Wir Endlichen

Wie wir lernen können, die Vergänglichkeit anzuerkennen, zeigt die Philosophin Ina Schmidt.

Wann geht unser Leben zu Ende? Wir wissen es meist nicht. Aber wir wissen, dass es endet, dass im Grunde alles in unserem Sein vergänglich ist. Doch wie gehen wir damit um, dass nichts bleibt? Dieser und anderen existenziellen Fragen widmet sich die Philosophin Ina Schmidt in ihrem Buch Über die Vergänglichkeit. Eine Philosophie des Abschieds. Darin zeigt sie zunächst, wie allgegenwärtig und wiederkehrend Abschied ist – weil jeglicher Moment vorübergeht, Menschen sterben, Lebensabschnitte enden oder auch nur weil die Lieblingstasse zerbricht und fortan nicht mehr für den morgendlichen Kaffee zur Verfügung steht.

Schmidt führt an, dass es den Menschen schwerfällt, vor allem die eigene Sterblichkeit anzunehmen. „Immer haben wir Menschen dem Wandel der Zeit, der eigenen Endlichkeit etwas entgegenzusetzen versucht“, heißt es in ihrem Buch. Wir erstrebten „ein Vermächtnis und Erbe, das über uns hinausreicht und vielleicht sogar das eigene Ende hinauszuzögern vermag“. Die Philosophiedozentin von der Universität Rostock verweist dabei etwa auf Religionen, die ein Leben nach dem Tod versprechen. Die Naturwissenschaften versuchten seit jeher, das Rätsel des Lebens zu entschlüsseln – auch mit dem Ziel eines längeren, gar ewig währenden Daseins. Und auch auf den heutigen Trend, sich im Internet durch soziale Medienkanäle zu verewigen, geht die Autorin ein.

Fragen, die nachdenklich stimmen

Schmidt verfolgt in ihrer Schrift nicht das Ziel, hilfreiche Tipps zu geben oder durch bestimmte Ansichten den Leser zu erbauen, sondern verpflichtet sich dem Ureigenen der Philosophie: dem offenen Denken. Ihre und die Gedanken namhafter Philosophen von Aristoteles bis Sartre, von Arendt bis Schopenhauer sollen einen Weg aufzeigen, um mit Anfang und Ende in unserem Leben umgehen zu lernen. Von der Antike bis zur Moderne: Wohl alle Philosophen haben sich mit der Endlichkeit beschäftigt und dazu spannende, bisweilen überraschende Anschauungen geäußert.

In ihren Ausführungen zeichnet Ina Schmidt dem Leser unter anderem mithilfe der namhaften Kollegen häufig noch unbetretene Gedankenwege auf, so etwa wenn sie beschreibt, wie in der westlichen Welt Abschiede begangen werden, und dabei erfragt, weshalb es diese braucht. Dienen Abschiedsrituale tatsächlich der Loslösung oder sind sie nur eine Handlung, die Halt gibt? Und nehmen wir in solchen Momenten auch wirklich Abschied? Schmidts Fragen stimmen nachdenklich, immer wieder hält man inne und fragt weiter.

Die Autorin geht anfangs nahe am herkömmlichen Alltagserleben entlang, wird im mittleren Teil des Buches aber zunehmend fachlicher, etwa wenn sie dem Leser die Grundzüge der Philosophie und des philosophischen Denkens nahebringt. Doch nicht nur deswegen, auch aufgrund der Vielzahl an Überlegungen, die man am liebsten in ein Notizbuch extrahieren möchte, um später weiter darüber nachzusinnen, oder weil deren Tiefe beeindruckt, wird dieses Buch zu einer Lektüre, die viel Zeit braucht – die aber auch einiges im eigenen Denken anzustoßen vermag.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2020: Mein wunder Punkt
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