„Das Gros der Menschen taumelt auf das eigene Ende zu, ohne sich je darin geübt zu haben, im Bewusstsein der Abschiedlichkeit zu leben“, schreiben Sie in Ihrem Buch. Ist die Todesvergessenheit im Alltag nicht eine gute, vielleicht die einzige Möglichkeit, das eigene Leben zu leben?
Nach meinem Eindruck ist es genau umgekehrt: Weil wir unsere eigene Vergänglichkeit verdrängen, sind wir überhaupt in der Lage, Konflikte zu eskalieren, andere zu verfolgen oder gar Kriege zu führen, so als ginge es im Kern darum, zu „gewinnen“. Doch was können die Menschen tatsächlich gewinnen, wenn wir alle, Täter wie Opfer mittel- und langfristig tot sein werden? Das Einzige, was wir vermögen, ist doch, vor uns selbst und anderen unsere Handlungen zu verantworten. Das ist der ethische Kern, vor dessen Hintergrund vieles verdampft, für das wir uns in der Todesvergessenheit so leichtfertig aufreiben. Wer im Bewusstsein der Abschiedlichkeit lebt, der führt keine Kämpfe mehr, um Recht zu bekommen. Michael Kohlhaas folgte ebenso wenig einem abschiedlichen Lebensmodus wie der Mitarbeiter, der aus Prinzip gegen jede Chefin zu Felde zieht, oder auch die Partnerin, die ihrem Gegenüber in Dauerschleife Vorwürfe macht.
Sie raten, dem „Repeatmodus zu entschlüpfen“. Was genau meinen Sie damit?
Wenn uns die Hirn- und Wahrnehmungsforschung nachdrücklich darauf hinweist, dass alles Erkennen stets auch ein Erinnern ist, dann haben wir alle Hände voll damit zu tun, den jeweils aktuellen Beziehungen und Konstellationen unseres Lebens so zu begegnen, dass sich nicht endlos Altes wiederholt, sondern Neues entstehen kann: Beziehung, Verständigung und Frieden. Wenn wir die banalen Mechanismen und Muster unseres Beobachtens und Beurteilens durchschaut haben, dann können wir erschrocken feststellen, dass wir Verursachungen ebenso falsch zuschreiben, wie Vorwürfe unpassend adressieren.
Was bedeutet das?
Der kluge Satz aus dem Talmud „Wir sehen die Welt nicht so wie sie ist, sondern so wie wir sind!“ wird uns durch die neueren Erkenntnistheorien nachdrücklich ans Herz gelegt. Wir können aus dieser Subjektgebundenheit des Erlebens aber aussteigen, wenn wir lernen, dem jeweiligen Gegenüber zuzuraunen: „Ich sehe dich nicht, wie du bist, sondern so, wie ich bin! Verzeih mir!“ Dies ist ein Ausstieg aus der Wiederholung und der Aufbruch zu einem frischen Denken!
„Ich habe keine Ahnung, warum mein Gegenüber so agiert, wie es dies tut“ – warum raten Sie, sich diese Haltung zu eigen zu machen?
Indem ich mich ganz bewusst von den Bildern, Vorstellungen und Gedanken löse, welche die Erscheinung und das Auftreten des Gegenübers in mir auslösen, ermögliche ich diesem, neu in Erscheinung zu treten. Die Frage ist dann nicht länger: Was ist eine lernbeeinträchtigte Schülerin, ein beziehungsgestörter Partner oder ein narzisstischer Chef? Sondern: Wie konstruiere ich mir eine solche Person und warum?
Wie gelangt man zu der abschiedlichen Grundhaltung, für die Sie plädieren?
Durch Übung! Eine solche Grundhaltung ist uns nicht in die Wiege gelegt, vielmehr haben wir die Verdrängung unserer eigenen Vergänglichkeit perfektioniert. Heute stehen wir vor dem Problem, dass uns die alten Aufbruchs-, Durchhalte- und Fortschrittsparolen selbst nicht mehr überzeugen. Wir beginnen, uns vor der Durchschaubarkeit und Fragilität unserer sogenannten Erfolge zu ekeln. Deshalb ist die Umkehr, die Erzeugung und Stärkung neuer Leitbilder eine persönliche und eine gesellschaftliche Aufgabe.
Rolf Arnold, emeritierter Professor Dr. Dr. h.c., ist als internationaler Berater beim Aufbau von Bildungssystemen, der Führungskräfteentwicklung und als didaktischer Organisationsberater größerer Bildungsprovider engagiert. An der RPTU leitet er die Masterprogramme „Systemische Beratung“ und „Leadership" (systhemia.com)
Rolf Arnolds Buch Keine Zeit für grüne Bananen. Die aufklärende Kraft der Vergänglichkeit ist bei Carl-Auer erschienen (100 S., € 19,95)