„Die Pervertierung unseres Denkens​“

Verleugnen oder Schönreden: Die Psychoanalytikerin Delaram Habibi-Kohlen im Interview über unser gespaltenes Verhältnis zum Klimawandel.

In Berlin demonstrieren im Juni 2020 Klimaaktivisten der Extinction-Rebellion-Bewegung mitten auf der Straße mit einem blauen Auto, das auf dem Kopf steht
Pervertiertes Denken bestimme die Klimawandel-Debatte, so Psychoanalytikerin Delaram Habibi-Kohlen. © TOBIAS SCHWARZ/Getty Images

Frau Habibi-Kohlen, Sie sagen, der Klimawandel sei für uns „gefühlt bedeutungslos“. Wie sind Sie auf diese These gekommen?

Die Idee dazu kam mir Anfang der 2010er Jahre. Ich war in der Küche beschäftigt und hörte Radionachrichten – und wieder einmal hatte ich den Eindruck, dass in der öffentlichen Diskussion ökologische und wirtschaftliche Argumente gegeneinander ausgespielt werden, auf Kosten der ökologischen. Ich hatte das Gefühl, dass es schwer erträglich ist, ständig über die Gefährdung der Menschheit…

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Ich hatte das Gefühl, dass es schwer erträglich ist, ständig über die Gefährdung der Menschheit durch die Erd­erwärmung zu hören, zugleich aber immer wieder feststellen zu müssen, dass die Priorisierung rein wirtschaftlicher Aspekte die Bedeutung der Klimakrise ­auslöscht. Das hat mich dazu veranlasst, in tiefenpsychologischen Interviews mit 13 Psychologiestudierenden der Frage nachzugehen, warum wir trotz all unseres Wissens diesem Thema gegenüber so gleich­gültig zu sein scheinen.

Was haben Ihre Interviewpartner Ihnen gesagt?

Vielen Interviewpartnern wurde im Verlauf der Befragung klar, dass wir es hier mit einem zentralen Thema zu tun haben. Aber es war spürbar, wie unangenehm es ihnen war, sich damit zu beschäftigen. Sie äußerten beispielsweise Gedanken wie: „Wenn die Politik nichts macht, muss ich auch nichts machen.“ „Mächtige Konzerne sind schuld.“ Oder: Wenn man selbst weniger Auto fahre, der Nachbar aber nicht, habe man einen nicht hinnehmbaren Verlust. Ein Teilnehmer sagte: „Dann rottet sich der Mensch halt aus, wen würde das stören?“  

Manche sagten Sätze wie: „Das will ich gar nicht wissen“, oder: „Ich schalte dann einfach ab“. Andere schilderten Katastrophenszenarios, in denen die ­Natur zurückschlägt. Viele setzten sich in Kontrast zur Natur, als sei der Mensch selbst keine Natur. Wieder andere idealisierten die Natur als gute und schöne Mutter und hielten sie für im Grunde unzerstörbar.

Gab es auch die Vorstellung, der Klimawandel könnte positive Folgen haben?

Ja, zum Beispiel die, dass man dann in Deutschland oder Skandinavien Zitronen anbauen könne und Deutschland ein sonniges Touristenziel werde. Diese oder Aussagen wie „Auf die Malediven fährt man doch eh nur zum Tauchen“ legten nahe, dass sich manche nur mit eventuell positiven Folgen des Klimawandels für uns beschäftigen. Und es gab noch die Fraktion, die viel Vertrauen in technische Lösungen setzte, wie Entsalzungsanlagen für die Sicherstellung des Wassers zu errichten, Häuser hoch genug über dem Meeresspiegel zu bauen oder Menschen in die Arktis umzusiedeln, die ja dann warm genug sei.

Einige Befragte egalisierten den Klimawandel, sie zählten ihn gleichrangig neben anderen Problemen auf: Terrorismus, dem Wachsen populistischer Strömungen, dem Beschneiden von Frauenrechten. Dahinter steckt der Gedanke, es habe schon immer Probleme gegeben, es werde auch immer Probleme geben und man werde irgendwie weiterleben. 

Einige Befragte erkannten im Verlauf der Interviews, wie wichtig dieses Thema für sie war: Sie kamen an einen Punkt, an dem sie traurig wurden oder wütend. Sie fragten, was dem Leben eigentlich Sinn gebe: Haben oder Sein, und wie man beides in eine Balance bringen kann, die keine Auslöschung unserer Lebensgrundlagen mit sich bringt.

Sie führten diese Interviews vor rund neun Jahren. Wehren wir heute die Tatsache des Klimawandels und seiner schädlichen Folgen immer noch so ab?

Die vergangenen beiden Jahre mit der großen Hitze im Sommer, der Borkenkäferplage und häufigeren Stürmen haben uns nachdenklich gemacht: Wie viele Sommer halten die Bäume das noch aus? Mir scheint, dass wir heute dem Thema gegenüber weniger gefühlskalt sind als vielmehr resigniert und depressiv. Der Klimawandel wird jetzt stärker als Symptom einer globalen Krise verstanden, in der es um Verteilung und unser Miteinander geht. Daran sind viele Länder beteiligt, die untereinander zahlreiche Interessenkonflikte haben. Das erzeugt Verlustängste, denn es geht um die lebensnotwendigen Ressourcen wie Wasser, Land, Besitz von Haus und Wohnung, Geld, Frieden und nicht zuletzt Freiheit.

Ihre Diagnose lautet, dass wir uns in den Industriegesellschaften alle in einem pervertierten Gemütszustand befinden. Wie definieren Sie Perversion?

Mir geht es dabei nicht um das Individuum, sondern um eine kollektive Pervertierung unseres Denkens. Das Wort Perversion kommt von dem lateinischen Verb pervertere, das bedeutet verdrehen, verbiegen, umstürzen, umkehren. Man könnte sagen, wir leben in einer derart beschleunigten, überfordernden und komplexen Welt, dass die Menschen sich im Grunde sehr bedroht, hilflos und ausgeliefert fühlen. Dem muss etwas entgegengesetzt werden, um nicht in Angst unterzugehen. Deshalb verzerren wir die Realität, reden sie uns schön und drehen die Gefühle des Kleinseins um ins Gegenteil: Dann sind wir groß und nicht klein und ausgeliefert, wir sind überlegen statt unterlegen, wir lieben die Grenzenlosigkeit, statt uns mit der Begrenztheit abzufinden. Das sieht man an dem Gedanken, dass in einem erwärmten Deutschland Zitronen angebaut werden könnten. Hier wird ein Aspekt herausgepickt und die ebenfalls eintretenden negativen Folgen des Klimawandels werden völlig ausgeblendet. Wir sehen nur einen Bruchteil, der uns gerade passt.

Wir reißen die Dinge aus dem Kontext, wir leugnen Konsequenzen, wir bilden Illusionen, wir idealisieren, wir übertreiben. Wir reden Dinge klein, wir kontern aggressiv, wir halten uns alles offen oder neigen zu übertriebenem Hedonismus. Oder wir entwerten alles, was Schwäche suggeriert, wir bekämpfen Gesetze und Regeln, die dem Klimawandel entgegenwirken sollen, oder machen sie lächerlich.

Das klingt, als ob wir seelisch wieder zum Kind werden, als ob uns das erwachsene Denken abhandenkommt.

Wenn wir uns zu abhängig und hilflos fühlen, fallen wir seelisch auf eine frühere Entwicklungsstufe zurück, wir regredieren, wie man in der Psychoanalyse sagt. Das bedeutet, dass wir nicht mehr fähig sind, abzuwägen, uns selbst zu beobachten und differenziert zu denken. In dieser regredierten Verfassung machen wir Kurzschlüsse, weil wir schnell und für immer ganz einfache Lösungen haben wollen, die uns von allen Schwierigkeiten und Konflikten befreien. Wir neigen dann dazu, nur noch schwarz-weiß zu denken, und wollen alles Störende einfach weghaben. Wir können das gerade in vielen Ländern beobachten und es führt dazu, dass Menschen in die Regierungen gewählt werden, die diese einfachen Lösungen versprechen. Toleranz und Demokratie sind dabei gefährdet. Wir werden seelisch fundamentalistischer. 

Warum denken und fühlen wir so realitätsfern?

Es hilft uns dabei, die Abhängigkeit von Ressourcen nicht zu spüren. Wenn wir sie spüren würden, würden wir uns vollständig hilflos fühlen, wie ein kleiner Säugling. Verdrehtes Denken schützt uns vor den Enttäuschungen der Realität, es hilft, Verlust und Kummer nicht zu spüren, uns nicht ausgeliefert zu fühlen. Es liefert eine schnelle Orientierung an den Dimensionen gut/schlecht. Das waren die ursprünglichen Richtungsweiser am Anfang unseres Lebens.

Und so drehen wir das Ganze emotional und kognitiv einfach um: Wir begeben uns in eingeschränkte und realitätsverzerrende seelische Haltungen und entwickeln damit ein Gefühl von Omnipotenz, des Allwissens, der Mächtigkeit. Das geht einher mit dem Gefühl, dass uns „alles zusteht“, eine Art psychologisches Anspruchsdenken. Natürlich wird das noch verstärkt durch die vermeintliche dauerhafte Verfügbarkeit von Konsumgütern, von digitalen Kommunikationskanälen, von Verkehr und Infrastruktur. Die permanente Verfügbarkeit und Grenzenlosigkeit erlaubt uns, das Gefühl von Omnipotenz aufrechtzuerhalten. Paradoxerweise haben wir all das aus dem gleichen Grund selbst geschaffen, wir wollen dem Gefühl von Kleinheit, Hilflosigkeit und Abhängigkeit entgehen. 

Perversion, so die französische Psychoanalytikerin Chasseguet-Smirgel, ist auch eine Möglichkeit unserer Zivilisation. Der Mensch braucht Regeln und Grenzen zum Zusammenleben, aber er begehrt auch immer dagegen auf. Gerade erleben wir, dass es offenbar eine Grenze gibt. Das schafft die Möglichkeit zu einer Rückbesinnung auf andere Werte. Wenn wir es schaffen, aus dem polarisierten Denken auszusteigen, könnten wir neue Wege finden, um Ökologie und Ökonomie nicht mehr gegeneinander auszuspielen – denn beides brauchen wir –, sondern in eine neue Balance zu bringen. 

Können sich ganze Gesellschaften in diesem pervertierten Seelenzustand befinden?

Ja. Diese perverse Seelenverfassung ist kollektiv wirksam. Heute wird eine Grenzenlosigkeit im Umgang mit Ressourcen als selbstverständlich vorausgesetzt, wir teilen uns quasi selbst das Recht zu, „uns etwas zu holen“. Viele Unternehmen und Interessenverbände machen Werbung, die uns dazu anregt, passiv zu bleiben und uns versorgen zu lassen, die Anforderungen der Realität als lästig zu empfinden. Politiker bedienen diese Haltung, indem sie auf gesetzliche Eingrenzungen verzichten, wie etwa bei dem Tempo­limit in Deutschland.

Ein Beispiel für unsere realitätsverzerrende Mentalität ist der Emissionshandel, bei dem Unternehmen andere dafür bezahlen, dass sie für sie Emissionen einsparen. So werden Emissionen behandelt wie eine Ware, die hin- und hergeschoben, umetikettiert, weiterverkauft wird. Die Spieler auf dem Markt bedienen sich aller Vorteile, die sie herausholen können. Am Ende geht der Sinn des Emissionshandels, nämlich eigentlich weniger CO2 auszustoßen, verloren. Und individuell erscheint es zunächst sinnvoll, eine Flugreise auszugleichen, aber wir verhindern damit, dass man sie ganz unterlässt. Die Praktiken der Politik und der Unternehmen wirken zurück auf Individuen und suggerieren immer weitere Grenzenlosigkeit und Konsequenzenlosigkeit. Der Mensch kann die eigene Gier nicht einfach abschaffen. Er muss sie anerkennen als Tatsache, sie begrenzen und zivilisatorische Werkzeuge dafür schaffen, sonst untergräbt er seine Lebensgrundlagen. Es ist die Aufgabe der Politik, hier zu regulieren.

Sie sagen, pervertiertes Denken habe damit zu tun, dass wir gerne die Realität schönreden. Offenbar haben wir also ein durchaus problematisches Verhältnis zur Realität?

Ja, weil die Realität ihrem Wesen gemäß frustrierend ist, wenn wir das Paradies als Maßstab haben. Realität ist dann gleichzusetzen mit Frustration. Im Grun­de stehen wir alle von Geburt an mit der Realität mental und emotional auf Kriegsfuß. Die Zeit im Mutterleib können wir uns mehr oder weniger als paradiesisch vorstellen. Es ist warm, wir haben ein gewisses Maß an Bewegungsfreiheit, wir sind stets versorgt und müssen uns um nichts kümmern. Ob wir das alles wirklich so erleben, kann man schwer beweisen. In jedem Fall aber ist diese Zeit begrenzt. Irgendwann wird es eng – die Geburt steht an und damit zugleich die erste Frustration, der Abschied aus dem Mutterleib. Es folgen weitere Frustrationen im Verlauf des Lebens. Enttäuschungen und Abschiede passieren auf unserem Lebensweg immer wieder. 

Das dauerhafte Frustrationsgefühl in unserem Verhältnis zur Realität geht mit einer narzisstischen Kränkung einher: Wir sind nicht so mächtig, wichtig und ewig, wie wir gern wären. Um das zu kompensieren, eignen sich die Mechanismen der Verdrehung und Verleugnung sehr gut.

Wie wird sich Ihrer Meinung nach die Corona­krise auswirken?

Die Coronakrise konfrontiert uns mit Verlusten. Sie raubt uns etwas, nämlich unseren Alltag, unsere Routinen, unsere Möglichkeiten, unseren Interessen nachzugehen und die Menschen zu treffen, die wir sehen möchten. Das macht Angst und darum wird es mit der Coronakrise nicht einfacher. Durch sie erhöht sich das Risiko, dass wir noch mehr auf realitätsverzerrende Mechanismen zurückgreifen und regredieren, uns zurückziehen aufs Digitale. Andererseits erleben wir etwa über eine neue Freundlichkeit zwischen den abstandswahrenden Menschen so etwas wie eine Wertsteigerung der zwischenmenschlichen Kontakte. Es bleibt abzuwarten, ob wir am Ende tatsächlich mit etwas Neuem aus der Krise hervorgehen oder wieder in den alten Trott zurückfallen.

Gibt es einen Weg heraus in eine angemessene Wahrnehmung der Realität und einen angemessenen Umgang mit dem Klimawandel?

Wir können lernen, uns selbst zu beobachten und zu erkennen, wenn wir in realitätsabweisendes Denken und Fühlen abkippen. Erst einmal geht es darum, das auszuhalten, was der Psychoanalytiker Gerhard Schneider „nichthoffnungsleere Hoffnungslosigkeit“ nennt, denn das erleichtert es, unsere gewohnten Denkstrukturen zu hinterfragen und unsere Identität ein bisschen erschüttern zu lassen. Es geht darum, Nichtwissen und Verunsicherung auszuhalten. Und ich halte es für hilfreich, wenn man sich engagiert. Es gibt ja eine ganze Reihe Future-Bewegungen, auch Psychologists for Future. Psychologen vermitteln Wissen, wie man verhindern kann, dass man sich in so einem Engagement zu sehr verausgabt. Das Ziel sollte sein, dass wir wieder mehr zu denkenden Wesen werden, dass wir uns selbst mündig machen.

Sie sagten, es gebe eine narzisstische Kränkung aufgrund unserer Enttäuschung von der Realität. Wie können wir lernen, mit dieser Enttäuschung besser zu leben?

Letztlich geht es vermutlich um eine Neubewertung dessen, was uns wichtig ist. Wenn wir Beziehungen als wichtig für uns anerkennen, also die Tatsache, dass der Mensch den Menschen braucht, kommen wir eher wieder zu dem Gedanken einer Gemeinschaft, in der der Einzelne etwas für alle tut und dass das befriedigend sein kann. Das ist eine andere Orientierung als die an der Rivalität und Instrumentalisierung des anderen. Um dahin zu kommen, bedarf es einer Trauerarbeit und der Loslösung vom paradiesischen Ideal. Dann können wir vielleicht Freude an einer Mitarbeit in Gruppen gewinnen. 

Delaram Habibi-Kohlen ist niedergelassene Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin (DPV/IPA/ ­DGPT). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Behandlungstechnik, Klimawandel und das Unbewusste in Politik, Gesellschaft und Kultur

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2020: Die Macht des Selbstbilds