Mit Unsicherheit umgehen lernen

Wie wir immer neuen Krisen selbstverantwortlich begegnen können, zeigen Eva Lermer und Matthias Hudecek in ihrem Buch „Unsicherheit“.

„Unsicherheit“ – es dürfte aktuell kaum jemanden geben, der bei diesem Wort nicht aufmerkt, sich angesprochen fühlt. Manche reagieren auf die multiplen Anfechtungen der letzten Jahre mit Sinnsuche oder aber Rückzug, Depression – andere flüchten sich in Empörung, Attacke, suchen für das, was sie überfordert, Schuldige.

Insofern weckt Eva Lermers und Matthias Hudeceks Veröffentlichung Unsicherheit Erwartungen. Allerdings schwingt sich das Autorenduo nicht auf, mit seinem Buch einen Ausweg aus der globalen Krise zu weisen, wie der Untertitel „Globale Herausforderungen psychologisch verstehen und bewältigen“ nahelegt. Sie wollen vielmehr „einen Beitrag zum kompetenten Umgang mit Unsicherheit leisten“.

Durch gedankliche Verzerrungen verstärken wir unsere eigene Unsicherheit

Hier liefern Lermer und Hudecek, die als akademische Psychologen in den Bereichen Arbeit, Organisation und soziale Beziehungen forschen, interessante Studienergebnisse dazu, wie wir selbst durch unser Denken, unsere Schlussfolgerungen und unser Bedürfnis nach Kontrolle und Gruppenzugehörigkeit zur Verunsicherung beitragen. Sind es doch nicht nur komplizierte Zusammenhänge, die uns verstören, wie beispielsweise die geopolitischen und wirtschaftlichen Verstrickungen, die der Krieg gegen die Ukraine wie ein Katalysator zutage treten lässt.

Indem wir auf die Überforderungen mit gedanklichen Verzerrungen reagieren, mit Rückzügen auf fragwürdiges intuitives „Wissen“ und anderen Strategien, die uns davor schützen, Dissonanzen wahrzunehmen, verstärkt jede und jeder von uns die eigene und die kollektive Unsicherheit. Angetrieben wird diese Dynamik zudem durch die allgegenwärtige Kombination aus Kontrollverlust und Tempo.

Selbstverantwortlich statt wütend und resigniert

Was Lermer und Hudecek als „Unsicherheitskontexte“ genauer in den Blick nehmen, sind die Coronapandemie und die Auswirkungen der Digitalisierung – in der Arbeitswelt, durch technische Geräte und künstliche Intelligenz, durch Fakenews und Kryptowährungen.

Wer sich für diese Aspekte der gesellschaftlichen Transformationen interessiert, erhält interessante wissenschaftliche und alltagspraktische Informationen. Etwas befremdlich ist aller­dings, dass die wohl fundamentalste Verunsicherung der Menschheit – der Klimawandel mit seinen schon jetzt unübersehbaren Folgen – nur punktuell thematisiert wird, nämlich anhand des Beispiels, wie wir durch verantwortungsvolles Handeln Selbstwirksamkeit erreichen können.

Abschließend laden sie dazu ein, mehr Unsicherheit zu wagen und das eigene Denken und Handeln mit dem neu gewonnenen Wissen zu beobachten und zu korrigieren. Nachdrücklich plädieren sie für eine konstruktive Fehlerkultur und liefern einleuchtende Hinweise, wie wir den elementaren Verunsicherungen, die uns durch immer neue Krisen zugemutet werden, nicht resignativ oder aggressiv, sondern selbstverantwortlich und auf gemeinsame Werte verpflichtet begegnen können.

Eva Lermer, Matthias Hudecek: Unsicherheit. Globale Herausforderungen psychologisch verstehen und bewältigen. Ernst Reinhardt 2022, 218 S., € 19,90.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2023: Woher weiß ich, wer du bist?
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