Die Schlacht, das Grauen, das Schweigen

Die Schriftsteller Hemingway und Salinger begegneten sich als Soldaten im Zweiten Weltkrieg – und erlebten eine Schlacht, die sie radikal veränderte.

Die Schriftstellerin Janet Flanner und der Schriftsteller Ernest Hemingway sitzen in Paris gemeinsam am Tisch bei einem Glas Wein während des 2. Weltkriegs
Nach dem Grauen des Krieges: Salinger (links) in der gleichnamigen Dokumentation von Harvey Weinstein. © picture alliance/Everett Collection

Margaret, die 1955 geborene Tochter J.D. Salingers, wusste als Kind lange Zeit nicht, dass ihr Vater von Beruf Schriftsteller war. Sie glaubte, er habe gar keinen Broterwerb und tue schlicht und einfach nichts. Keinen Zweifel aber hatte sie daran, dass ihr Daddy ein Soldat war.

„Die Geschichten, die er erzählte, die Kleidung, die er trug, seine gebrochene Nase, die er sich beim Sprung aus seinem Jeep geholt hatte, als er von einem Scharfschützen beschossen wurde, sein von einer Granatexplosion in nächster Nähe ertaubtes Ohr, der Army-Jeep, den er fuhr, seine ältesten Freunde, die er alle von der Armee her kannte, die Waffen, mit denen er mir das Schießen beibrachte, seine GI-Uhr, die er Tag und Nacht trug, die Wasserkanister und Gemüsekonserven aus Armeebeständen, die wir in riesigen Mengen im Keller hatten, die Orden, die er uns zeigte, wenn mein Bruder und ich lange genug bettelten, beinahe alles, was ich von meinem Vater sehen und berühren und hören konnte, sagte mir eines: Soldat.“

Salinger war in vielerlei Hinsicht ein widersprüchlicher Charakter. Einerseits menschenscheu, andererseits ein treuer und hingebungsvoller Briefeschreiber und Freund. Wobei wiederum zu bedenken war, so erzählte er seiner Tochter, dass die Menschen, die er am meisten achtete, alle tot waren: im Krieg gefallen. Salinger war, und zwar nach eigener Aussage, beziehungsunfähig, zugleich blieb er bis ins hohe Alter Frauen mehr als zugetan. Er verachtete den literarischen Betrieb, sorgte sich aber beinahe manisch um seinen geradezu mythenhaften Ruf als Autor des Fängers im Roggen.

Innerlich im Krieg geblieben

Buchkritiker Denis Scheck, ein leidenschaftlicher Freund der amerikanischen Literatur, pilgerte einstmals selbst nach Cornish in New Hampshire, um einen Blick auf das sagenumwobene Grundstück des geheimnisvollen Autors zu werfen, der dort abgekapselt von der Öffentlichkeit lebte, keine Zeile mehr veröffentlichte und für den Rest seines Lebens jedes Interview verweigerte.

„Salinger“, so schrieb Scheck, „war das literarische Äquivalent zu Howard Hughes und Marlene Dietrich: Sein Rückzug aus der Öffentlichkeit erregte just die Aufmerksamkeit, die er vermeiden wollte. Darüber gibt es mit MaoII einen klugen Roman von Salingers jüngerem amerikanischem Kollegen Don DeLillo: ‚Wenn ein Schriftsteller sein Gesicht nicht zeigt, wird er zu einem irdischen Zeichen für Gottes berühmte Verweigerung, in Erscheinung zu treten‘, heißt es darin.“

Dieser Gedanke ist mehr als ein Bonmot, denn Salingers spärliche Veröffentlichungen, von denen die wichtigste, Der Fänger im Roggen, sich mehr als sechzig Millionen Mal verkaufte und ganze Generationen von Lesern und Autoren zutiefst beeinflusste, sind tatsächlich von einer suchenden spirituellen Energie geprägt, die ihre tiefere Ursache vielleicht in Salingers Erlebnissen während des Zweiten Weltkriegs hatte. Manches spricht dafür, dass Salinger nur scheinbar ins Zivilleben zurückgekehrt, innerlich aber im Krieg geblieben war, genauso wie es ja vielen Soldaten ging, die ihr Leben lang an ihren Traumata litten. Salingers Rückzug war, wenn man so will, eine Sichtbarmachung durch Verdrängung. Der Ort, der Staff Sergeant Salinger für den Rest seines Lebens prägen sollte, war der Hürtgenwald, ein Teil der Nordeifel, südlich von Aachen.

Die Schlacht im Hürtgenwald

Um jene landschaftlich faszinierende Gegend war so verlustreich und gnadenlos gerungen worden, dass man heute oft liest, der Hürtgenwald sei für die Amerikaner ein erstes Vietnam, aber auch ein Vorgeschmack auf Afghanistan gewesen. Mit Vietnam verband die Nordeifel, dass auch sie einen gigantischen Wald hatte; mit Afghanistan ihre geologische Beschaffenheit als kleinteiliges Gebirge; mit beiden, ein Desaster der amerikanischen Militärgeschichte zu sein.

„Mehr als achtundzwanzigmal wechselten die Dörfer Vossenack, Simonskall, Schmidt und Kommerscheidt ihre militärischen Herren; in Vossenack verlief die Front quer durch die Pfarrkirche […]. In Monschau schoss die deutsche Armee auf Frauen, die in ihren Gärten Gemüse holten; es durfte nicht wahr sein, was wahr war: Der Krieg war endgültig verloren und ging zu Ende und es durfte nicht wahr sein, dass eine Deutsche in einem von Amerikanern besetzten Städtchen tatsächlich entschlossen war zu leben“, so schrieb der spätere Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll 1967 in der Zeit.

Eine amerikanische Einheit, die es auch im Hürtgenwald besonders schwer hatte, war das 12. Regiment. Es wurde immer wieder verschiedenen Divisionen zugeteilt und hatte während der Invasion am 6. Juni 1944 zu denjenigen gehört, die den Utah Beach genannten Strandabschnitt in der Normandie zu erobern hatten. Von 3060 Männern überlebten bei dieser ersten Aktion gerade mal 1130. Unter denjenigen, die die Invasion überlebten, war einer der hoffnungsvollsten Schriftsteller der amerikanischen Literaturszene, ein 25 Jahre alter New Yorker mit jüdisch-katholischen Wurzeln: Jerome David Salinger. Er war Unteroffizier und hatte im Gemetzel während der Invasion dutzende Freunde verloren.

Die Invasion beginnt, Salinger schreibt

Am 18. Januar 1944 hatte er noch seine Mutter, der er strengstens verboten hatte, zu seiner Einschiffung nach Europa zu kommen, halb amüsiert, halb genervt dabei beobachtet, wie sie – sich hinter den Laternen am Hafen versteckend – den Einzug der jungen Männer auf den Truppentransporter USS George Washington verfolgte, unter denen sich auch ihr Sohn befand. Der war Teil einer Spezialeinheit, von der jeweils zwei Mann jedem Regiment zugeordnet waren: Salinger war beim CIC, dem Counter Intelligence Corps, zuständig für die Beobachtung der eigenen Truppen und ihrer Ansichten über die Kriegsführung. Später sollten die CIC-Leute Kontakt mit der jeweiligen Bevölkerung aufnehmen oder auch deutsche Kriegsgefangene verhören. Es war eine nachrichtendienstliche Tätigkeit, für die sich Salinger durch seine guten Französisch- und Deutschkenntnisse qualifiziert hatte.

Er nahm seine Aufgabe – inklusive der strengen Verpflichtung zur Geheimhaltung – sehr ernst. Immer aber auch gab es da die andere Welt des J.D. Salinger, die Welt der Literatur, die ihn unentwegt begleitete, während der Überfahrt, als sich seine Kameraden die Zeit mit vulgären Späßen vertrieben, während der Landung des Transports in Liverpool und während der gesamten Zeit in Nordengland, wo die Invasion vorbereitet und trainiert wurde.

Vor allem schrieb er Kurzgeschichten. Diese ureigene amerikanische Gattung der Literatur hatte es ihm besonders angetan. In dieser Darstellungsform sah er die Möglichkeit, seinem Ideal größtmöglicher Wahrhaftigkeit in der Kunst nahezukommen. Gläserne Gespanntheit und Transparenz der Figurenführung waren ein Markenzeichen seiner Erzählungen. Sein Gespür für die alltäglichen menschlichen Erscheinungsformen des Unverstandenseins, der kom­munikativen Einsamkeit, Verlogenheit, Ignoranz und der Sehnsucht nach wirklichem zwischenmensch­lichem Kontakt prägte seine Arbeit. Und er war ungewöhnlich ehrgeizig, ja karrierebewusst. Jede seiner frühen Kurzgeschichten ist ein kleines Meisterwerk aus glasklaren, dennoch überraschenden Bildern und Dialogen, die wunderbar zeitversetzt geführt werden, geschult an der unbestechlich psychologischen Prosa eines F. Scott Fitzgerald.

Während Salinger sich also mit seinem frisch verstärkten Regiment nach der verlustreichen und blutigen Landung durch die Heckenlandschaft der Normandie kämpfte und an der Eroberung der logistisch extrem wichtigen Hafenstadt Cherbourg teilnahm, führte er Korrespondenz mit Redakteuren und Verlagen und schrieb unentwegt, wenn auch in der für ihn typischen zeitlupenartigen Weise an seinen Storys. Sein Förderer und väterlicher Freund Whit Burnett hatte ihm die Veröffentlichung einer Anthologie seiner Geschichten in Aussicht gestellt, aber noch mehr interessierte sich Burnett für den Roman, an dem Salinger schrieb. Das Manuskript, das der Sergeant aus New York während des gesamten Krieges mit sich führte und an dem er an den unterschiedlichsten Orte arbeitete, würde 1951 unter dem Titel The Catcher In The Rye erscheinen und ein Weltbestseller werden. Die deutsche Erstausgabe, Der Fänger im Roggen, übersetzte übrigens Heinrich Böll.

Es ist offensichtlich, dass das Schreiben inmitten des Krieges für Salinger ein inneres Refugium war, ein Ausblenden der permanenten Präsenz von Dreck, Hunger und Tod mithilfe der Fokussierung auf das Wahre, das auch notwendig das Schöne ist: Schreiben als magischer Akt, der allerdings ein Höchstmaß an Konzentration und Energie verlangte. Der Wunsch, ein wirklich berühmter Schriftsteller zu werden, gab ihm die Kraft dazu.

Eine Begegnung im Hotel Ritz

So ist es auch nicht verwunderlich, dass das wichtigste Ereignis für Salinger in den ersten Monaten des Krieges nicht militärischer, sondern literarischer Natur war. Zwei Tage nach der Befreiung von Paris aus der deutschen Besatzung fuhr er aus dem Quartier seines Regiments im Norden der Stadt mit dem Jeep ins legendäre Hotel Ritz, das durch die Präsenz eines Mannes und seiner riesigen Entourage aus befreundeten Fotografen, anderen Autoren und Resistancekämpfern zu einer Art heimlichem amerikanischem Hauptquartier geworden war: Der Mann war Ernest Hemingway.

Der berühmteste Schriftsteller Amerikas war ebenfalls im Juni am Strand der Normandie gelandet, allerdings erst mit der neunten und nicht wie Salinger mit der ersten Invasionswelle. Hemingway war seither, stets hinter der Frontlinie, in Frankreich unterwegs gewesen. Dabei hatte der Draufgänger so gut wie jede für einen US-amerikanischen Kriegskorrespondenten, denn ein solcher war er offiziell, geltende Regel gebrochen. Er hatte Waffen getragen, streng verboten, und sich mit einem Trupp von etwa fünfzig kommunistischen Maquis-Kämpfern zusammengetan, die er, der keinerlei Erfahrung in militärischer Führung hatte, als deren „Colonel“ anführte, sich auf nichts weiter als ein militärisches Lehrbuch aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg stützend.

Den Bruch aller Regeln, der sich später auf fatale Weise rächen würde, nahm Hemingway in Kauf, weil er an authentisches „Material“ kommen wollte, um seinen großen Roman über den Zweiten Weltkrieg zu schreiben. Ein Tolstoi in den Schatten stellendes Epos sollte es werden, ein amerikanisches Krieg und Frieden.

Hemingways Ehrgeiz war also enorm, ebenso wie der des jungen Salinger. In der American Bar des Hotels Ritz treffen zwei literarische Olympier mitten im Krieg aufeinander. Doch während Hemingways Poetik auf die zwar reduzierte, dennoch unmittelbare Darstellung physischer Gewalt setzte, um das komplizierte Innenleben seiner Protagonisten darzustellen, verweigert sich Salinger diesem Modell: „Ich glaube an diesen Krieg. Täte ich das nicht, wäre ich in ein Lager für Kriegsdienstverweigerer gegangen und hätte, so lange es eben dauert, die Axt geschwungen. Ich glaube daran, Nazis zu töten, Faschisten und die Japse, weil es meines Wissens keinen anderen Weg gibt. Allerdings glaube ich auch an die moralische Pflicht aller Männer, die gekämpft haben und noch kämpfen werden, unseren Mund zu halten, sobald es vorbei ist, und nie wieder ein Wort darüber zu verlieren.“

Die Wahrheit über den Krieg

So endet Salingers Erzählung Der letzte Tag des letzten Urlaubs, die er Hemingway bei ihrer Begegnung im Hotel Ritz zu lesen gab. Sie war daheim in den USA gerade in einer der auflagenstärksten Zeitschriften erschienen, der Saturday Evening Post. Hemingway, der schon von dem jungen Talent gehört hatte, zeigte sich beeindruckt. Aber wie eine Wette auf die literarische Zukunft ließ das Treffen der beiden offen, welches der beiden Modelle sich im Umgang mit den Notwendigkeiten und den Schrecken des Zweiten Weltkriegs durchsetzen würde.

Niemals, so das resignierende Fazit von Babe Gladwaller, einer der Figuren aus Salingers Geschichte, könne man Nichtsoldaten, Nichtkriegsteilnehmern schildern, was der Dienst in der Armee wirklich bedeutete. Und: „Bevor ich in der Army war, wusste ich nicht, was Freundschaft heißt.“ Einem mystischen Geheimbund gleich wahren die jungen Soldaten das Schweigen, denn die Wahrheit über den Krieg kann man eben nicht mitteilen. “They don’t know what we know.” Ziemlich genau das Gegenteil also der hemingwayschen Poetik.

Trotzdem trennten sich die beiden als Freunde: Hemingway blieb auf der von Gin und Champagner fröhlichen Party im Ritz. Salinger fuhr zurück zu seinem Regiment, erlebte auf dem Weg dann aber gleich mit Schrecken, wie Pariser Bürger einen Nazikollaborateur mit Zaunlatten und Hämmern zu Tode prügelten, ohne dass er und sein Begleiter, die gerade noch auf derselben Straße mit Mädchen geflirtet, geküsst hatten und mit Wein bewirtet worden waren, etwas dagegen unternehmen konnten.

Das Desaster nimmt seinen Lauf

Als Salinger und Hemingway sich drei Monate später, im November, am Rande der Schnee-Eifel ein letztes Mal trafen, hatten sich die Verhältnisse radikal gewandelt. Die US Army stand, viel früher als geplant, an der deutschen Grenze. Mit mangelhafter Ausrüstung, Sommerkleidung im früh hereingebrochenen Winter, verzweifelten die GIs am unerklärlichen Widerstand der Wehrmacht ebenso wie an der fehlerhaften Strategie ihrer Führung.

Ernest Hemingway, der im Oktober nach einer Anzeige wegen seines regelwidrigen Verhaltens vor den Militärstaatsanwalt gekommen war und dadurch sein ganzes bisheriges Material verloren hatte, suchte folglich immer noch nach dem Stoff für seinen Roman. Er erkannte sehr genau, dass der Hürtgenwald in seiner ganzen verzweifelten Brutalität und Sinnlosigkeit dennoch der Ort war, an dem das neue Amerika, die zukünftige Weltmacht ihr Haupt erhob. Aber Hemingway begriff auch, dass sein literarisches Schaffen, das immer auf das Individuum und sein persönliches Schicksal abzielte, diesen Vorgang nicht länger fassen konnte, denn die death factory des Hürtgenwaldes zermalmte innerhalb von wenigen Nächten ganze Divisionen.

Hier erlebte Salinger einen Winter- und Waldkrieg, wie ihn die Amerikaner noch niemals geführt hatten. Die meisten der Männer, mit denen er sich im Juni nach der Invasion durch Frankreich gearbeitet hatte und die bei der Befreiung von Paris dabei gewesen waren, waren mittlerweile tot, und die Reihen des Regiments waren mit „grünen“, also jungen, komplett unerfahrenen Männern des Nachschubs aufgefüllt worden. Diese meist achtzehn- oder neunzehnjährigen Jungs traten gegen Wehrmachtsveteranen an, die – wie viele von ihnen später sagten – selbst in Russland kaum je ein brutaleres Schlachtgeschehen mitgemacht hatten.

Zudem machte Salinger dort Bekanntschaft mit der rücksichtslosen Brutalität auch der eigenen, der amerikanischen Führung. So musste er auf Geheiß eines Offiziers eine ganze Nacht in einem der triefend nassen Schützenlöcher zubringen. Diese mühsam in den felsigen Grund der Eifel gegrabenen foxholes, Fuchslöcher, waren der einzige Schutz für die Soldaten, aber da die kleinen Gruben oftmals mit dem eisigen Wasser aus Schnee und Regen vollliefen, die bei Temperaturen um die null Grad tagelang niedergingen, fielen ihnen auch viele Soldaten zum Opfer. Füße und Unterschenkel froren ihnen ein, so dass der gefürchtete „Grabenfuß“ am Ende oft amputiert werden musste. Man schätzt, dass mindestens ein Drittel der Gefallenen im Hürtgenwald nicht durch Feindeinwirkung, sondern durch die Witterung und die miserablen Umstände ums Leben kamen. Viele erfroren schlicht.

Die Alchemie des Künstlers

Inmitten dieses eisigen, von Granaten, Minen, aber auch dem Kampf Mann gegen Mann im dichten Unterholz geprägten Höllenwaldes schrieb Salinger also weiter in jeder freien Minute an seinen Geschichten. Und irgendwo dort im Hürtgenwald, als seine Not am größten war, entwickelte er ein Modell, das seine Tochter Margaret „die Alchemie des Künstlers“ nennt, ein Vorgang der Fantasie, mit dem sich der traumatisierte Soldat einen Zugang zu einer heilen und reinen Welt verschaffte.

Die Geschichte hat den Titel A Boy in France, ein Junge in Frankreich. In dieser letzten der „Hürtgenwald-Geschichten“ geht es um einen jungen amerikanischen Soldaten, der sich über ein verwüstetes dunkles Schlachtfeld schleppt. Er denkt voller Schrecken an den bevorstehenden Kampf, „Gedanken, die man nie wieder vergessen kann“. Er ist beinahe bis zum Tode erschöpft, dreckig, nass und zitternd vor Kälte, da findet er ein verlassenes Schützenloch. Eine deutsche Militär­decke, die gerade eben noch einen anderen gewärmt hat, liegt darin. Er kratzt blutige Erdklumpen aus dem Loch, dann legt er sich hinein. Ein Fingernagel ist ihm abgebrochen, es schmerzt schrecklich. Er steckt seine Hand unter die Decke und schließt die Augen.

Dann folgt eine seltsam kindliche Zauberformel, die Salinger, glaubt man seiner Tochter, im späteren Leben immer und immer wieder vollzogen hat: „Wenn ich meine Hand wieder hervorhole“, denkt er, „wird mein Fingernagel nachgewachsen sein, meine Hände werden sauber sein. Mein Körper wird sauber sein. Ich werde saubere Shorts anhaben, ein sauberes Unterhemd, ein weißes Hemd. Eine blaue Krawatte mit Punkten. Einen grauen Anzug mit Nadelstreifen, und ich werde zu Hause sein und die Tür verriegeln. Ich werde Kaffee aufsetzen, eine Platte auflegen und die Tür verriegeln. […] Ein nettes Mädchen wird hereinkommen, ich werde sie bitten, ein Gedicht vorzulesen, und sie wird nicht fragen, ob ich einen Kaugummi für sie habe, und ich werde die Tür verriegeln.“

Ein Pakt mit einer unbekannten Macht

Als er die Augen wieder aufmacht, hat sich an seiner Situation nichts geändert. Er ist auf dem Schlachtfeld. Verzweifelt seine Taschen durchwühlend, findet er zuletzt einen Brief von seiner kleinen Schwester, in dem sie ihm neben allerlei schönen, da fernen Alltäglichkeiten einfach schreibt, dass sie ihn vermisse und er bald nach Hause kommen möge. Nachdem er den berührenden Brief gelesen hat, richtet er sich auf, ruft dem nächsten Soldaten zu, dass er „hier drüben“ sei und schläft selig ein.

„Er sieht Gott, weil er das Schöne in der Unschuld seiner kleinen Schwester erkennt, und weil er sich ihr verbunden fühlt, weiß er wieder, dass er am Leben ist“, so resümiert Salingers Biograf Kenneth Slawenski die Essenz dieses beinahe mystischen Textes aus dem Hürtgenwald.

Jeder literarische Text, den Salinger danach schrieb, sollte die Einfachheit, Schlichtheit und Wahrhaftigkeit eines solchen naiven Briefes haben. Als ob der Autor Salinger in der Hölle des Hürtgenwaldes einen Pakt geschlossen hätte, in Zukunft jeden Text an das eigene traumatisierte Selbst zu richten, das in einem eiskalten, blutbefleckten Schützenloch darauf wartete, aus dem Albtraum des Krieges erlöst zu werden. Nichts Überflüssiges, Verlogenes würde er schreiben, vielmehr sollte jede Zeile diesem Anspruch genügen, vor den Augen des tapfer um sein Leben kämpfenden jungen Mannes im Hürtgenwald bestehen zu können. Und dafür würde er überleben. Es war ein Pakt mit einer unbekannten Macht, wie aus einem Märchen der Brüder Grimm.

Wofür sich keine Worte finden

Am 5. Dezember wurde Salingers Regiment aus der Eifel abgezogen. Von 3080 Soldaten waren noch 563 übrig. Mit diesen ging Salinger durch den winterlichen Horror der Mitte Dezember einsetzenden letzten Offensive der Wehrmacht, der materiell aufwendigsten Einzelschlacht des US-Geschichte, der sogenannten Ardennenoffensive, die bei den Amerikanern The Battle of the Bulge heißt. Er überlebte auch dieses Gemetzel, machte später die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau mit, wurde weiterhin als Verhörspezialist eingesetzt. Im Sommer 1945, nach drei Jahren ununterbrochenem Kriegsdienst, erlitt er einen kompletten Nervenzusammenbruch und wurde in ein Krankenhaus im Nürnberger Raum eingeliefert.

Es gibt aus dieser Zeit einen Brief an Hemingway, den Salinger aus dem Krankenhaus schrieb. Er habe sich „in einem Zustand ständiger Niedergeschlagenheit befunden“, berichtet Salinger in anrührender Offenheit, und er wollte mit einem Arzt sprechen, bevor die Symptome schlimmer geworden wären. Auf dessen Frage, ob er die Army möge, habe er mit „ja“ geantwortet. Dies allerdings nur, schreibt er Hemingway, weil er befürchte, dass sich eine Entlassung „aus psychischen Gründen“ negativ auf die Rezeption seines zukünftigen Romans auswirken könnte.

Dies ist eine Schlüsselstelle: Salinger sah offenbar ganz klar, mit welch brutalem Zynismus die Gesellschaften aller kriegführenden Nationen mit ihren heimkehrenden Soldaten umgehen, mit welcher Gnadenlosigkeit der traumatisierte Soldat zum Schweigen verdammt war und sein würde. Er wollte nicht am Ende als Feigling stigmatisiert werden, als einer, der sich offenbar so durch den Krieg gemogelt habe, weil ja überlebt hatte, während die Gefallenen, die wahren Helden, ihr Leben für die Nation, das Vaterland, die Ideologie gegeben hätten.

Der Brief an Hemingway ist auch aus einem anderen Grund höchst eindrucksvoll: Salingers Handschrift hatte sich nach seinem Zusammenbruch so vollständig verändert, als stammte sie von einem vollkommen anderen Menschen.

Kein Wort über den Krieg

1950 veröffentlichte Hemingway seinen Roman Über den Fluss und in die Wälder, der sich stellenweise wie eine Selbstparodie liest. Erzählt wird die Geschichte von Colonel Cantwell (ein sprechender Name, der Oberst Kannnichtgut bedeutet), der im Hürtgenwald eine ganze Division verloren hat und nun depressiv mit einer achtzehnjährigen Italienerin nach dem Krieg durch Venedig zieht. Hemingway wusste, dass die Schlachten in der Eifel das Material für seinen ersehnten großen Roman gewesen wären, aber er fand keine Worte dafür. Der große Stoff – er hatte ihn, aber er konnte ihn nicht bändigen.

Dieses Scheitern am Hürtgenwald verarbeitete der Altmeister dann allerdings triumphal in Der alte Mann und das Meer. Diese „Novelle aus Kuba“, die 1952 erschien, ist vielfach interpretiert worden. Eine grundlegende Deutung muss lauten: Der Mann, der den riesigen Fisch nicht bändigen kann, das ist Hemingway, der am Hürtgenwald scheitert. So hat Ernest Hemingway doch noch einen kleinen Sieg aus seinem Ringen mit dem Wald gezogen, allerdings nicht den, den er erhofft hatte. Eine existenzielle, vieldeutige Fischernovelle – aber nicht das amerikanische Krieg und Frieden.

Jerome David Salinger, der auch in seinem späteren, langen Zivilleben niemals aufgehört hat, sich als Soldat zu fühlen und wie ein Soldat zu denken, der sich den Toten des Krieges verpflichtet fühlte, veröffentlichte seinen lange erwarteten Roman ein Jahr nach Hemingways missglücktem Weltkriegswerk. In Der Fänger im Roggen findet sich kein Wort über den Krieg. Und doch ist klar, dass sich jede mit höchster literarischer Energie und Leidenschaft geschriebene Zeile darin an den Geist eines jungen Mannes richtet, todmüde und allein in einem eiskalten Schützenloch, kurz vor Beginn der Schlacht, der von einem Leben in Frieden träumt.

Als er diesen hohen Anspruch der Wahrhaftigkeit nicht mehr glaubte erfüllen zu können, hörte er auf zu publizieren und wurde bis zu seinem Tod im Jahr 2010 zu jenem schweigenden, in größtmöglicher Abgeschiedenheit lebenden Menschen, als der er in Erinnerung blieb, einem der größten Rätsel der modernen amerikanischen Literatur.

Steffen Kopetzky ist Schriftsteller. Die Schlacht im Hürtgenwald ist ein Schauplatz seines jüngsten Romans Propaganda, in dem Hemingway und Salinger als Nebenfiguren auftreten und ihr Aufeinandertreffen in Paris erzählt wird. Bekannt wurde Kopetzky durch seinen 2015 erschienenen Roman Risiko

Zum Weiterlesen

Margaret A. Salinger: Dream catcher. A memoir. Washington Square Press, New York 2000

David Shields, Shane Salerno: Salinger. Ein Leben. Droemer, München 2015

Steffen Kopetzky: Propaganda. Roman. Rowohlt, Berlin 2019

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2020: Die Macht des Selbstbilds
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