Was Sokrates zu Ihren Sorgen sagt

Philosophie ist populär wie selten zuvor. Aristoteles und Kollegen scheinen Antworten für jede Lebenslage zu liefern. Was ist davon zu halten?

Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Werde ich gelassener, wenn ich älter werde? Warum ist die Liebe so schwierig, und wie gelingt sie dennoch? Das sind einige der Fragen, mit denen sich die deutschen Philosophen Richard David Precht und Wilhelm Schmid in ihren Sachbüchern beschäftigen. Offenbar sprechen sie damit ein großes Publikum an: Allein Prechts Buch Wer bin ich –und wenn ja, wie viele? hat sich bis heute mehr als zwei Millionen Mal im deutschsprachigen Raum verkauft.

Nicht nur philosophische Bücher…

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als zwei Millionen Mal im deutschsprachigen Raum verkauft.

Nicht nur philosophische Bücher sind gefragt: Viele Menschen haben auch das Bedürfnis, über Philosophie zu reden. In den vergangenen Jahren haben sich verschiedene Angebote etabliert, die unter den Begriff „philosophische Praxis“ fallen, sei es in Form von Einzelgesprächen oder Gruppendiskussionen. Die deutschsprachige Internationale Gesellschaft für Philosophische Praxis zählt etwa 150 Mitglieder, der amerikanische Verband National Philosophical Counseling Association hat etwa 400 Mitglieder – doppelt so viele wie noch vor zwei Jahren. Es gibt in Deutschland philosophische Cafés, Philosophieren für Kinder, philosophische Reisen und philosophische Publikumszeitschriften wie das Philosophie Magazin und Hohe Luft.

Wie kommt es, dass sich so viele Menschen für Philosophie interessieren, ein Fach, das lange Zeit als zu abstrakt, als zu fern von den alltäglichen Sorgen galt? Hilft Philosophie denen, die sich innerlich leer fühlen? Hat die Psychologie keine Antworten auf ihre Fragen? Sind Philosophen dafür ausgebildet, sich um solche Menschen zu kümmern? Oder versprechen sie mit der Popularisierung der Philosophie etwas, was das Fach nicht zu leisten vermag?

Richard David Precht jedenfalls sagt, dass das Interesse der breiten Bevölkerung an philosophischen Fragestellungen kein wirklich neues Phänomen sei. Precht hat kürzlich den ersten Band seiner dreiteiligen Geschichte der Philosophie veröffentlicht und vergleicht darin unsere Gegenwart mit jener Zeit, in der griechische Denker wie Epikur und die sogenannten Stoiker tätig waren – die ersten Philosophen, die ihr Sujet explizit als Lebenshilfe begriffen. Precht nennt sie die Gründer der Selbstmanagement- und der Ratgeberliteratur.

„Epikur war eine Art spiritueller Guru, der eine Kommune aufbaute und in ihr das richtige, gute Leben vorleben wollte“, sagt Precht. „Dafür wurde er von den akademischen Philosophen angefeindet. Aber die Sinnsuche war eine logische Reaktion auf die eher optimistische, politische Philosophie von Platon und Aristoteles, die noch große Utopien des menschlichen Zusammenlebens entwarfen. Ihnen folgte eine Phase der Ernüchterung, da die Gesellschaftsentwürfe nicht griffen, und in einer solchen Phase befinden wir uns erneut.“

Sie begann nach Prechts Einschätzung in den 1970er Jahren, als viele Menschen erkannten, dass die Proteste der 1960er dem Kapitalismus langfristig nichts anhaben konnten. Die Hoffnung auf eine bessere und gerechtere Welt war verflogen, die ehemaligen Aktivisten waren ernüchtert. Sie wandten sich ab von gesellschaftlichen Problemen und begannen, sich mit ihrem eigenen Glück zu beschäftigen. „Zunächst wandten sich viele Leute den Philosophien des Fernen Ostens oder der Esoterik zu“, sagt Precht. „Die klassische abendländische Philosophie galt als zu schwierig für die Allgemeinheit aufzubereiten, aber das ändert sich allmählich, und seither steigt das Interesse an ihr.“ Ein Grund dafür sei auch der Bedeutungsverlust der Kirchen und Religionen.

Wilhelm Schmid sieht es ähnlich: „Die Menschen haben keine Normen mehr, die bislang von der Religion erlassen, von der Tradition überliefert oder durch die Konvention vorgegeben wurden. Also müssen sie sich selbst orientieren.“ Ratgeber, die ihren Lesern das Denken abnehmen, befriedigen viele Menschen nicht. Schmid sagt, seine Bücher seien für Menschen, die selbst denken können und wollen.

Während der Glauben für große Bevölkerungsschichten an Relevanz verloren hat, lässt sich zugleich ein zunehmender religiöser Fundamentalismus beobachten. Der Philosoph Michael Hampe, der an der ETH Zürich lehrt, sieht auch darin einen Grund für das neue Interesse an westlicher Philosophie. Man wende sich bewusst den Wurzeln und Idealen der abendländischen Aufklärung zu.

Manche Philosophen gehen so weit, dass sie die Philosophie als Alternative zur Psychologie – genauer: zur Psychotherapie – bewerben. Der kanadische Autor Lou Marinoff, der Bücher wie Plato, Not Prozac! (auf Deutsch: Bei Sokrates auf der Couch) geschrieben hat, geht davon aus, dass viele Probleme unserer Seele ihre Ursachen darin hätten, dass wir am Sinn des Lebens zweifeln. Psychologen und Psychiater schlössen zu schnell auf eine psychische Störung und verordneten Therapien oder Medikamente. Dabei seien die meisten mentalen Probleme weder emotional noch biochemisch zu lösen, sondern philosophisch.

Alain de Botton veröffentlichte 1998 ein Buch, in dem er die Philosophie, Literatur und Kunst mit den gängigen Formeln eher psychologisch orientierter Ratgeberliteratur verknüpft: Wie Proust Ihr Leben verändern kann. Eine Anleitung. Zehn Jahre später gründete de Botton in London die School of Life, die mithilfe von Kultur unsere „emotionale Intelligenz“ stärken soll. Die Schule gibt Kurse wie „Wie man ruhig bleibt“, „Wie man eine gute Führungskraft ist“ oder „Wie man besser in der Liebe kommuniziert“. Im hauseigenen Shop kann man Bücher mit ähnlichen Titeln kaufen – neben Schlüsselanhängern mit philosophischen Sprüchen oder Honig aus Griechenland. Unter dem Überbegriff „Therapie“ bietet die School of Life zudem sowohl klassische Psychotherapien als auch philosophische Lebensberatungen zur Persönlichkeitsentwicklung an.

Kierkegaard als Hausaufgabe

Der amerikanische Psychologe Samuel Knapp hat das weltweite Angebot an philosophischen Beratungen analysiert und zwei Richtungen ausgemacht: narrow scope- und broad scope-Beratungen, zu Deutsch etwa „eng gefasst“ und „weit gefasst“. Die narrow scope-Philosophen beschäftigen sich mit Problemen, die in der Psychotherapie nicht behandelt werden, etwa ethischen, metaphysischen, politischen oder rein logischen Fragestellungen. Klienten kommen in die Beratung, weil sie in ihrem Beruf vor einem ethischen Dilemma stehen, weil sie ihre Weltsicht hinterfragen oder wissen möchten, was ein würdevolles, freies Leben ausmacht. Die broad scope-Philosophen bieten ihre Dienste offensiv als Alternative zur Psychotherapie an. Sie behandeln Lebenskrisen, Ängste und Depressionen.

Tatsächlich haben sich alle philosophischen Berater Techniken aus der Psychotherapie angeeignet, etwa den Rahmen für die Gespräche. Sie dauern ungefähr eine Stunde und finden wöchentlich oder 14-tägig in professionellen Praxisräumen statt. Die Berater hören zu und reden – ihr Ziel ist, die irrationalen Annahmen ihrer Klienten zu identifizieren. Mitunter geben sie den Klienten philosophische Werke zur Lektüre als Hausaufgabe mit.

„Ich gebe regelmäßig Textabschnitte heraus, die zu den Problemen der Klienten passen“, sagt Oliver Florig, der als philosophischer Berater, Logotherapeut und Heilpraktiker Psychotherapie in Heidelberg und Kempten arbeitet. „Zum Beispiel hatte ich einen Klienten, der Ende 30 war. Er hatte studiert, aber er wusste nicht genau, wie er sein Leben gestalten sollte. Soll er seine Freundin heiraten? Wie geht es beruflich weiter? Er wollte das Optimum und nichts falsch machen. Ich gab ihm einen Text über die ‚Krankheit der Möglichkeiten‘ von Søren Kierkegaard.“ Darin geht es um die Notwendigkeit von Einschränkungen und die Möglichkeit, Fehler zu machen, sobald man im Leben konkret wird. „Darüber konnten wir sprechen und so einen Zugang zu den Problemen finden“, meint Florig.

Der Philosoph sucht nach Widersprüchen im Denken seiner Klienten. Florig fragt: „Welche Argumente gibt es für die Einstellung, die jemand hat? Ist sie auch auf den zweiten Blick angemessen, wahr und gut?“ Der Klient denke dann über die Einstellung nach und lockere sie. „Im zweiten Schritt geht es darum, was angemessen und hilfreich ist. Menschen können an der Suche nach dem Sinn im Leben krank werden, falls sie ihn nicht finden, und daraus ergeben sich mitunter psychische Störungen. Aber die Grundfrage, vor der sie stehen, ist zunächst philosophisch.“

Die Philosophie hinterfragt Werte, Konventionen und Traditionen. Thomas Polednitschek aus Münster ist in erster Linie Psychologischer Psychotherapeut, aber Ende der 1980er und 1990er Jahre wandte er sich zunehmend der Philosophie zu, als er merkte, dass sich das Belastungsbild seiner Patienten änderte. „Ich erkannte eine Art Subjektmüdigkeit. Tradition und Religion verloren bei den Menschen ihre Bindewirkung. An ihre Stelle trat die Leere, und darauf hat die Psychopathologie keine Antworten. Unsere Freiheit ist heute nicht nur durch Unterdrückung, sondern durch Banalität bedroht.“

Auch Oliver Florig glaubt, dass sich die Gesellschaft zunehmend wegen einer um sich greifenden mentalen Leere der Philosophie zuwendet. „Ich war an mehreren Orten tätig und merkte, je traditioneller das Milieu ist, desto weniger tauchten Sinnfragen auf. In München waren sie in der Beratung das Hauptthema. Die Menschen sind heute oft familiär und religiös ungebunden, und wenn sie keine Erfüllung in einer sinnvollen Arbeit finden, spüren sie eine gewisse Leere. Sie merken auch, dass es ihnen auf die Dauer nicht reicht, sich am Wochenende auf einen Latte macchiato zu treffen.“

Albert Camus nannte das 20. Jahrhundert noch das Jahrhundert der Angst – er ging davon aus, dass Angst nicht ein Problem der Psyche des Einzelnen ist, sondern umgekehrt die Psyche ein Produkt der modernistischen Ängste. So interpretiert Steven Segal von der Maquarie University in Sydney Camus’ Schriften. Eine mentale Krankheit sei ein Rückzug vom modernen Leben oder eine Abgrenzung. Die Philosophie beschäftige sich nicht mit der Störung der Persönlichkeit wie die Psychologie, sondern mit dem Zusammenbruch der Konventionen, die den Alltag strukturieren. Segal schreibt: „Von diesem Standpunkt aus ist das Ziel der philosophischen Beratung nicht, das Selbst zu heilen, sondern die Störung der Konventionen zu erkunden und einen alternativen Rahmen zu schaffen, damit sich im Alltagsleben wieder ein Sinn findet.“

So weit die Theorie. In der Praxis ist es nicht immer leicht, so eindeutig zwischen psychologischen und philosophischen Fragestellungen zu unterscheiden. Daher diskutieren die philosophischen Praktiker seit Jahren, wie nahe die Philosophie sich an die Psychotherapie herantrauen dürfe.

Der kanadische Praktiker Peter Raabe vertritt die Auffassung, dass philosophische Praxis selbst für Menschen geeignet sei, die laut den Kriterien in der psychiatrischen Diagnostik an einer psychologischen Störung leiden, sei es manische Depression, posttraumatische Belastungsstörung oder Schizophrenie. Die philosophische Beratung müsse therapeutische Ziele haben, da sie das Leid des Menschen zu verstehen und zu mildern versuche. Da ein Philosoph sich zum Beispiel mit Solipsismus auskenne – der Idee, dass nur der eigene Verstand sicher existiert und außerhalb des Verstandes alles unsicher ist –, sei der Philosoph nach Paul J. Gibbs sogar besonders geeignet, die Weltsicht eines an Schizophrenie Leidenden zu verstehen und ihm zu helfen. Ihm müsse Skepsis beigebracht werden, damit er die Rationalität des Solipsismus akzeptiere.

Die Psychologin und Philosophin Emmy van Deurzen stellt sich auf den Standpunkt, dass Klienten, die zu einer existenziellen Therapie kommen, wissen, worum es dabei geht – um die grundsätzlichen Erfahrungen des Lebens. Demnach sei es die Verantwortung der Klienten, auszuwählen, ob sie einen philosophischen oder psychologischen Ansatz für ihre Probleme bräuchten.

Die Philosophen, die ihre Beratung als Alternative zur Psychotherapie sehen, kritisieren an heutigen Psychotherapeuten, dass sie alle Abweichungen von der Norm als Symptom einer biologischen Störung betrachteten. Auch der Bonner Philosoph Markus Gabriel schlägt in seinem Buch Ich ist nicht Gehirn in diese Kerbe, wenn er schreibt, dass wir Neurowissenschaftlern zufolge zu Agenten der „Neuronengewitter unter unserer Schädeldecke“ degradiert werden. Der Philosoph Sam Brown weist freilich darauf hin, dass Philosophen umgekehrt mit ihrer Expertise im kritischen Denken und ihrer Weltsicht alle mentalen Beschwerden als Folgen von Irrtümern im philosophischen Denken interpretieren könnten.

Hinzu kommt, dass Philosophie eigentlich keine Wohlfühl-Veranstaltung ist – sie soll nicht unbedingt die Seele stabilisieren. Der Philosoph Tom Stern vom University College London sagt, er habe Philosophie studiert, weil sich das Fach mit jenen komplexen Fragen beschäftige, die er sich selbst stelle: Gibt es einen Gott? Wie kann ich es wissen? Und wie sicher ist das Wissen, wenn man bedenkt, dass der Kenntnisstand in 100 Jahren womöglich ein ganz anderer sein könnte? „In der Philosophie geht es um die Suche nach der Wahrheit – es geht nicht um etwas Bequemes, Beruhigendes“, sagt Stern. „Sobald Philosophie gut ist, ist sie schwierig und herausfordernd. Wenn ich eine Kritik zum Beispiel an der School of Life habe, dann diese: Ihre Behandlung philosophischer Fragen erscheint mir zu einfach. Wenn man schon die großen Denker mobilisiert, um zum Beispiel Trost zu suchen, dann muss die Möglichkeit bestehen, dass einem diese Denker die Augen öffnen und man zu dem Schluss kommt, dass es keinen Trost geben könnte.“ Professionelle Philosophen präsentierten sich nie als weise Menschen, an die sich Leute ratsuchend wenden könnten, wenn es um ihr Leben geht. „Warum sollten wir das auch? Das ist nicht das, wofür wir ausgebildet sind.“

Richard David Precht, der sich selbst als psychotherapieskeptisch beschreibt, sagt: „Philosophie sollte nicht die gleiche Rolle wie die Psychologie spielen; es ist die Kunst, zu lernen, über das Leben reflektiert nachzudenken – also über das Leben, nicht mein Leben. Das ist etwas anderes, als wenn man massive persönliche Probleme hat. Das reflektierte Nachdenken führt nicht zwingend dazu, dass Menschen ihre Sorgen verlieren. Es kann Depressionen mitunter verschlimmern.“

„Sucht man einen Reflexionspartner für Fragen zur Endlichkeit des Daseins, zu Themen wie Sterben, zu moralischen Entscheidungen – dann sind Philosophen geeignet“, sagt die Psychologin Antonia Barke, die auch promovierte Philosophin ist. „Mit meiner Ausbildung als Philosophin hätte ich aber nie eine Therapie anbieten können. In der Psychotherapie gibt es einen klaren Auftrag, nämlich eine psychische Störung zu behandeln. Das Ziel ist, das Leiden und die Einschränkungen, die durch diese Störung verursacht werden, so gut wie möglich zu beseitigen oder zu lindern. Dazu unternimmt man gezielte, aufeinander aufbauende Schritte, die zu einer Veränderung beim Patienten führen.“

Alternative zur Therapie – oder Selbstüberschätzung?

In der kognitiven Verhaltenstherapie stützten sich die angewandten Methoden auf empirische Evidenz, sagt Barke. „Psychologische Psychotherapeuten haben eine lange Ausbildung hinter sich. Man kann nicht einfach in Gesprächen etwas ausprobieren, selbst wenn man sehr klug ist. Es ist wichtig, vorab eine fundierte Diagnostik durchzuführen. Patienten können suizidal sein, sie leiden oft unter erheblichen Problemen in ihrem Befinden, bei der Arbeit oder in ihren Beziehungen– sie benötigen fachkundige Behandlung.“

Barke sagt auch: „Ich glaube, dass es nach wie vor eine gewisse Geringschätzung gegenüber der Psychotherapie gibt. Denn ich würde ja nicht auf die Idee kommen, mich von einem Menschen operieren zu lassen, der kein Chirurg ist, nur weil er eine andere gute Ausbildung hat. Außerdem sind auch psychische Erkrankungen stigmatisiert, und ich sehe die Gefahr, dass Menschen mit ihren Problemen sich lieber der Philosophie oder der philosophischen Beratung zuwenden, um diesem Stigma zu entgehen. Falls Philosophen meinen, eine Alternative zur Therapie und nicht nur Reflexion anbieten zu können, ist das meiner Ansicht nach eine Selbstüberschätzung oder ein Mangel an Wissen, was Therapie bedeutet.“ Außerdem fehlten für die philosophische Beratung gesetzliche Rahmenbedingungen und Qualitätskontrollen, die die Menschen schützen. Es gebe nicht einmal eine Schweigepflicht.

Viele in Deutschland praktizierende Philosophen sind sich dieser Grenzen bewusst und sagen, sie würden Menschen mit psychischen Störungen nicht beraten. Aber das bedeutet nicht, dass sie psychische Störungen immer erkennen. Nicht alle Berater haben einen psychologischen Hintergrund wie Thomas Polednitschek oder Oliver Florig. Die Symptome für psychische Störungen seien bestenfalls schwammig, und nur eine psychologisch ausgebildete Person habe ein Auge dafür, ob der Klient die Realität wahrnehme wie die meisten anderen Menschen auch oder sich seine Realität konstruiere, schreibt die Psychologin und Philosophin Beatrice A. Popescu von der Universität Budapest.

Grundsätzlich sind Menschen schlecht in einer philosophischen Beratung aufgehoben, wenn sie mentale Probleme jeglicher Art beschäftigen: wenn sie traurig sind, depressiv, ängstlich, aggressiv, hoffnungslos, wenn sie sich wertlos fühlen, unter Phobien oder Panikattacken leiden oder Zwangsstörungen haben. Philosophische Fragen sind etwa, wie man mit dem Älterwerden umgeht, wie man über Geld denkt, über Familienplanung – oder wie man es mit Moral, Werten und Politik hält.

Der Psychologe Samuel Knapp beschreibt einige Beispiele, die zeigen, wie schwierig diese Abgrenzung manchmal ist: Klienten mit subtilen autistischen Störungen können aufmerksam und intelligent erscheinen, haben aber kognitive weiße Flecken, die erst durch professionelle psychologische Untersuchungen aufgedeckt werden. Konfrontiert man sie mit ihren logischen Anomalien, kann sie das in Bedrängnis bringen und seelisch verletzen, ohne dass dabei ihre kognitive Leistung profitiert. Auch neurotische Klienten mit unverhältnismäßigen emotionalen Empfindungen neigen dazu, allerlei Abwehrmechanismen aufzubieten, sobald ihre Überzeugungen infrage gestellt werden. Überhaupt können Konfrontationen mit unbequemen Wahrheiten, wie sie die Philosophie ja gerade fordert, immer gefährliche Reaktionen hervorrufen. Philosophen sind Knapp zufolge aufgrund ihrer Ausbildung nicht in der Lage, dies frühzeitig zu erkennen und sich entsprechend zu verhalten.

Knapp wirft beratenden Philosophen vor, dass ihre Annahme, ihr Ansatz sei eine legitime Alternative zu traditionellen Psychotherapien, auf rein theoretischen Überlegungen beruhe. Philosophen hätten die ethische Verpflichtung, nachzuweisen, dass ihre Angebote dem Wohle der Gesellschaft dienen. Sie müssten empirisch nachweisen, dass philosophische Ursachen tatsächlich hinter einigen menschlichen Problemen steckten und dass sich diese Probleme effizient mit philosophischen Mitteln mindern ließen.

Philosophen wie Schmid und Precht sehen es ähnlich. Schmid sagt: „Wir Philosophen verstehen nichts vom Unbewussten, von Verstrickungen des Gefühlslebens, von Traumata. Die Philosophie hilft, die Grundlagen eines Problems zu verstehen und Lösungen zu erörtern. Aber wir sagen nicht, welche zu welchem Menschen passen; der einzelne Mensch muss das mit seiner Intelligenz allein herausfinden.“ Das setze allerdings eine psychische Stabilität bereits voraus.

Literatur

  • Richard David Precht: Erkenne die Welt. Eine Geschichte der Philosophie, Band 1. Goldmann, München 2015

  • Wilhelm Schmid: Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden. Insel, Berlin 2014

  • Lou Marinoff: Bei Sokrates auf der Couch. Philosophie als Medizin für die Seele. Dtv, München 2002

  • Markus Gabriel: Ich ist nicht Gehirn. Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert. Ullstein, Berlin 2015

  • Alain de Botton: Wie Proust Ihr Leben verändern kann. Eine Anleitung. Fischer, Frankfurt 2000

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2016: Drüber stehn!