Mythen der Männlichkeit

Zwei Bücher fragen, wie sich der Begriff von Männlichkeit verändern muss, wenn es echte Geschlechtergerechtigkeit geben soll.

Die #MeToo-Debatte machte deutlich, wie alltäglich sexuelle Übergriffe von Männern auf Frauen sind. Unter dem Hashtag teilten Frauen ihre Erfahrungen, um sich gegenseitig aus der Vereinzelung zu helfen. Das Gefühl, nicht allein zu sein, nicht die Einzige zu sein, der so etwas passiert ist, beschrieben viele der betroffenen Frauen als einen ersten Befreiungsschlag. Gleichzeitig warf die Debatte ein schlechtes Licht auf Männer und die männliche Sexualität.

Spätestens seit MeToo geistert der Begriff „toxische Männlichkeit“ durch die Medienöffentlichkeit. Gemeint sind damit ein zerstörerisches Ideal von Här­te, das Unterdrücken von Emotionen wie Angst oder Unsicherheit, die unnachgiebige Wettbewerbsorientierung sowie ein Verhältnis zu Frauen, das die­se weniger als eigenständige Menschen, sondern mehr als zu erobernde Objekte fasst.

Auf die MeToo-Kampagne antworteten nicht wenige mit dem Hashtag #NotAllMen. Mit dem Hinweis, dass nicht alle Männer Sexualstraftäter werden, wollte sich so mancher von der Kritik ausklammern.

Ein Überblick in Bilder und Textboxen

Zwei Bücher sollen nun eine Reflexion anstoßen: Der Psychotherapeut Andrew Smiler, der seit vielen Jahren mit Männern und heranwachsenden Jungen arbeitet, fragt bereits auf dem Buchtitel Ist Männlichkeit toxisch? Und der Autor und ehemalige Sozialarbeiter JJ Bola stellt mit seinem Buch die Forderung auf: Sei kein Mann. Die Herangehensweise ist sehr unterschiedlich: Während Smiler bemüht ist, einen umfassenden Überblick über die Geschich­te und Gegenwart männlicher Sozialisation zu geben, spricht Bola aus einer sehr persönlichen und auch aktivistischen Perspektive.

Smilers Buch erscheint in der Reihe #dkkontrovers, die brisante umstrittene The­men typografisch unkonventionell und reich illustriert angeht. Das Buch liest sich eher wie ein Ausstellungskatalog – über 200 Abbildungen werden mit Textboxen kommentiert. Ein wirklicher Lesefluss kommt so nicht zustande, der schmale Band lädt mehr dazu ein, darin zu blättern und sich in den sorgsam kuratierten Bildbeispielen zu verlieren. Smiler bemüht sich immer wieder, einen globalen Zugang anzubieten – mit einer gewichtigen Ausnahme: Die aufgeführten Hilfsangebote beschränken sich auf Großbritannien, wodurch die Gelegenheit verschenkt wird, der hiesigen Leserschaft konkrete Anlaufstellen auf den Weg zu geben.

Die Leitfrage, ob Männlichkeit toxisch ist, gerät bisweilen aus dem Blick, zu sehr ist der Verfasser bemüht, sämtliche Aspekte männlicher Sexualentwicklung und Geschlechtsidentität zu streifen. Die Leserinnen und Leser werden mitgenommen auf eine historische Reise vom mittelalterlichen Ideal der Ritterlichkeit über die Abstumpfung des Gefühls im industriellen Zeitalter bis zum Unternehmertypus der Gegenwart. Als ein Schlüsselbegriff dient die „Manbox“, ein Konzept von Männlichkeit, das auf Stoizismus, Weiblichkeitsabwehr und Rücksichtslosigkeit beruht. Ob Männlichkeit toxisch ist oder nicht, hängt nach Smiler davon ab, wie sehr man diesem Konzept verhaftet bleibt. Positiv bemerkt er einen Wandel hin zu einer Vervielfältigung von Männlichkeitsbildern, welche die hegemoniale Männlichkeit beerben könnten.

Möglichkeit zur Selbstbefragung

Während Andrew Smiler bemüht ist, ein möglichst umfassendes Bild zu zeichnen – das leider manchmal Tiefe vermissen lässt –, wählt JJ Bola einen Zugang, der die Lesenden immer wieder zur Selbstbefragung animiert: Was hat das eigentlich mit mir zu tun? Welche Verhaltensweisen habe ich mir angewöhnt, die ich eigentlich gerne ablegen würde? Sind mir eigene problematische Einstellungen vielleicht gar nicht bewusst? Bola spart sich dabei selbst nicht aus. Die eigenen Erfahrungen bilden den Ausgangspunkt des Buches. Zum Beispiel das Erlebnis, von anderen Männern unter Druck gesetzt zu werden, hart gegen sich selbst und gegen die Außenwelt zu werden.

Anschaulich und eindringlich zerlegt Bola mithilfe von Anekdoten, Studien, feministischer Literatur und treffsicheren Vergleichen zentrale Mythen über Männlichkeit. Zum Beispiel dass Männer rationaler als Frauen seien: „Wenn häusliche Gewalt um 40 Prozent ansteigt, weil die Nationalmannschaft bei einer WM verloren hat, ist diese Aggression und die damit verbundene Wut sicherlich alles andere als rational oder logisch.“

Aber nicht nur das destruktive Potenzial hegemonialer Männlichkeitsvorstellungen wird thematisiert. Bola benennt ebenfalls, wie Männer vom Patriarchat profitieren. Bei der Bewerbung auf Jobs, dem Gehalt, der Hausarbeit – in all diesen Feldern werden Männer im Durchschnitt privilegiert.

Liest sich der Schluss von Smilers Buch ein wenig, als sei hegemoniale Männlichkeit ohnehin ein Auslaufmodell, stellt JJ Bola die Arbeit in den Vordergrund, die noch zu leisten ist: „Oft wiegt das Patriarchat sehr schwer, aber wenn du schon so lange dieses schwere Gewicht trägst, vergisst du, wie es sich ohne diese Last anfühlt.“ Sich von diesen Gewichten zu befreien ist keine einfache Aufgabe. Um sie zu bewältigen, schlägt JJ Bola beispielsweise vor, Gesprächsgruppen einzurichten, über sexuellen Konsens aufzuklären, Tagebuch zu führen und feministische Texte sowie Bücher über kritische Männlichkeit zu lesen. Die beiden hier bespro­chenen sind dafür ein guter Anfang.

JJ Bola: Sei kein Mann. Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungs ist. Aus dem Englischen von Malcolm Ohanwe. Hanser, München 2020, 158 S., € 16,­–

Andrew Smiler: Ist Männlichkeit toxisch? Große Fragen des 21. Jahrhunderts. Reihe #dkkontrovers (Hg.: Matthew Taylor). Aus dem Englischen von Wiebke Krabbe. Dorling Kindersley, München 2020, 144 S., € 12,95

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2021: Selbstwert wagen
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