„Kunst gehört zur Selbstfindung des Menschen“

Kunst als meine tägliche Erdung? Schriftsteller Steffen Kopetzky über das Weltentrückte von Literatur und Künsten – und wieso wir sie gerade deshalb dringend brauchen.

Der Schriftsteller, Steffen Kopetzky, steht in einer Kunstgalerie auf einem Podest wie eine Skulptur, daneben hängt ein Kunstwerk an der Wand
Steffen Kopetzky schreibt Romane, Theaterstücke und Hörbücher. Sein jüngstes Buch heißt "Damenopfer". © Sina Dehgani für Psychologie Heute

Im Café Funkhaus am Wallrafplatz, unserem Treffpunkt, ist es voll und laut. Wir gehen ein paar Schritte zu einer halbwegs stillen Oase und führen das Interview auf einer Parkbank. Anschließend werden wir dann doch noch im Funkhauscafé mit einem Kölsch anstoßen. Oder mit zweien. Steffen Kopetzky – T-Shirt, die langen Haare zu einem Dutt komprimiert – redet flink und mit leicht bayrischem Zungenschlag, er kommt aus Pfaffenhofen. Jetzt ist er auf Lesereise, daher unser Treffen in Köln, wo er am Vorabend beim…

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er kommt aus Pfaffenhofen. Jetzt ist er auf Lesereise, daher unser Treffen in Köln, wo er am Vorabend beim Verein „Kultur & Bahn“ vorgetragen hat. Seit seinem 2002 erschienenen Roman Grand Tour, einem wilden Roadmovie in europäischen Nachtzügen, ist er dort ein besonders gern gesehener Gast.

Etwas Roadmovie steckt auch in Kopetzkys neuem Roman Damenopfer, der in den frühen 1920er Jahren spielt. Es ist, wie unsere Gegenwart, eine Welt im Umbruch. Erzählt wird die Geschichte von Larissa Reissner, einer historischen Figur. Die junge Frau aus einer polnisch-baltendeutschen Familie schloss sich in Russland schon als Jugendliche den Bolschewiken an und wurde zu einer Ikone der jungen Sowjetunion. Sie war Politkommissarin der Wolgaflottille, Botschaftergattin in Afghanistan und als Agentin der Komintern auch in Deutschland in halb diplomatischer, halb subversiver Mission unterwegs.

Welche Eigenschaften haben Sie dieser Frau in Ihrem Roman mitgegeben? Was für ein Mensch ist Larissa Reissner bei Ihnen?

Ich schildere sie als eine Frau, die bereit war, für ihre Ideale und Träume alles zu opfern. Sie verzichtet auf eine Familie, auch auf eine echte Partnerschaft. Sie hat wechselnde Beziehungen und ein großes Umfeld von Menschen, die sie bewundern, ist aber im Grunde auf sich allein gestellt. Sie ist allen zugewandt, sprüht vor Ideen, aber es umgibt sie in ihrem Intellekt und ihrer Schönheit auch etwas Unberührbares. Sie ist eine typische Geheimagentin. Für den Roman habe ich diesen Aspekt natürlich besonders reizvoll gefunden.

Diese Heldin hat in Ihrem Roman – Sie behandeln das mit respektvoller Diskretion – einige erotische Affären, sogar eine für den Plot bedeutsame polyamoröse Beziehung mit zwei Männern. Ist diese erotische Experimentierfreude Abenteuerlust oder auch ein bisschen Flucht?

Polygame Erotik war in dieser Zeit gar nicht so ungewöhnlich. Das Erste, was die Bolschewiken gemacht haben, war, das Eherecht zu lockern und Scheidung und Abtreibung zu legalisieren. Alexandra Kollontai – die Volkskommissarin, die das durchsetzte – gab ihren Lebenserinnerungen den Titel Autobiografie einer sexuell emanzipierten Kommunistin. In dieser Hinsicht galt Moskau um das Jahr 1920 herum als die freieste Stadt der Welt.

Als überzeugte Kommunistin kämpft Larissa Reissner für die Verdammten dieser Erde, aber eigentlich sind ihr diese einfachen Menschen fremd. Sie liebt extravagante Kleidung, hat ein eher aristokratisches Auftreten. Ist dieser Widerspruch ein Grund für die Einsamkeit, die sie umgibt?

Nicht nur. Sie ist Agentin, und Agenten umgibt wohl immer etwas Einsames, weil sie Geheimnisse zu wahren haben. Larissa nimmt ihre selbstgesetzten Ziele im Dienste des Kommunismus sehr ernst. So fremd waren ihr die einfachen Leute nicht, denn es gelang ihr – etwa 1923 in Deutschland – in den Arbeitervierteln perfekt unterzutauchen und viele vertrauliche Informationen zu sammeln.

Hadert sie denn nicht manchmal mit dieser Wahl und wünscht sich ein einfacheres, beschaulicheres Leben?

Es gibt in dem Roman eine Art bürgerliche Gegenwelt, verkörpert durch Larissas Cousine Tania und ihre Familie, die in Leipzig leben. Dieses Herzstück des Romans habe ich mir ausgedacht, ich wollte Larissa eine Art von Parallelwelt geben. Larissa und Tania, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen, sind in dem Roman als Doppelgängerinnen angelegt – ein beliebtes Motiv in der russischen Literatur. Larissa hat ihr Bedürfnis nach einem bürgerlichen Leben, nach einer Familie sozusagen an Tania delegiert, Larissa selbst bleibt die Madonna der Revolution.

In diesem Russland der Nachrevolutionsjahre begegnen wir in Ihrem Roman dichtenden Fabrikarbeitern und zerlumpten Totengräbern, die gelehrt über den Futurismus diskutieren. Es gibt Symbolistinnen, akmeistische Mystiker, Surrealistinnen, radikale Spontanisten. Die Menschen leben in Armut, aber ihr Geist macht Höhenflüge. Was ist da los?

Genau diesen Zwiespalt zwischen der materiellen Armut und der Fülle an Ideen fand ich so reizvoll an dieser Zeit in der jungen Sowjetunion. Es wurde um feinste Verästelungen von ästhetischen Theorien gerungen und gestritten. Es gab unzählige Gruppen von Dichtern und Denkerinnen, ständig wurden neue Zeitschriften gegründet. Es war eine quirlige und ungeheuer vielfältige Szene – ganz anders als die Monokultur, die dann unter Stalin verordnet wurde.

Diese künstlerische Vielfalt und Aufbruchstimmung schildern Sie anschaulich in einem Kapitel über einen literarischen Abend in einem Landhaus vor Moskau, wo man einander voller Pathos selbstverfasste revolutionäre Gedichte und Erzählungen vorträgt. War das Kunst oder Kitsch?

Bestimmt war da alles dabei, auch viele Amateure. Es gab dieses „Proletkultprojekt“, in den Betrieben wurden Schreibgruppen gegründet. Klar, diese Gedichte über „die Maschine“, die ganze Heroisierung der Arbeit, das hatte schon was vom späteren Kitsch des sozialistischen Realismus. Aber es gab zum Beispiel auch Fortschreibungen des Futurismus, der ja schon im 19. Jahrhundert entstanden war, Träume von Reisen zu den Planeten. Da kam viel zusammen und vermischte sich. Diese Neuerungen hatten eine hohe Anziehungskraft, auch in den Ländern Westeuropas.

Es gibt viel später in Ihrem Roman eine Art Gegenentwurf zu diesem Literaturabend vor Moskau, nämlich eine Zusammenkunft revolutionärer Freigeister der eher finsteren Sorte am Berliner Wannsee. Welche Art von Utopien wurde da ausgebrütet?

Das ist eine Avantgarde der konservativen Revolution um den Schriftsteller Arthur Moeller van den Bruck, mit Verbindungen zum George-Kreis. Diese Leute waren antibürgerlich wie die Bolschewiken, aber ihre Ideen kreisten um Begriffe wie „das Volk“, „die Nation“. Van den Bruck hat den Begriff vom „dritten Reich“ geprägt, der dann später von den Nazis aufgegriffen und ideologisch einverleibt wurde.

Bei allen Gegensätzen ist diesen beiden Szenen das Pathos gemein. Neigt Kunst, sobald sie „politisch“ sein will, zu gefährlicher Schwärmerei?

Vielleicht. Kreativ sein heißt ja etwas schaffen. Künstlerinnen und Künstler denken sich etwas aus und setzen es um, so dass es Wirklichkeit wird. Doch so einfach geht es in der Politik eben nicht, das hat mich meine Erfahrung in der Kommunalpolitik gelehrt. Demokratie ist eine anstrengende Angelegenheit. Politiker und Politikerinnen haben die schwierige Aufgabe, ein Gemeinwesen zu steuern, indem sie gesellschaftliche Konflikte im Austausch und in der Auseinandersetzung mit andersdenkenden Abgeordneten stellvertretend austragen und moderieren. Das alles war damals und ist auch heute nicht durchweg beliebt in der Bevölkerung: dieses Diffuse, dieses Parteiengezänk.

Dann kommt leicht die Sehnsucht nach Führungsfiguren auf, nach Leuten, die sagen: „So machen wir das jetzt, und dann entsteht die neue Gesellschaft!“ Diese Sehnsucht gab es in der Zeit, in der mein Roman spielt, bei der Rechten wie bei der Linken. Die frühen Bolschewiken waren ja fast durchweg Journalisten, Schriftstellerinnen. Das waren Leute, die in Zeitungen ihre Visionen ausgebreitet haben. Und plötzlich kamen sie an die Macht und mussten die gesellschaftliche Realität moderieren, dort war ihr Pathos eher hinderlich. Doch neben diesen enthusiastischen Menschen gab es eben auch andere, die sich das alles angeschaut und auf ihre Gelegenheit gewartet haben. Dazu zählten Stalin auf der einen und Hitler auf der anderen Seite.

Als Stalin und Hitler mit dieser Vielstimmigkeit und diesem Aufrührerischen der Kunst Schluss gemacht und es reduziert haben auf…

…Propaganda…

…was hat den Menschen in diesen Zeiten der Unterdrückung ohne den Input der Kunst gefehlt?

Eine Menge. Wenn Sie sich die Bücher anschauen, die in den zwölf Jahren der Naziherrschaft erschienen sind: Da gibt es so gut wie nichts Reizvolles und Überdauerndes. Nur Auf den Marmorklippen von Ernst Jünger würde mir hier einfallen. Ein einsames Werk.

Wie haben die Menschen reagiert, als man sie von dieser ­Ideendimension der Kunst abgeschnitten hat?

Mit einem Rückzug ins Private, ins Innenleben, meine ich. In der Sowjetunion wurden heimlich Bücher geschrieben, die dann in privaten Zirkeln als Kopien zirkulierten.

Was könnten Menschen, die aus der Politik und aus der Kunst kommen, in einer Demokratie voneinander lernen?

Gemeinsam ist beiden das Gestaltende: Beide schaffen etwas, was es vorher nicht gab. Für beide könnte es therapeutisch sein, sich darüber auszutauschen, wie dieser Schaffensprozess beim Gegenüber abläuft. Dann könnten sie etwas voneinander lernen. Aber genau das geschieht leider nicht.

Bei Treffen zwischen Leuten aus der Politik und aus der Kunst ist mir immer wieder aufgefallen, dass genau dieser Aspekt in den Gesprächen ausgeklammert wird. Die Politikerin sagt: „Oh, ich liebe Bücher. Gerade habe ich dieses und jenes gelesen.“ Der Künstler sagt: „Ich habe mich schon immer für dieses und jenes Anliegen politisch und sogar im Wahlkampf engagiert!“, oder macht Vorschläge, was die Politik tun sollte. Viel fruchtbarer wäre es doch, wenn die Politikerin dem Künstler erklären würde, was es bedeutet, in einem gesetzgebenden Verfahren oder in einem Gemeinderat eine Entscheidung herbeizuführen, und wie man das handwerklich macht.

Und der Schriftsteller könnte der Politikerin, die nur das fertige Werk kennt, schildern, mit wie viel Unsicherheit, Hadern, Streichungen und Umschreiben das Entstehen eines Romans verbunden ist. Beide wollen immer so stark und souverän erscheinen, dabei sind doch gerade diese Niederungen das Interessante.

Hier das Weltüberhöhende, in ästhetischen Kategorien Urteilende der Kunst und dort das Realitätsprinzip der Politik – gibt es diesen Gegensatz schon so lange, wie es Menschen gibt?

Literatur und Kunst haben ihren Ursprung in etwas Zurückblickendem. Der Ursprung von Literatur ist die Sage von der menschlichen Herkunft, die Schöpfungsgeschichte, die Mythen, die Göttergeschichten der unterschiedlichen Kulturen. All dies ist, wie auch die Religion, eine Selbstvergewisserung. Anscheinend hat sich der Mensch durch den Prozess der Zivilisation getrennt gefühlt von seinen Ursprüngen, und er brauchte einen Halt in den Mythen von seinem Ursprung.

Lange Zeit bestand Literatur ausschließlich aus diesen immer wieder vorgetragenen Erzählungen vom Früher; die Gegenwart oder gar utopische Ideen von der Zukunft fanden dort nicht statt. Diese Art von Kunst stand keineswegs im Gegensatz zur politischen Ordnung, sondern war ein Teil von ihr. Athen war in der Antike ein wohlgeordneter Staat, legte Wert auf gepflegte Tempel und wunderbare Statuen. Das Theater war ein Staatsakt, die Religion Staatsreligion. Erst Sokrates kam mit neuen Ideen und wurde deshalb verfolgt. Kunst und Ästhetik müssen also nicht immer revolutionär, sondern können auch staatstragend sein und waren es in der Menschheitsgeschichte lange Zeit.

Neben Kunst als etwas Erneuerndem und Kunst als etwas Selbstvergewisserndem gibt es wohl noch eine dritte Vorstellung: Kunst als etwas Zeitloses, Ewiges. Diese Welt scheint in Ihrem Roman auf, wenn Sie die Lebenswelt von Larissas Alter Ego, ihrer Cousine Tania in Leipzig schildern, einer Musikerin. Da heißt es: „In dieser Wohnung […] wird auf immerdar jenes ruhige Gleichmaß der Zeit herrschen, vorgegeben vom ­Tempo des Klaviers, der Etüden, die in niemals endenden Kreisen zu sich selbst zurückfinden.“

Die Klavieretüde, in diesem Beispiel von Carl Czerny, steht für mich für dieses Gleichmaß der Musik, die dort eng mit der Welt der Mathematik verbunden ist. Bei Johann Sebastian Bach etwa steht diese Musik für eine in sich geschlossene höchste Ordnung. Diese von der Musik durchdrungene Welt von Tania war für mich in Damenopfer tatsächlich der Gegenraum zu der chaotisch sich überschlagenden, den Umsturz herbeisehnenden Welt von Larissa.

„Von Etwas der Staub“ – so hat die Schriftstellerin Terézia Mora einen Essay für Psychologie Heute über die Rolle der Kunst für das Leben überschrieben. Was denken Sie: Vermitteln Musik, Kunst, Literatur uns eine Ahnung von etwas Schönem, Wahrem, Gutem, das über unseren Alltag hinausreicht?

Als junger Mensch hat mich ein Gestaltungselement im Werk von James Joyce fasziniert, das er selbst „Epiphanie“ nannte: Mitten im Alltäglichen scheint plötzlich etwas auf, das ganz besonders zu sein scheint, etwas ganz Außeralltägliches wird sichtbar. Ähnliche Erleuchtungsmomente erlebt man bisweilen beim Schreiben: Plötzlich ist da eine Verbindung, die man vorher nicht erkannt hat, ein Twist, und man sieht die Welt und die Mitmenschen mit anderen Augen. Ich versuche dann, diese Erlebnisse zu transformieren, sichtbar zu machen, so dass die Leserinnen und Leser vielleicht selbst Verbindungen herstellen und ein ähnliches Aha-Erlebnis haben.

Das Weltüberhöhende, manchmal Pathetische der Kunst auf der einen Seite und die profanen Tücken des Alltags auf der anderen: Das ergibt eine Spannung, die bisweilen auch ziemlich komisch sein kann. Lassen Sie uns mal einige Ihrer Romane auf diesen Gegensatz absuchen. In Grand Tour schildern Sie einen jungen Mann, der alles, was er erlebt, sozusagen sofort in Literatur übersetzt.

Er ist ein ewiger Student, der seinem Leben eine neue Richtung geben will und deshalb einen Sprachaufenthalt in Argentinien bucht. Doch er ist Betrügern aufgesessen, die Sprachreise gibt es gar nicht, sein Geld ist futsch. Stattdessen strandet er in München, wird Schlafwagenschaffner – spielt aber seiner Mutter und seiner alten Freundin in Telefonaten vor, dass er sich in Argentinien befinde, während er in Wahrheit kreuz und quer durch Europa fährt.

Er verfremdet und verdichtet das, was er da auf seinen Reisen erlebt, und fügt es in die Erzählung seines fiktiven Lebens in Buenos Aires ein. Und kurioserweise kommt ihm diese erfundene Parallelwelt authentischer und wahrer vor als die reale Vorlage. Hat er damit einen Kern von Kunst getroffen?

Vielleicht, denn diese Geschichten aus einem fiktiven „Groß-Buenos-Aires“, die er da schildert, sind stringenter und weniger trivial als der Alltag. In der literarischen Beschreibung entdeckt man erst die Schönheiten und magischen Momente des Lebens.

In Ihrem Bestseller Risiko geht es zunächst um ein Strategiespiel, bei dem man – ähnlich wie in der Literatur – in Szenarien denkt. Dort werden Schlachten geschlagen und Länder erobert. Doch dann bricht plötzlich die Realität in Gestalt des realen Kriegs, des Ersten Weltkriegs herein.

Tatsächlich wurde in dieser Zeit viel von dem künftigen Krieg fantasiert, auch in Romanen. Man konnte es gar nicht erwarten. Man hatte naive Vorstellungen von diesem Krieg, die sich auch in dem besagten taktischen Brettspiel wiederfanden, das sie damals an der Kriegsakademie entwickelt hatten: Die Armeen ziehen auf, dann gibt es ein paar Wochen Manöver – und schließlich hat die strategisch geschicktere Seite ritterlich gewonnen. Man machte sich, auch in Offizierskreisen, kein Bild von der Grausamkeit dieses kommenden Krieges.

Was haben Spiele mit Literatur und Kunst zu tun?

Beides sind Simulationen. Tatsächlich geht es mir beim Schrei­ben so, dass ich das, was ich da schildere, so empfinde, als ob ich es gerade erleben würde. Da findet eine innere Simulation statt. Die besten Filme, die man sich vorstellen kann, sind die, die in einem ablaufen, wenn man schreibt. Es besteht die Hoffnung, die Leserin, der Leser könne dann in einen ähnlich inspirierten Zustand versetzt werden.

Ihr darauf folgender Roman Propaganda spielt überwiegend im Zweiten Weltkrieg und schildert eine ungeheuer verlustreiche Schlacht in der Eifel, im Hürtgenwald [siehe dazu auch Steffen Kopetzkys Beitrag Die Schlacht, das Grauen, das Schweigen in Heft 10/2020]. Die dort geschilderte Wirklichkeit ist in ihrer Grausamkeit so präsent, dass da kein Platz bleibt für irgendeine spielerische oder künstlerische Überhöhung. Oder doch?

Auch inmitten dieses grausamen Geschehens gibt es in meinem Roman einen Menschen, der einen anderen Zugang dazu hat und sozusagen über den ganzen Ereignissen steht: Das ist der Fährtenleser Van Seneca, ein indigener US-Soldat. Er hat gegenüber dem Krieg und dem Leben eine gänzlich unsentimentale Haltung, der Krieg hat für ihn keine moralische, aber eine spirituelle Dimension.

So etwa wie in der altindischen Schrift Bhagavad Gita, in der sich der Gott Krishna auf seinem Streitwagen ins Schlachtgetümmel stürzt und dabei unentwegt gleichmütig philosophiert?

Die unaufhörliche Veränderung, der Kampf in der Natur: Die altindische Kultur hat diese Konflikte benannt. Der eine Gott schafft die Welt, der andere bewahrt sie und der dritte zerstört sie. Das sind nach dieser Vorstellung die notwendigen Zyklen, und die Aufgabe des Menschen ist, in diesen Zyklen der Entstehung und Vernichtung nach Erkenntnis zu streben und Gleichmut zu bewahren.

Weniger archaisch, dafür aber romantisch geht es in Ihrem Roman Monschau zu. Es ist eine Liebesgeschichte in Zeiten einer Pockenepidemie im Nachkriegsdeutschland. Verliebtsein – ist auch das so ähnlich wie die Kunst: nicht ganz von dieser Welt, immer hart im Konflikt mit der Realität und der Verantwortung, vor die das Leben uns stellt?

Ich glaube schon. Ich lebe ja nun seit zwanzig Jahren in einer harmonischen, glücklichen Ehe. Aber diese Art von vertrauter, beständiger Liebe ist etwas anderes als das anfängliche Verliebtsein. Dieser emotionale Ausnahmezustand überwölbt das gesamte Leben und schafft eine eigene Realität.

Die künstlerische Form dazu ist im Ritterroman geschaffen worden, wo es ja immer um die Minne geht. Der Ritter vergisst alles, alles, alles um sich herum und erdichtet sich für die Geliebte die Welt neu. Dieses Motiv – die Überformung der Welt durch die Liebe – ist der Ursprung des Romans. Ich habe Monschau von der Form her und in kleinen Anspielungen bewusst wie einen Ritterroman aufgebaut, ein wenig wie Walter Scott.

Vorbild ist ganz konkret aber auch der frühneuzeitliche Roman Erotokritos von Vitsentzos Kornaros. Dessen Held kämpft auf Kreta in Diensten des Königs gegen Ungeheuer. Als er eines Abends am Hofe singt, verliebt sich die Prinzessin in ihn. Den Platz des Ungeheuers nimmt in Monschau die Pockenepidemie ein, die es zu bekämpfen gilt, die Musik kommt von Schallplatten. Und wie im Ritterroman stellen sich den Liebenden Hindernisse in den Weg, doch am Ende schafft die Liebe eine neue Realität.

Ihr Fazit: Wozu brauchen wir – psychologisch gesehen – all dieses Realitätsumwölkende und Realitätsüberhöhende, wozu brauchen wir Fantasien, Literatur, Spiele, Kunst? Mit anderen Worten: Warum schreiben Sie für uns Romane, Theaterstücke, Hörspiele?

Es ist für mich persönlich die größte Freude, dieser Tätigkeit nachzugehen, weil ich sie so intensiv erlebe wie einen Wachtraum. Und auch wir als Gesellschaft brauchen dies alles, um zu träumen, um andere Geschichten zu erleben, um andere Visionen von uns vorgestellt zu bekommen, um die Schönheiten besser zu erkennen – oder eben auch, um die Wirklichkeit in ihrer ganzen Härte zu sehen. Letztlich brauchen wir dies alles – gerade im Zeitalter der sozialen Medien, in dem der Reflexionsraum bei den Leuten immer enger wird –, um unseren Horizont zu erweitern und um zu verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Und, das denke ich schon, um voranzukommen und unsere Zivilisation besser zu machen. Für mich ist die Kunst ein Teil der Selbstfindung des Menschen.

Psychologie und Literatur

In unserer Serie sprachen zuletzt:

Charles Lewinsky über das Grundbedürfnis, kein Niemand zu sein (Heft 5/2023)

Milena Michiko Flaar über das beredte Innenleben stiller Menschen (Heft 1/2023)

Gabriele von Arnim über die Zeit, als sie ihren Mann pflegte (Heft 9/2022)

Sascha Mamczak über Science-Fiction und den sense of wonder (Heft 6/2022)

Anna Katharina Hahn über die Dynamik in Familien (Heft 3/2022)

…und viele mehr. Sie können diese Hefte über unsere Website nachbestellen: psychologie-heute.de/einzelhefte

Steffen Kopetzky, der Philosophie und Romanistik studiert hat, schreibt Romane, Theaterstücke und Hörbücher. Sein jüngster Roman Damenopfer erzählt collagehaft vom Leben der Revolutionsheldin Larissa Reissner – und von den geheimen militärischen Verflechtungen zwischen Roter Armee und deutscher Reichswehr. Kopetzky lebt mit seiner Familie in Pfaffenhofen an der Ilm, wo er zwölf Jahre lang in der Kommunalpolitik aktiv war.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2024: Die schönste Zeit: Alleinsein