Der Rollentausch

Therapiestunde: In der Psychotherapie fragt die Klientin den Therapeuten nach seinem Befinden, anstatt sich auf die Therapie einzulassen. Warum?

Ein Psychiater sitzt mit seiner Patientin auf der Couch und schreibt, wobei auch die Patientin auf einen Block schreibt und ihn mit Fragen bedrängt
Der Psychotherapeut fragt sich, wer wen therapiert, als die Klientin beginnt, ihn auszufragen. © Michel Streich

Wie wirkt eigentlich das Tigerbalm, das ich Ihnen empfohlen habe?“ Frau M. ist – wie immer – sehr aufmerksam. Ich war wirklich oft erkältet in letzter Zeit. Tigerbalm, hat sie mir versichert, helfe in solchen Fällen gut. Nur, genommen habe ich es nicht, und erkältet bin ich auch noch. „Sie sehen mir immer noch ein wenig blass um die Nase aus“, bohrt sie weiter.

Irgendwann, die Kinder waren aus dem Haus, ihr Mann hatte sich immer mehr in seine eigene Welt zurückgezogen, da hat Frau M. mit Anfang 50 die…

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atte sich immer mehr in seine eigene Welt zurückgezogen, da hat Frau M. mit Anfang 50 die Reißleine gezogen. Schluss mit Ehe, Schluss mit Liebe, auf nach Italien! Sie hat sich dort eigenhändig einen kleinen Hof auf dem Land zum Wohnen hergerichtet, der nächste Nachbar einen langen Spaziergang mit dem Hund entfernt. Drei Jahre hat sie es ausgehalten. Zurück in Deutschland, wohnt sie jetzt in einem Häuschen am Stadtrand. Wenn nur diese Müdigkeit nicht wäre. Ihre Hausärztin macht sich Sorgen um sie, weil sie nur noch schläft – zuletzt bis zu vierzehn Stunden am Tag. Erklären kann sie sich das selbst nicht. Die Diagnose auf der Überweisung lautet „Depression, mittelgradige Episode“.

Obwohl sie erst seit ein paar Monaten zurück in Deutschland ist, hat Frau M. schon wieder einige Kontakte geknüpft. Sie ist ohne Frage kontaktstark. Warum nur, frage ich mich, wirkt sie dann so furcht­bar einsam?

Sorge um den Therapeuten

Derweil macht sie sich Sorgen um mich. „Sie haben aber auch schon mal fröhlicher ausgesehen. Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“ „Nehmen Sie sich auch mal Zeit für sich?“ „Sind Sie schon weiter mit Ihrer Urlaubsplanung?“ Ein Feuerwerk an Fragen. Als wolle sie die Rollen tauschen und meine Therapeutin werden.

Therapeutische Gespräche sind häufig merkwürdig ungleichgewichtig. Der eine fragt, der andere öffnet sich. Persönliche Rückfragen an den Therapeuten sind nicht immer gern gesehen. Aber wenn jemand so nett beständig nachhakt? So habe ich Frau M. zunächst doch immer wieder über mich erzählt. Von meinem Urlaub auf den Kanaren, vom Ärger mit der Hausverwaltung. Immer möglichst kurz, immer in der Hoffnung, den Blick anschließend wieder auf sie zurückzulenken.

„Sagen Sie mal, wo haben Sie denn diese schönen Blumen her?“, fragt Frau M., da ist die Stunde 20 Minuten alt, in denen ich immer wieder versucht habe, sie nach ihrer therapeutischen Hausaufgabe – einem Stimmungsprotokoll – zu fragen. Also muss ich in die Offensive: „Frau M., mir ist aufgefallen, dass wir immer mehr Zeit darauf verwenden, über mich zu reden. Diese Stunden sind ja dafür gedacht, dass wir an Ihren Problemen arbeiten. Die Zeit hier sollte ganz für Sie da sein. Sollen wir beide versuchen, in Zukunft mehr darauf zu achten?“ Dass mir das aufgefallen sei, daran merke sie, dass sie mit einem gut ausgebildeten Therapeuten rede, meint Frau M.: „Wo haben Sie denn die Ausbildung gemacht?“

Frau M. will kein Fall sein

Vorher hatte ich schon versucht, immer einsilbiger auf ihre Fragen zu antworten, ich habe so getan, als hätte ich sie gar nicht gehört, ich habe schlichte „Nein“- und „Ja“-Antworten gegeben. Nun gehe ich in die Konfrontation: „Frau M., schon wieder kommt es mir so vor, als solle es in der Therapie mehr um mich gehen als um Sie. Wollen wir mal danach schauen, warum Sie denken, dass das für Sie von Vorteil sein könnte?“ Das funktioniert überhaupt nicht. Frau M. kommt ohne Absage nicht zu ihrer nächsten Stunde, erst vier Wochen später fragt sie wieder nach einem Termin. Ich brauche einen neuen Ansatz.

In der Therapie den Fokus ständig auf mich zu richten könnte Frau M. dazu dienen, nicht über eigene Probleme reden zu müssen. Das schont den Selbstwert. Vielleicht versucht sie auch, den Kontakt persönlicher zu gestalten, das therapeutische in ein persönliches Verhältnis umzuwandeln. Doch das kommt im therapeutischen Setting überhaupt nicht infrage. Es ist zudem eine Hypothese, mit der ich schlecht arbeiten kann. Gegebenenfalls müssten wir die Therapie dann sogar abbrechen. Also forsche ich nach dem übergeordneten Ziel. Eine Hypothese, die naheliegt: Frau M. möchte um jeden Preis verhindern, von mir als „Fall“ betrachtet zu werden. Weil sie dann den Eindruck bekommt, als Mensch nicht wahrgenommen zu werden. Weil vielleicht genau das der Eindruck ist, den sie auch von ihren anderen Beziehungen hat. Mit dieser Idee und dem Plan für eine sehr simple neue Strategie gehe ich in die nächste Stunde.

„Frau M., sagen Sie mal, wie wirkt das Tigerbalm eigentlich bei Ihnen?“, eröffne ich das Gespräch. Frau M. strahlt, sie hat nur darauf gewartet, dass ich zurückfrage. Auch in den nächsten Stunden sind meine Einstiegsfragen banal und auf ihren All­tag ausgerichtet. „Haben Sie eine schöne Farbe für Ihre Wände gefunden?“ „Wie geht’s den Nachbarn?“ Wenn meine Analyse richtig war, muss unser „Vorspann“ jetzt nach und nach kürzer werden. Er darf nicht dazu führen, dass wir die ganze Stunde verplaudern.

Nach ein paar Wochen wird klar: Mein Plan geht auf. Unser persönlicher Einstieg dauert nur noch zwei bis drei Minuten. Frau M. fühlt sich wahrgenommen, jetzt können wir arbeiten. Sie erzählt mehr und mehr von sich, von ihrem Frust mit anderen. Wie sie mit ihrer Scheidung nicht nur die Ehe, sondern eigentlich alle Menschen aufgegeben hatte. Wie sie den Tag am liebsten im Bett verbringt, weil sie sich nichts davon verspricht, aufzustehen.

Ich habe am eigenen Leib erfahren, warum Frau M. so beständig immer wieder diese Erfahrung macht. Sie beherrscht es perfekt, um Sympathie zu werben. Sie fragt nach und merkt sich genau, was man ihr erzählt. Dadurch wirkt sie erst einmal sehr charmant. Von ihr persönlich erfährt man jedoch fast nichts. Das verhindert, dass andere so auf sie eingehen, wie sie sich das heimlich wünscht. Das erhöht so lange ihren Ärger, bis sie irgendwann den Kontakt abbricht und sich ins Bett legt. In vielen kleinen Rollenspielen üben wir anschließend Gespräche, die sie bisher kaum in ihrem Repertoire hatte: Die eigenen Gefühle benennen, auch wenn sie negativ sind. Wünsche äußern, auch wenn man nicht sicher ist, dass sie erfüllt werden.

Frau M. schläft jetzt nicht mehr so viel. Sie hat sich aufgemacht, noch einmal zu erkunden, welche Rolle sie im Leben anderer spielen könnte. Und welche andere für sie.

Thorsten Padberg ist Diplompsychologe und ­arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in Berlin

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2019: Paare im Stress