Ein sehr eigenes Sterben

Therapiestunde: Ein Patient versucht mit sehr eigenen Entscheidungen, am Ende seines Lebens die Kontrolle zu behalten.

Ein Mann steht mit einem Rechen im oberen Teil einer Sanduhr und schiebt Sand durch die Öffnung, und darunter fällt der Sand auf ein Grab mit Grabstein
Den Tod beschleunigen – und auf diese Weise die Kontrolle über ihn behalten. © Michel Streich

Thomas ist tot. Ein paar Jahre mehr als sechzig ist er geworden. Sein Sterben hat lange gedauert, zu viel Zeit brauchte es, bis sein massiver Körper in die Knie gezwungen war. Sein Herz war noch so jung, sagt man wohl und meint dabei doch auch, dass noch so viel ungelebtes Leben in ihm war, von dem er in seinem Sterben Abschied nehmen musste. Über eine entfernte Bekannte hatte er vor Jahren zu mir gefunden. Seine großmütige Art und sein Humor, der eine ­kleine männerbündelnde Seite miteinschloss, zeichneten…

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Art und sein Humor, der eine ­kleine männerbündelnde Seite miteinschloss, zeichneten ihn aus.

Er war verzweifelt, weil er beim Verkauf seines gutgehenden Unternehmens über den Tisch gezogen worden war. Die Geschäftspartner rissen alles sofort an sich und seine Zeit als Berater in der früher eigenen Firma fiel ins Wasser. Zum ersten Mal in seinem Berufsleben konnte er nicht mehr aus dem Vollen schöpfen und seinem luxuriösen jazzseligen Leben nachgehen. Wir arbeiteten daran, dass er sich in seinem neuen, sehr bescheidenen Leben zurechtfinden konnte.

Er musste vor allem sich selbst verzeihen. Er war ein schlauer Mann und dennoch war er so unvorsichtig gewesen, diesen Geschäftsleuten zu sehr zu vertrauen, anstatt sich durch druckfeste Verträge abzusichern. Er fand in dieser kurzen ersten Sequenz unseres therapeutischen Prozesses einen neuen Job und schaffte es als Berater, eine kleine Firma wieder überlebensfähig zu machen. Eine zugetane alte Schulfreundin überließ ihm eine kleine Hütte vor den Toren Hamburgs, so dass sein monatlicher Finanzbedarf auf ein ­Minimum reduziert wurde.

Wir sahen uns für ein paar Jahre nicht mehr. Beim ersten erneuten Zusammentreffen kam ein veränderter Mann durch die Tür. Die Blickdiagnose ließ mich innerlich zusammenkrampfen: Thomas litt sichtbar unter einem Morbus Parkinson. Kleinschrittigkeit, Schüttellähmung mit Betonung der rechten, seiner dominanten Seite, Beeinträchtigung der Artikulation des Sprechens und auch das sogenannte Salbengesicht gaben unfreiwillig Auskunft über seine schwere Erkrankung.

Im eisigen Griff

Ich konnte es kaum glauben, er wollte nach außen nicht zugeben, dass er in dieser Weise krank war. Ich machte ihm klar, dass er durch Medikamente durchaus eine bessere Lebensqualität haben könne. Irgendwann gab er den Widerstand auf. Ja, er habe Parkinson, wie sein Vater, dessen qualvoller Tod für ihn und die Mutter der jahrelange Albtraum war. Er wisse, was diese Diagnose heiße. Alle Männer in seiner Familie seien gerade einmal so alt geworden wie er. Das Wichtigste aber sei, seiner Mutter, gerade dreiundachtzig geworden, die Diagnose nicht zu nennen. Das würde ihr den letzten Lebensmut nehmen und sie traumatisieren.

Wir sprachen in den nächsten Sitzungen über sein Verhältnis zu seiner Mutter. Es war geprägt von liebevollen Zügen totalen Vertrauens, aber gleichzeitig spürte man den eisigen Griff einer Frau, die ihren Sohn nie loslassen konnte. Der jüngere Bruder war einer der ersten Aidstoten in Deutschland. Sie musste zusehen, wie dieser in wenigen Monaten vor ihren Augen zerfiel. Dies nahm Thomas noch mehr in die Pflicht. Er schien zwischen Bindung und Lösung hin und her gerissen zu sein, er konnte keinen guten Kompromiss zwischen der Liebe zur Mutter und seinen eigenen Lebensansprüchen finden.

So hatte er vor all diesen Katastrophen eine tiefe Liebe zu einer Musikerin. Thomas war in Gefahr, sich darin zu verlieren und dabei die sorgsam austarierte ­Balance zwischen seinen Bindungswünschen und seinem Autonomiestreben, das viele Heimlichkeiten miteinschloss, aufgeben zu müssen. Er wollte sich in seinen von ihm als erbärmlich empfundenen Schwierigkeiten nicht offenbaren, sondern „kompartimentalisierte“ sein Leben. Keiner bekam die ganze Wahrheit zu hören. Dicke Wände teilten sein Leben in verschiedene Kammern, die voneinander nichts wissen sollten. Seine große Liebe gefährdete diesen Lebensstil, also ging er einfach weg, trauerlos und ohne Blick zurück, eben rücksichtslos. Dieses den Bindungen schlicht den Rücken Zukehren ist wohl auch immer eine der Zutaten solcher Lebensläufe.

Durch unsere Arbeit gelang ihm schließ­lich die Selbstoffenbarung gegenüber der Mutter. Durch seine Offenheit war es ihm möglich, die alte, vertraute Nähe wiederzuerlangen. Er konnte sich endlich beim Neurologen medikamentös einstellen lassen und gewann eine beachtliche Lebensqualität zurück. Gleichzeitig konnte er seine frühere Sekretärin, mit der er über Jahre ein lockeres erotisches Verhältnis gepflegt hatte, erneut positiv für sich einnehmen. Sie begann, sich umsichtig – aber mit Sicherheitsabstand – um ihn zu kümmern.

Die alten Gespenster

Was ich nicht wusste, zeigte sich erst bei unserem dritten Aufeinandertreffen. Er wurde wegen heftiger Rückenschmerzen ins Krankenhaus eingeliefert. Ein Ganzkörper-CT offenbarte den fatalen Befund: Fast alle Knochen der Wirbelsäule und des Schädels waren komplett durchmetastasiert. Niemandem gegenüber hatte er die vor wenigen Jahren gestellte Diagnose eines Prostatakarzinoms mitgeteilt. Auf meine Nachfrage nach dem Warum, sagte er, dies sei eine wohlüberlegte Entscheidung, zu der er auch stehe. Er habe jede Therapie bewusst abgelehnt. Der Krebs sei doch eine Chance, viel weniger schlimm als das langsame Sterben am Morbus Parkinson wie bei seinem Vater. Der Krebs, so Thomas’ Erklärung, sollte das Wettrennen mit dem Morbus Parkinson gewinnen und ihn vorzeitig töten. Jetzt war für eine andere Entscheidung alles zu spät.

Er war jetzt auf der Zielgerade seines Weges angekommen. Er hoffte auf mein Verständnis, auch wenn ich ihm einen anderen Weg vorgeschlagen hätte, und auf meine unverbrüchliche „Waffenbrüderschaft“. Er wollte nicht verlassen werden, auch wenn ich für Teile seines Handelns nur Kopfschütteln übrig hatte. So logisch er seine Entscheidungsfindung auch anpries, angesichts all der medizinischen Unwägbarkeiten in diesem Stadium war sie es nicht.

In einem letzten Aufbäumen hatte er verfügt, dass seine Mutter nicht am Grab stehen sollte. Über einen heftigen Streit war es so zum Dissens gekommen, dass er nicht mehr mit ihr sprechen wollte und keinerlei Nähe mehr wünschte. Er wollte ihr auch einfach die Bilder seines Zugrundegehens ersparen. Ich verstand ihn so, dass er nur in der Separation das Gefühl hatte, sein Leben und Sterben in seinem Besitz halten zu können. Die alten Gespenster waren nie wirklich von ihm in der Therapie auf die Tagesordnung gesetzt worden und dadurch verschwunden.

Ich blieb auch auf den letzten Stationen seines eigenartigen Lebensweges bei ihm – von der Heimpflege über das Krankenhaus bis ins Hospiz. Sein Zustand war erbärmlich. Er konnte sich kaum noch verständlich machen, so dass unsere Gespräche verstummten. Wir konnten uns nur noch in die Augen sehen und auf ein Verstehen hoffen. Die Einnahme der Parkinsonmittel war nicht mehr möglich, so dass er wie eingemauert in seinem Bett lag. Musik hatte uns immer verbunden. Ganz am Ende spielte ich ihm noch einmal das Andante aus der a-Moll-Solosonate von Bach vor. Er schien zu verstehen. Die Kran­kenschwestern im Hospiz, wahre Engel des Alltags, gaben sich alle Mühe und kämpften gegen seine Not. Dann hatte er es endlich geschafft.

Von seiner Lebensbegleiterin hörte ich noch, dass die Mutter gegen seinen ausdrücklichen Wunsch doch zur Trauerfeier erschien und er auch noch in der verhassten Familiengruft bestattet wurde. Sie habe es sich nicht nehmen lassen wollen, war ihre Begründung. Nehmen und Geben und Verstrickung bis über den Tod hinaus, ging es mir in meinem Abschied durch den Kopf.

Burkhard Hofmann arbeitet seit 1991 als Facharzt für psychotherapeutische ­Medizin in ­eigener Praxis in Hamburg. 2018 erschien sein Buch Und Gott schuf die Angst. Ein Psychogramm der arabischen Seele bei Droemer Knaur

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2020: Die Macht des Selbstbilds