die Geschichte unserer nationalen Helden und darum, ob wir ihre Namen richtig schreiben oder gar in großen Lettern in Stein meißeln. Es geht auch nicht um irgendeine graue, längst abgestorbene Vorzeit, sondern um nicht weniger als um das Leben in unserer Gegenwart und Zukunft. „Geschichte ist uns die Erinnerung“, hat Karl Jaspers geschrieben, „um die wir nicht nur wissen, sondern aus der wir leben.“

Obwohl sie weit mehr vom Nachteil als vom Nutzen der Historie für das Leben handelt, hat selbst Friedrich Nietzsche in der zweiten seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen von 1874 ein geschichtliches Bewusstsein für den Menschen als förderlich bewertet. Es „schraube“ den Einzelnen an seine Heimat „fest“ und verschaffe ihm damit ein inneres Empfinden, das er mit „dem Wohlgefühl eines Baumes an seinen Wurzeln“ verglich, ein Glücksgefühl, „sich nicht ganz willkürlich und zufällig zu wissen, sondern aus einer Vergangenheit als Erbe, Blüthe und Frucht herauszuwachsen und dadurch in seiner Existenz entschuldigt, ja gerechtfertigt zu sein“. Tatsächlich, Geschichte vermag unsere Existenz zu verankern und uns eine Art Halt zu geben. Befragt, was sein Lebensmotto sei, antwortete der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau einmal: „Teneo, quia teneor.“ („Ich halte, weil ich gehalten werde.“) Geschichtsbewusstsein ist zwar etwas anderes als religiöser Glaube, der einen Menschen hält. Aber es vermag uns genauso in einen Kontext zu bringen, uns mit Bedeutung, mit Sinn verbinden, indem es uns in einen größeren ­Zusammenhang einbettet, der uns wiederum stützt – und sei es nur jener, der uns in eine kritische Auseinandersetzung mit all denen zwingt, die da vor uns waren, und uns so hilft, die Weichen für jene zu stellen, die nach uns kommen.

Von Fußstapfen und Irrwegen

Die eigene Positionierung im Strom der Zeit, die ein Geschichtsbewusstsein bewirkt, vermittelt uns gleich­zeitig immer auch eine eigene Form von Identität: als Europäer, als Deutsche, als Schwaben, Friesen, Sachsen, als Städter, Dörfler, Bürger eines Landstrichs, eines Viertels, einer Straße, als Abkömmling einer Schicht, Gruppe und Familie. Wir sind nicht nur, wen oder was wir aus uns machen, sondern immer auch, in was wir hineingeboren werden, was wir mit uns tragen. Man kann das ablehnen, versuchen, es abzustreifen, wo es uns belastet oder zumindest nicht förderlich erscheint. Aber man kann auch davon profitieren, ganz egal ob die Geschichte uns nun lehrt, andere Pfade zu gehen als die Irrwege derer, die vor uns waren – oder uns bestätigt, in die Fußstapfen unserer Ahnen zu treten. Ein lebendiges Geschichtsbewusstsein ist eine Identitätsressource, von der wir profitieren können. Geschichtsbewusstsein gibt uns aber noch viel mehr: Es ist Teil unserer Menschlichkeit, ja mehr noch: die Voraussetzung dazu.

Geschichtsbewusstsein zu entwickeln ist anfangs immer ein Prozess der Selbstenträtselung unserer individuellen Persönlichkeit. Der Einstieg in diese Geschichte ist leicht, denn die eigene Biografie interessiert uns naturgemäß immer. Uns fällt es auch nicht schwer, sie festzuhalten und uns zu vergegenwärtigen, wohl weil sie sich über unsere Erinnerungen, die wir seit der Kindheit in uns tragen, fast von selbst in uns regt, in unser Bewusstsein drängt, ob wir es wollen oder nicht.

Das größere Wir

Das ist aber nur der erste Schritt, bei dem wir nicht stehenbleiben dürfen. Heinrich August Winkler, emeritierter Professor für neuere Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität, betont: „Wer sich jedoch nur mit der eigenen Geschichte befasst, wird auch die nicht ganz verstehen. Das gilt für Individuen wie für Nationen. Die deutsche Geschichte ist ein Teil der europäischen, der westlichen und der Weltgeschichte. Um verantwortlich handeln zu können, sollten wir wissen, woher wir kommen – ,wir‘, das sind wir nicht nur als Einzelne, sondern auch als Glieder größerer Gruppen, von den Nationen bis hin zur Menschheit.“ Gelingt es uns, diese umfassendere „übergeordnete“ Geschichte in Erfahrung zu bringen, also die größeren Zusammenhänge, in die wir hineingeboren werden, dann erklärt sie uns nicht allein, warum unsere Welt geworden ist, wie sie ist, unser Land so ist, wie es ist, unsere Stadt, unsere Straße, kurz: warum wir leben, wie wir leben. Sondern sie hat dann auch eine große Bedeutung für unser persönliches Leben. Wie sehr sie uns alle prägt, hat etwa Sabine Bode in ihren Büchern über die Kriegskinder (und -enkel) eindrucksvoll gezeigt. Die Kenntnis der kollektiven Geschichte schafft individuelles Verständnis – nicht nur, wie in diesem Fall, für die unmittelbaren Opfer des Krieges, sondern auch für ihre Nachfahren, die in ihrer Kindheit großes Leid erfuhren und mit einer hohen Hypothek ins Leben starten mussten.

So wie jede biografische Geschichte viele Schichten hat, so verhält es sich auch bei der Geschichte der Gesellschaft. Erst wenn man zu den tieferen Schichten durchdringt, erfasst man sie wirklich. Zur ­Geschichte gehört, dass sie so etwas wie eine ­Psychoanalyse der Gesellschaft betreibt und ihre ­Tiefenstruktur ans Tageslicht bringt. Zum Beispiel wie die deutsche Gesellschaft nach 1945 zu einer traumatisierten Nachkriegsgesellschaft werden konnte, deren bestimmendes Merkmal eine kollektiv unbewältigte Vergangenheit war, wie sie etwa Margarete und Alexander Mitscherlich in ihrem Klassiker Die Unfähigkeit zu trauern von 1967 nachgezeichnet haben.

Aus Schandtaten lässt sich nichts lernen

Geschichte, richtig verstanden, ist immer auch die Rekonstruktion der psychologischen Bedingungen, unter denen sie sich entfaltet, sie reflektiert nicht nur die Handlungen ihrer Akteure, sondern immer auch die wirkenden inneren Motive und Reaktionsweisen. Die „große Geschichte“ verdeutlicht also nicht nur die Makrostruktur, sondern führt uns immer auch zur spezifischen Eigenart von uns Individuen. Sie hilft am Ende, uns alle verständlicher zu machen – und Vorurteile abzubauen. Das gilt gerade heute wieder. Erst wenn man etwa die Geschichte der Flüchtlinge und Migranten in ihrer Komplexität und Tiefe versteht, werden die Betreffenden in ihrem Schicksal erkennbar. Und erst dann können wir Vorurteile ­abbauen, uns einfühlen und ihnen wirklich gerecht werden. Geschichtsbewusstsein führt zum Verstehen, Verstehen wiederum zu einem besseren Umgang: mit uns selbst, mit den anderen, mit der Welt. Geschichtsbewusstsein befördert nicht weniger als die Humanität in einer Gesellschaft.

„Beschäftigung mit Geschichte sollte letztlich immer darauf abzielen, verantwortliches Handeln in der Gegenwart möglich zu machen“, stellt Heinrich August Winkler fest. Gefährlich lebt, wer auf eine solche Beschäftigung verzichten will. Denn „wer sich nicht an seine Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“, lautet ein berühmtes Zitat des spanischen Philosophen George Santayana. Den vielen, die meinen, heute besser ohne ­Geschichtsbewusstsein auszukommen, entgegnet die Historikerin und Fritz-Bauer-Biografin Irmtrud Wojak: „Wer die eigene Geschichte, ihre positiven wie negativen Seiten nicht kennt oder verdrängt, ist anfällig für Nationalismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.“ Sie plädiert dafür, „ein Geschichtsbild zu stärken, das sich mit Schuld und den Verbrechen in unserer Geschichte auseinandersetzt“, und gleichzeitig aufzuzeigen, „dass es immer Menschen gab und gibt, die dagegenhalten“. „Aus Schandtaten und Verbrechen allein lässt sich wenig lernen, wohl aber daraus, woher Menschen selbst unter extremen Bedingungen die Kräfte nehmen oder auch bekommen können, sich dagegen zu wehren und nein zu sagen, wenn Unrecht geschieht.“ Der Jurist Fritz Bauer, der die ersten Auschwitzprozesse in Deutschland erreichte, hat diese historische Erkenntnis einmal in dem Satz zusammengefasst: „Wir können aus der Erde keinen Himmel machen, aber jeder von uns kann etwas dazu tun, dass sie nicht zur Hölle wird.“

Weitergeben an die, die nach uns kommen

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte – und mit der der anderen – ist nicht nur ein sich selbst genügendes In-Erfahrung-Bringen von Ereignissen und Fakten, sondern immer ein Erkenntnisprozess, der unmittelbar in unser praktisches ­Handeln hineinwirkt. Ein Geschichtsbewusstsein bietet zwar nie eine letzte Garantie dafür, dass das Unmenschliche nicht wieder geschehen kann, aber doch eine gewisse Sicherheit dafür, dass das, was einst hart erkämpft wurde, immer wieder neu ­erkannt, bewahrt und verteidigt wird: Menschenrechte, Demokratie, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Ein Geschichtsbewusstsein macht uns klar, was kostbare Errungenschaften sind, gerade in einer Zeit, in der es scheint, als seien sie selbstverständlich geworden. Es fordert uns immer wieder auf, das, was uns wertvoll geworden ist, zu schätzen, es zu schützen und zu bewahren, um es irgendwann denen ­weiterzugeben, die nach uns kommen.

Zahlen, die erschrecken

Eine Antisemitismusstudie des Meinungsforschungsinstituts ComRes im Auftrag des amerikanischen Fernsehsenders CNN fragte unter anderem nach den Geschichtskenntnissen der Europäer:

  • ComRes befragte rund 7000 Erwachsene aus Großbritan­nien, Frankreich, Deutschland, Polen, Ungarn, Schweden und Österreich im September 2018.
  • Viele junge Deutsche haben demnach kaum Wissen über den Massenmord der Nationalsozialisten an den europäischen Juden: Von den 18- bis 34-Jährigen schätzten rund 40 Prozent, dass sie „wenig“ oder „gar nichts“ darüber wüssten.
  • Jeder 20. Europäer gab an, noch nie etwas vom Holocaust gehört zu haben. Besonders dramatisch ist die Lage dabei in Frankreich: Dort sagte dies einer von fünf Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 34.
  • Gleichzeitig vertraten zwei Drittel der befragten Europäer die Ansicht, es sei zentral, die Erinnerung an den Holocaust aufrechtzuerhalten, damit solche Genozide nie wieder passieren könnten. In Polen, dem Land, in dem das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau errichtet worden war, sagten dies sogar 80 Prozent.

(tinyurl.com/PH-CNN-Poll)

Emotionen und historisches Lernen

Wie kann der Holocaust in der Schule so vermittelt werden, dass die Geschichte in ihrer menschlichen Tiefe erfasst wird und nicht eine ritualisierte Einübung von Gedenkkonventionen bleibt? Dieser Frage haben sich die Autoren Alina Bothe und Rolf Sperling in dem Band Emotionen, Geschichte und historisches Lernen gewidmet. Fazit: Es ist wichtig, die Beschäftigung mit dem Genozid nicht auf einer kognitiv-analytischen Ebene zu belassen, sondern einen emotionalen Zugang zur Geschichte der Shoa zu suchen. Die Autoren zeigen dies am Beispiel von digitalisierten Interviews mit Holocaust-Überlebenden, die das Visual History Archive der Shoa Foundation in Los Angeles archiviert hat. Die eindrücklichen Interviews und die darin immanente Emotionalität der Zeitzeugen hinterlassen einen extremen emotionalen Eindruck und schlagen so eine Brücke zwischen den Überlebenden und den Schülern, die dies schauen. Gleichzeitig muss diese emotionale Ebene im Unterricht reflektiert werden, damit sie kein bloßer Nebeneffekt ist und es nicht gar zu sekundären Traumatisierungen kommt. „Oftmals wird Lernenden im Geschichtsunterricht kaum Raum gegeben, sich bewusst mit eigenen persönlichen und individuellen Gefühlen auseinanderzusetzen, was eine vertiefende Deutung und damit die Möglichkeit der Orientierung für individuelle Identitätsprozesse verhindert“, so die Autoren.

Alina Bothe und Rolf Sperling: Trauma und Emotion im virtuellen Raum. Historisches Lernen über die Shoah mit virtuellen Zeug­nissen. In: Juliane Brauer und Martin Lücke (Hg.): Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven, V & R unipress, Göttingen 2013

Literatur

Aleida Assmann: Der europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte. C. H. Beck, München 2018

Sabine Bode: Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Klett-Cotta 2014 (10. Auflage)

Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Schwabe, Basel 2016

Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003 (6. Auflage)

Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Piper, München 2007

Irmtrud Wojak: Fritz Bauer 1903–1968. Eine Biographie. Buxus Edition 2016

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2019: Bin ich gut genug?