Wut und Scham in der Therapie

Kolumnistin Tabea Farnbacher erkennt: hinter der Ablehnung einer schwierigen Patientin verbirgt sich eine interessante Selbsterkenntnis

Die Illustration zeigt eine Person dreimal mit unterschiedlichen Emotionen
Jede Emotion hat ihre Funktion. Fest verinnerlicht für ihre Patientinnen, vergisst Tabea Farnbacher das bei sich selbst immer mal wieder © Rosa Viktoria Ahlers für Psychologie Heute

An meiner Arbeit liebe ich besonders, dass sie mich stärker mit anderen Menschen in Verbindung bringt. Manchmal arbeite ich mit Personen, denen ich auf einer Party eher aus dem Weg gehen würde. Aber je länger ich mit ihnen spreche, desto mehr mag ich sie in der Regel auch. Ich lerne, weshalb sie sich auf ihre Weise verhalten und entwickle ein tieferes Verständnis für ihr So-Sein. Nicht so bei Frau L. Es löst Scham in mir aus, das zu schreiben, aber: Je gesünder Frau L. wird, desto weniger kann ich sie annehmen.

Als ich Frau L. kennenlernte, war sie stark belastet. Sie brach ständig in Tränen aus. Ihr Kühlschrank war leer und ihre Wäsche stockte tagelang in der Waschmaschine, bis sie diese schließlich erneut einschaltete und wieder nicht aufhängte. Ihre Freundinnen rief sie nicht zurück und das Einzige, was sie ein wenig aufmunterte, war das Anschauen von Dokus über ihre heißgeliebten 90er-Jahre-Bands. Im Laufe unserer gemeinsamen Sitzungen wurde deutlich, dass sie in ihrer Jugend ständig Konflikte hatte – mit ihren Eltern, ihren Freundinnen, mit fremden Menschen in der Bahn. Sie habe „denen“ einfach ihre Meinung vor den Kopf geknallt. Sie sehe es wie der Grunge-Rock-Sänger Kurt Cobain: „I’d rather be hated for who I am, than be loved for who I’m not.“ Doch nun war sie Mitte dreißig und seit ihrer depressiven Phase grüble sie ständig, was andere wohl von ihr dachten. Als Therapieziel brachte sie deshalb mit, wieder mehr zu sich zu stehen und Auseinandersetzungen selbstbewusst zu führen.

Es machte Spaß, mit Frau L. zu arbeiten – wir sammelten geliebte Erinnerungen und aktuelle Stärken. Wir ermittelten Lebensbereiche, in denen sie schrittweise wieder aktiver werden konnte. Vor allem ging sie wieder auf Konzerte und in ihre geliebte Karaokebar. Für jede Lebenssituation fiel ihr eine motivierende Textzeile aus einem Lied ein. Doch mit der Lebenskraft kam auch die Reibungsfähigkeit – und betroffen stellte ich fest, wie unsympathisch ich Frau L. manchmal fand. Je selbstbewusster sie wurde, desto konfliktsuchender wurde sie. Andere Menschen bezeichnete sie regelmäßig als „vollkommen hirnverbrannt“. Erst dachte ich, dass sie sich vielleicht nicht bewusst wäre, wie abwertend sie manchmal über andere sprach. Ich versuchte, ihr emotionale Muster zu spiegeln: „Wenn sie sich schämen, dann holen Sie sich etwas Stolz zurück, indem Sie andere abwerten“. Sie dachte kurz nach und sagte, zufrieden lächelnd, „Ja, genau.“

Der innere Konflikt, Frau L.s Veränderung therapeutisch, aber nicht persönlich, gutzuheißen, belastete mich. Ich rief eine Therapeutin aus meiner Supervisionsgruppe an, die lachen musste. „Also weil du von allen gemocht werden musst, müssen andere das auch wollen?“. Sie erinnerte mich daran, dass es meine Aufgabe sei, Leidensdruck zu reduzieren. Die Konfliktfreude von Frau L. schien ihr Leid allerdings nicht zu verstärken, sie hatte etwas Lösendes. „Aber wie mache ich jetzt mit der Patientin weiter?“, fragte ich meine Kollegin. „Naja, schadet ihre Direktheit denn ihren Therapiezielen?“ Mir schoss der Satz von Kurt Cobain in den Kopf, den Frau L. so oft zitierte und sagte: „Im Gegenteil!“ Die depressiven Symptome waren deutlich zurückgegangen, das Leben von Frau L. war wieder so bunt, wie zuvor und in ihrem sozialen Umfeld wurde ihre raue Art geschätzt. Als meine Kollegin mich fragte, woran wir beiden denn jetzt noch arbeiten würden, schwieg ich.

Plötzlich erkannte ich, dass meine Schwierigkeit, Frau L. anzunehmen, nicht nur aus meiner moralischen Haltung kam, sondern eine sinnvolle Botschaft für unseren gemeinsamen Prozess in sich trug. Meine Privatperson war stärker zu spüren, weil meine innere Therapeutin weniger zu tun hatte. Während ich für meine Patientinnen verinnerlicht habe, dass jede Emotion auch ihre Funktion hat, vergesse ich das bei mir selbst immer wieder. Doch auch meine Irritation ließ sich nutzen: Sie zeigte mir schließlich, dass ich nach einem Auftrag suchte, den es nicht mehr gab. Weil auf der Ebene des Leidensdrucks und der Therapieziele nur noch wenig unbesprochen war, hatte ich unbewusst begonnen, mich mit dem reibungsfreudigen Charakter von Frau L. zu beschäftigen.

Als ich Frau L. gegenüber ansprach, wie nah sie aus meiner Sicht ihren Therapiezielen gekommen sei, stimmte sie mir zu. Wir beschlossen, die Therapie zeitnah zu beenden und verwendeten noch einige Sitzungen darauf zu planen, wie sie ihre Erfolge aufrechterhalten könne. In diesen Stunden spürte ich keine Ablehnung mehr. Wir waren wieder ein Team mit gemeinsamem Ziel.

Heute ist unsere letzte Sitzung. „Danke, ich bin jetzt wieder stark genug, um Ich zu sein“, sagt Frau L. herzlich. Ich lächle ehrlich zurück: „Sie sind ihren Zielen ein ganzes Stück nähergekommen – und ich habe viel von Ihnen gelernt.“

Das Foto zeigt ein Portrait von Tabea Farmbacher
Das Foto zeigt ein Portrait von Tabea Farmbacher
Tabea Farnbacher wurde 1996 in Hannover geboren. Sie arbeitet als Psychologin und Psychotherapeutin in Ausbildung in einer psychiatrischen Klinik im Ruhrgebiet. Seit 2016 ist sie außerdem als Bühnenpoetin und Lyrikerin tätig. Farnbacher wurde mehrfach für ihre schriftstellerische Arbeit ausgezeichnet unter anderem mit Bundespreis „Treffen junger Autorin:innen“. In dieser Kolumne schreibt sie über ihre Erfahrungen und ihre Entwicklung als junge Therapeutin.

Transparenz-Hinweis: Es gibt keine Therapeutin ohne Patientinnen – deshalb erzählt diese Kolumne von Menschen in der Psychiatrie. Da der Schutz der Behandelten an oberster Stelle steht, werden die Fallbeispiele bezüglich ihrer soziodemographischen und biografischen Daten stark verändert und erscheinen mit zeitlichem Abstand. Die berichteten Begegnungen bleiben in ihrem emotionalen Kern erhalten.

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