An Krisen wachsen

Der Tod des Partners oder eine Kündigung kann uns den Boden unter den Füßen wegziehen. Doch wie gehen wir damit um?

Die Illustration zeigt eine Frau, die aus einer tiefen Schlucht auf einer Leiter hinauf klettert auf den Gipfel
Der Weg aus dem Tief ist beschwerlich und doch lohnenswert. © Luisa Jung

Mit 45 Jahren war Sheryl Sandberg Topmanagerin bei Facebook, besaß etwa eine Milliarde Dollar und wurde vom US-Nachrichtenmagazin Time zu den hundert einflussreichsten Personen der Welt gezählt. Im Frühling 2015 war sie mit ihrer Familie zu Gast in einem Haus eines Freundes am Strand von Mexiko. An einem geruhsamen Nachmittag vermisste sie ihren Mann Dave, den sie einige Stunden nicht gesehen hatte.

Schließlich rannte sie mit Schwager und Schwägerin in den Fitnessraum. Dort lag er regungslos neben dem…

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unter seinem Kopf. Sie fuhr im Rettungswagen mit und flehte den Arzt an, er solle doch sagen, dass Dave noch lebe. Doch im Krankenhaus konnten die Mediziner ihr nur noch den Tod des Vaters ihrer Kinder mitteilen.

Sie musste es ihrem zehnjährigen Sohn und ihrer siebenjährigen Tochter sagen. Die beiden schrien auf, die Mutter stimmte ein. Die Trauer blieb über Monate immer da. „Schwelend, schwebend, schwärend. Dann erhob sie sich wie eine Woge, packte mein Herz und versuchte, es mir aus dem Leib zu reißen. In solchen Momenten glaubte ich, den Schmerz keine Minute länger aushalten zu können, geschweige denn noch eine weitere Stunde.“ Oft sah sie im Geist Dave im Fitnessraum liegen. Einmal, am Strand, meinte sie in den Wolken das Gesicht ihres verstorbenen Mannes zu erblicken.

So schildert Sheryl Sandberg diese Schreckenszeit in ihrem Buch Option B, das sie zusammen mit dem befreundeten Psychologieprofessor Adam Grant von der University of Pennsylvania geschrieben hat.

Kein Verdrängen und Vergessen

Viele Menschen erleben traumatische Erfahrungen. Als Forscher ehemalige Studenten der University of North Carolina befragten, die heute etwa 60 Jahre alt sind, stellte sich heraus, dass 90 Prozent von ihnen den plötzlichen Tod eines geliebten Menschen, eine schwere Krankheit oder eine Naturkatastrophe erlitten hatten. Im Schnitt hatten sie fünf solcher belastenden Erfahrungen erlebt. Noch nicht einmal mitgezählt sind dabei andere oft schwierige Lebensereignisse wie eine Scheidung oder längere Arbeitslosigkeit.

Der Schmerz treibt dann manchmal seltsame Blüten. So machte kürzlich eine südkoreanische Mutter Schlagzeilen, die eine eigens erschaffene virtuelle Version ihrer vier Jahre zuvor verstorbenen kleinen Tochter simuliert in die Arme schloss.

Aber Tote lassen sich nicht zurückholen, eine Kündigung in der Regel nicht ungeschehen machen, der geschiedene Partner ist weg und wenn er zurückkäme, würde das Ehedrama wahrscheinlich nur von vorn beginnen. Solche einschneidenden Erlebnisse lassen sich nicht vergessen und nicht verdrängen. Sie bleiben Bestandteile des eigenen Lebens und es ist hilfreich, sie als solche zu akzeptieren und ihnen einen Platz in der eigenen Geschichte zu geben. „Die Erzählbarkeit von Lebenskrisen und deren Überwindung ist ein ganz wichtiges Zwischenglied bei der Verarbeitung von Krisen“, sagt der Psychologieprofessor Andreas Maercker, Traumaspezialist an der Universität Zürich.

Erzählungen können Erklärungen liefern und Erklärungen helfen, argumentiert Timothy Wilson von der University of Virginia in seinem Buch Redirect. „Je besser wir negative Ereignisse wie Trennungen, geschäftliche Misserfolge oder medizinische Probleme erklären können, desto schneller werden wir uns von ihnen erholen.“

Die Macht des Erzählens

Das Erlebte und Durchgemachte erzählen – entweder den vertrauten Menschen um uns herum oder stumm uns selbst –, das ist ein Schlüssel beim Verarbeiten von Krisen. Seit einigen Jahren beschäftigt sich eine ganze Reihe von Psychologen mit der Frage, wie wir unsere Lebensgeschichte im Allgemeinen und niederschmetternde Erfahrungen im Besonderen erzählen. Schon vor zwei Jahrzehnten demonstrierten Ian McGregor und John Holmes von der kanadischen University of Waterloo, welchen Einfluss es haben kann, auf welche Weise man eine kleine Geschichte aus dem eigenen Leben erzählt.

Sie baten Studenten, eine kürzlich erlebte Episode zu Papier zu bringen, bei der sie sich von einem Freund verletzt oder verärgert gefühlt hatten. Die einen sollten den Vorfall so beschreiben, wie ihn ein neutraler Beobachter schildern würde, die anderen in der Version eines für sie tätigen Anwalts. Zwei Monate später riefen die Forscher die Teilnehmer an, lasen ihnen ihre Schilderung noch einmal vor und fragten, wie stark sie beim Wiederhören ihre negativen Gefühle empfanden. Wer die Geschichte als Anwalt in eigener Sache erzählt hatte, war immer noch deutlich wütender und verletzter als diejenigen, die sich um eine neutrale Sicht bemüht hatten. Der ursprüngliche Vorfall hatte sich durch das Erzählen nicht verändert – gewandelt hatten sich aber die Gefühle, die er wachrief.

Natürlich erzählen wir ständig Geschichten über uns selbst, gerade auch über schwierige Punkte in unserem Leben. Selbst wenn wir diese Ereignisse stumm aus der Erinnerung rekapitulieren, läuft eine Art innerer Monolog mit. „Geschichten sind unsere Identität“, spitzte es Holmes einmal in einem Artikel zu. Wir erzählen uns aber nicht nur viele kleine Geschichten, sondern auch eine große – die Geschichte unseres Lebens. Die Erzählung von uns selbst. Für den Persönlichkeitsforscher Dan McAdams von der Northwestern University ist sie „die verbindende Geschichte davon, wer ich bin, wie ich wurde, wer ich bin, und wohin mein Leben gehen könnte. Sie ist eine sehr selektive Rekonstruktion der Vergangenheit, kombiniert mit einer ausgemalten Zukunft.“

Hätte es noch schlimmer kommen können?

Entscheidend ist offenbar, wie wir unsere Geschichte erzählen, gerade wenn es um Lebenskrisen und Tiefpunkte geht. Professor Tilmann Habermas leitet am Institut für Psychologie der Universität Frankfurt den Arbeitsbereich Psychoanalyse und erforscht, wie unsere Gefühle mit unseren Lebenserzählungen zusammenhängen. Er hält es für wichtig, sich in eine schwierige durchlebte Situation „emotional wieder hineinzubegeben, sich den Emotionen auszusetzen und dann einen Schritt zurückzutreten und sich das Erlebte aus unterschiedlichen Perspektiven anzugucken – etwa aus den Perspektiven von anderen, die damals beteiligt waren, oder auch aus den Perspektiven Unbeteiligter oder aktueller Gesprächspartner“.

Also ungefähr so wie die Teilnehmer in dem kleinen Experiment, die sich den Konflikt mit dem Freund aus neutraler Perspektive ansahen. Wer ein Kündigungsschreiben seines Arbeitgebers erhalten hat oder mit dem Lebenspartner im Streit auseinandergegangen ist, könnte also überlegen, ob das Gegenüber nicht auch seine Gründe hatte.

Selbst ein radikaler Perspektivwechsel kann nützlich sein. Sheryl Sandberg half es am meisten, nicht nach tröstlichen Gedanken zu suchen, sondern sich zu überlegen, wie es hätte noch schlimmer kommen können. Allerdings schien ihr diese Idee zunächst absurd. „Noch schlimmer?“, fragte sie den befreundeten Psychologieprofessor Grant, als er ihr das vorschlug. „Meinst du das ernst? Wie sollte das aussehen?“ „Dave hätte den Herzanfall auch mit euren Kindern im Auto haben können“, gab der zurück. Er erreichte mit seiner scheinbar wenig sensiblen Äußerung bei Sheryl Sandberg, was er wollte. „Unverzüglich empfand ich Dankbarkeit, dass meine Kinder am Leben und gesund waren, und dies überlagerte einen Teil meiner Trauer.“

Sich verständlich machen, was passiert ist

Es kommt darauf an zu verstehen, was eigentlich passiert ist, und das geht am besten, indem man das Geschehen in eine stimmige Geschichte packt. Psychoanalytiker Habermas erklärt: „Ein Erlebnis nicht nur zu erinnern, sondern auch zu erzählen, bedeutet, dass ich es sehr stark strukturieren muss.“ Wer etwas erzählen will, muss die Ereignisse ja nicht nur in eine zeitliche Abfolge bringen, sondern auch überlegen, was wozu geführt hat. Was wollte ich, was der andere, was waren die Folgen? „Wenn ich das Erlebnis erzähle, deute ich es gleichzeitig und versuche, es anderen und mir selbst verständlich zu machen“, so Habermas.

Sich auf sein Leben einen Reim machen zu können ist wichtig. Gelingt das, sprechen Fachleute von einem Gefühl der Kohärenz, also dem wohltuenden Empfinden von Zusammenhang, Bedeutung und Sinn in dem eigenen Dasein. Dieses Kohärenzgefühl verringert das Risiko, depressiv zu werden, und verlängert dadurch sogar die Lebenserwartung, wie eine große Langzeitstudie eines Teams um Ari Haukkala von der Universität Helsinki ergab.

Ähnlich positiv wirkt das Gefühl, immer noch einigermaßen derselbe zu sein, sich als derselbe Held in seiner Lebensgeschichte zu empfinden und nicht etwa nur als schwacher Abglanz des einstigen Ichs. Das zeigt eine israelische Studie mit Arbeitslosen, viele von ihnen aus Hightechberufen. Wenig überraschend verringerte die Arbeitslosigkeit ihr Gefühl der Selbstkontinuität. Doch die Betroffenen, die es einigermaßen halten konnten, gingen besser mit ihrer misslichen Lage um. Sie kümmerten sich eher um die Lösung des Problems und identifizierten sich nicht damit. Die anderen hingegen ließen sich von ihren Gefühlen überwältigen oder versuchten, die Notlage zu ignorieren – was natürlich in eine Sackgasse führen muss.

Das Heft des Handelns

Es reicht aber nicht, wenn die Geschichte des eigenen Lebens und seiner Tiefpunkte kohärent ist – kohärent wäre schließlich auch eine Geschichte, in der der Betroffene ständig versagt und ihm stetig übel mitgespielt wird. Besser ist es, eine Geschichte zu finden, in der man als Held in eigener Sache das Heft in die Hand nimmt und feststellt, dass man das eigene Schicksal beeinflussen kann. Psychologen nennen die Fähigkeit dazu agency. Sie entspricht dem, was gemeinhin als Kämpfernatur bezeichnet wird. Der Held solcher Geschichten stellt sich tapfer schweren Krankheiten und anderen Zumutungen des Lebens entgegen.

Ein anschauliches Beispiel liefert eine Frau, die an einer Studie von Jonathan Adler und Dan McAdams teilnahm und dort Ava heißt. Sie wuchs im ländlichen Illinois auf und verließ ihr Elternhaus, als sie mit 19 heiratete. Fünf Jahre später hatte Ava zwei Kinder und mit der Ehe ging es bergab, weil ihr Mann sie seelisch und gelegentlich auch körperlich misshandelte. Eines Tages ging sie mit ihm am Strand spazieren und er sagte: „Ich liebe dich.“ Ava antwortete nicht. Als er nachhakte, sagte sie: „Ich respektiere dich, aber ich liebe dich nicht.“ Es dauerte kein Jahr mehr, bis sie ihn verließ. Als sie aus der Einfahrt ihres Hauses fuhr, fühlte sie sich „wie ein Vogel, der seinen goldenen Käfig verlässt“.

Sie hatte die Misshandlungen hinter sich gelassen, aber in ihrem neuen Leben in der Großstadt St. Louis stand sie praktisch vor dem Nichts. Sie besaß keinen Fernseher, keinen Küchentisch, keine Couch, keinen Stuhl und kein Bett, weshalb sie auf dem Boden schlief. Ihre Tochter rebellierte, weil ihre Mutter ein Kontaktverbot gegen den Vater durchgesetzt hatte. Ava musste nun arbeiten gehen und kam kaum mehr zu etwas anderem außer schlafen.

Die treibende Kraft bin ich

Mehr als zehn Jahre später heiratete sie wieder. Die neue Ehe entwickelte sich viel besser, allerdings erkrankte der Mann schwer, ein Bein musste amputiert werden und er konnte nicht mehr arbeiten. Doch im Rückblick sah sie ihr Leben und sogar ihren ersten Mann positiv. „Ich konnte es herumreißen und zum Guten wenden, weil ich durch sein Verhalten buchstäblich gelernt habe, wie ich mich selbst aus einer schlechten Lage befreien und mein Leben in die eigenen Hände nehmen kann.“

Als die Forscher Ava ein halbes Jahr später zum zweiten Mal interviewten, war bei ihr Brustkrebs diagnostiziert worden. Ihre seelische Verfassung war nun schlechter, aber nur minimal, und in den kommenden anderthalb Jahren entwickelte sich ihre psychische Gesundheit sehr gut.

Jonathan Adler und Dan McAdams hatten für diese Studie 27 Teilnehmer aus einer großen Langzeituntersuchung ausgewählt, bei denen nach einem ersten Interview über ihr bisheriges Leben Krebs oder eine andere schwere Krankheit festgestellt worden war. Es zeigte sich: Wer wie Ava in seiner Lebensgeschichte vor allem sich selbst als treibende Kraft sieht, verkraftet die Krankheit besser als derjenige, der sich hilflos dem Walten des Schicksals ausgesetzt fühlt. Das gilt unabhängig von der Schwere der Krankheit.

Der Sinn in der Krise

Alles in allem erholen sich Menschen von Schicksalsschlägen deutlich schneller, als sie es vorher erwartet hätten. Das haben viele Studien gezeigt. Das Ende einer Beziehung wird von vielen gefürchtet, doch tatsächlich steigt nach einer Scheidung die Lebenszufriedenheit im Schnitt sogar. Stirbt der Partner, reagieren die meisten natürlich geschockt, doch in der Regel geht es mit dem Glück häufig schneller wieder bergauf, als man vermuten würde. Wer allerdings seine Arbeit verliert, ist mit seinem Leben erst nach drei Jahren so zufrieden wie zuvor und das Glücksempfinden bleibt lange beeinträchtigt. Vielleicht liegt das daran, dass Arbeitslosigkeit eben leider oft kein abgeschlossenes Ereignis ist, sondern das Leben fortwährend beeinträchtigt.

Redirect-Autor Wilson glaubt, dass Menschen über eine Lebenskrise hinwegkommen, sobald sie einen Sinn in ihr sehen – also eine Erklärung für sie finden, die sie in ihre Lebensgeschichte einbauen können. Diesen Schluss zieht er aus den frappierenden Resultaten eines Forschungsprojekts, bei dem junge Menschen begleitet wurden, die mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit das Gen für Chorea Huntington geerbt hatten.

Die unheilbare Gehirnkrankheit bricht typischerweise zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr aus, führt erst zu unkontrollierbaren Bewegungen (daher der alte Name Veitstanz) und meist binnen 15 Jahren zum Tod. Ein genetischer Test kann verraten, ob jemand das Gen von einem betroffenen Elternteil geerbt hat und somit mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Leiden und frühem Tod verdammt ist. Die Forscher verfolgten nun, wie 135 junge Kanadier im Verlauf eines Jahres mit unterschiedlichen Testergebnissen fertigwurden.

Eine Bedeutung geben

Am deutlichsten verbesserte sich natürlich das Befinden derer, denen der Test Entwarnung signalisiert hatte. Doch auch denen mit einem fatalen Ergebnis ging es nach einem leichten Schock schnell besser als in der ungewissen Zeit vorher. Unverändert hoch aber blieb der Stress bei denen, für die der Test kein klares Ergebnis lieferte (oder die ihn nicht gemacht hatten). Sie litten also stärker als die mit einer düsteren Prognose. Warum?

Wer sich nun auf den Ausbruch der Krankheit einstellen musste, fand vielleicht Trost in einer Religion oder beschloss, ein kurzes, aber erfülltes Leben zu führen, glaubt Wilson. Wer durch den Test jedoch keine Gewissheit erhielt, „dem konnte keine neue Erzählung eine Stärkung bieten, weil immer die Chance blieb, dass er das Gen doch nicht hatte“.

Auch Trauernde überwinden ihren Schmerz am schnellsten, wenn sie dem Tod eine Bedeutung für sich geben können, wenn sie also irgendwo noch einen Sinn in ihm sehen.

„Ich bin immer noch da!“

Besonders zentral ist die Sinnfindung in Lebenserzählungen, die Dan McAdams Erlösungsgeschichten nennt. Wer eine über sich erzählen kann, hat aus einer schweren Erfahrung, an der er vielleicht fast zerbrochen wäre, etwas gelernt und sieht sie schließlich sogar positiv.

Amerikanische Psychologen um Keith Cox baten Menschen, von einem Tiefpunkt ihres Lebens zu erzählen. Manchen von ihnen gelang es, die schlimme Zeit, die sie durchgemacht hatten, in der Rückschau als eine Erlösungsgeschichte zu sehen. Zu ihnen zählte ein Witwer, dessen Frau ein Jahr lang mit Tumoren in Gehirn, Lunge und Leber gekämpft hatte. Er musste mit den Tränen kämpfen, als er von ihrem Tod erzählte. Aber er sagte auch: „Es hat mich gelehrt, dass man fast alles überleben kann, es gab mir eine Perspektive.“ Vorher sei er ein ziemlich ängstlicher Mensch gewesen, aber nun war ihm klar: „Ich habe das alles durchgestanden und bin immer noch da. Eine so schwere Erschütterung zu erfahren hat mich nicht umgebracht.“

Die Situation akzeptieren

Vier Jahre lang erfassten Cox und seine Kollegen das Befinden der Teilnehmer. Jedes Mal ging es denen besser, die nach einem Tiefpunkt in ihrem Leben eine solche Erlösungsgeschichte erzählen konnten.  

Alkoholiker wiederum dürfen hoffen, wenn sie der Episode des letzten Drinks – oft während eines Rückfalls – etwas Erlösendes abgewinnen können. Wie der Persönlichkeitspsychologe William Dunlop herausfand, blieben 83 Prozent von ihnen in den folgenden vier Jahren trocken, unter den restlichen von 37 befragten Mitgliedern der Anonymen Alkoholiker blieben es nur 44 Prozent.

Krisen, die im Rückblick als eine Geschichte von Einsicht, Reifung und Glück erscheinen, erleben oft auch Eltern, die ein Kind mit einer schweren Behinderung bekommen, etwa dem Downsyndrom. Laura King, die heute an der University of Missouri lehrt, hat solche Eltern befragt. Fast alle waren nach der Diagnose zunächst schockiert und wollten sie wochenlang nicht wahrhaben: „Ich fühlte mich betrogen, ich funktionierte kaum mehr, so beschäftigt war ich mit meinen Ängsten.“ Aber so blieb es nicht. „Ich bin gewachsen. Ich habe gelernt, die Situation zu akzeptieren. Das hat es mir möglich gemacht, ein Gefühl der Bindung zu meinem Kind zu entwickeln und es zu lieben. Aber es hat Zeit gebraucht.“ Wer sich so anpassen konnte, erwies sich zwei Jahre später oft als gereift und durch die Erfahrung stärker geworden.

Am Trauma wachsen?

Es gibt viele ähnliche Befunde. Laura King und andere Forscher nennen dies „stressbezogenes Wachstum“. Steht am Anfang ein Trauma, etwa ein Unfall oder eine Vergewaltigung, sprechen Fachleute von posttraumatischem Wachstum, wenn jemand das Trauma erfolgreich bewältigt und etwas daraus gelernt hat. „Posttraumatisches Wachstum stellt den erfolgreichen Versuch dar, um das persönliche Trauma eine Erlösungsgeschichte zu konstruieren“, so Dan McAdams.

Er meint aber auch, dass es nicht weit trägt, einfach nur rückblickend sein Leben umzuschreiben und sich zum Helden über sein Schicksal zu erklären – und das war es dann. Eine solche Erzählung sollte sich eben auch im realen Leben widerspiegeln, um glaubhaft und authentisch zu sein. Zu wirklichem Wachstum gehört für McAdams zum Beispiel, „dass man seine sozialen Aufgaben im Leben besser ausfüllt, seiner Verantwortung besser gerecht wird und sichtbar im Dienst guter Ziele handelt“.

Für wie viele Menschen Lebenskrisen ein so glückliches Ende nehmen, ist umstritten. Werden Personen rückblickend nach ihren Erfahrungen befragt, behauptet zwar oft die große Mehrheit der Betroffenen, durch traumatische Erfahrungen gereift zu sein. Doch die Frage ist, ob sie sich etwas vormachen. Forscher haben in Langzeitbeobachtungen überprüft, ob es den meisten Menschen nach der Überwindung eines traumatischen Erlebnisses wirklich besser geht als vor der Krise. Ein Team um Judith Mangelsdorf von der Freien Universität Berlin hat vergangenes Jahr eine Auswertung solcher Studien vorlegt. Die meisten Betroffenen sehen in ihrem Leben demnach hinterher nicht mehr Sinn als vorher. Auch ihre Spiritualität hat nicht zugenommen.

Der Druck, ein besserer Mensch zu werden

Die Befunde bestätigen Experten, die schon immer skeptisch waren. „Wenn es Menschen gelingt, sich von dem Unglück zu distanzieren und es in ihr Verständnis von sich selbst einzubetten, dann hilft es ihnen“, sagt Psychoanalytiker Habermas. Doch der Trend in der Psychologie, an Krisen vor allem das Positive zu sehen, gefällt ihm nicht: „Das wird dem Unglück nicht gerecht und setzt die Betroffenen einem unheimlichen Druck aus, dass sie nachher bessere Menschen sein müssen. Und wenn sie es nicht schaffen, sind sie irgendwie selbst schuld.“

Auch Traumaspezialist Maercker versucht nicht, bei seinen Patienten posttraumatisches Wachstum zu forcieren, und sieht den Hype darum skeptisch. Er hat die Erfahrung gemacht: „Dass man sein Leben anders gestalten will, das wird nach der Krise häufig sehr schnell vergessen.“

Selbst die führenden Narrativforscher Adler und McAdams legen Wert auf die Feststellung, dass beispielsweise Kranke, die keine Geschichten mit sich selbst als Kämpfer und mit Erlösungsende konstruieren, nicht „irgendwie als schwächer oder defizitär betrachtet werden sollten“. Auch wollen sie mit Blick auf traumatische Erlebnisse keineswegs behaupten, „dass die möglichen Vorteile solcher Erfahrungen das Leiden aufwiegen, das sie unvermeidlich bringen“. Sich einen Reim auf die Krise zu machen und sie in die große Erzählung des eigenen Lebens einzufügen kann einem Menschen helfen, den Faden dieses Lebens wieder aufzugreifen und weiterzuspinnen – manchmal sogar einsichtiger als vorher. Doch den Schmerz eines Verlusts kann all das nicht wegzaubern.

Sheryl Sandberg ging es im Lauf der Zeit allmählich besser. Zuerst gelang es ihr, bei ihrer Arbeit zumindest momentweise nicht an den Tod ihres Mannes zu denken. Schließlich setzte sie sich wieder ans Klavier, das erste Mal nach dreißig Jahren. Zwar spielt sie lausig, wie sie selbst urteilt, doch es geht ihr besser, wenn sie klimpert und dazu singt.

Sie fand wieder einen Partner, vor kurzem gab sie ihre Verlobung mit dem Gründer einer Unternehmensberatung bekannt. Aber es gilt wohl noch immer, was sie in ihrem Buch geschrieben hat: „Jetzt weiß ich, dass ich mich nicht unterkriegen lasse und dabei sogar über mich hinauswachsen kann. Würde ich diese innere Entwicklung hergeben, wenn ich dafür Dave zurückbekäme? Na klar. Niemand möchte auf diese Weise stärker werden. Aber es passiert – und wir entwickeln uns.“

Was während der Krise hilft

Wer eine schmerzhafte Erfahrung durchlebt, weiß oft kaum ein noch aus.Zur psychologischen Bewältigung haben die Traumaexperten Rahel Bachem und Andreas Maercker von der Universität Zürich eine Reihe von Ratschlägen zusammengestellt

• Richten Sie Ihren Blick nicht nur auf das, was Ihnen in dieser Situation schwerfällt oder woran Sie vielleicht auch scheitern. Besinnen Sie sich auf Ihre Stärken. Vielleicht haben Sie Erfahrungen gesammelt und Fertigkeiten erworben, auf die Sie nun zurückgreifen können. Vielleicht haben Sie enge Beziehungen zu anderen Menschen, die bereit sind, Sie zu unterstützen. Möglicherweise können Sie Kraft aus Ihrer Religion oder anderen Überzeugungen schöpfen.

• Oft tragen negative Gedanken dazu bei, dass jemand eine schwierige Lage als noch schlimmer empfindet, als sie ohnehin schon ist. Versuchen Sie, Gedanken wie „Mir wächst alles über den Kopf“ zu erkennen. Dann finden Sie einen Satz, den Sie solchen negativen Autosuggestionen entgegensetzen können, etwa: „Ich will es versuchen.“ Sie können ihn ruhig laut sagen.

• Fragen Sie sich, ob Sie nicht typischen Denkfehlern zum Opfer fallen. Dazu zählen etwa Übergeneralisieren („Weil etwas Schlimmes passiert ist, wird auch in Zukunft viel Schlimmes passieren“), emotionales Denken („Meine Schuldgefühle beweisen, dass ich selbst verantwortlich bin“) und überhöhte Ansprüche („Ich muss stark sein und die Situation allein bewältigen“). Legen Sie eine kleine Tabelle an, in der sie solchen problematischen Gedanken bessere gegenüberstellen. Statt „Ich muss die Situation allein bewältigen“ könnten Sie sich beispielsweise sagen: „Ich mache eine schwierige Erfahrung und darf mir von meinen Mitmenschen helfen lassen.“

• Fragen Sie sich: Kann man die Situation nicht auch anders sehen? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass meine Befürchtungen tatsächlich eintreffen? Was würde ich einer guten Freundin raten, die sich in derselben Situation befindet?

• Viele Menschen in einer Krise denken endlos an ihre Probleme und was sie für die Zukunft bedeuten mögen. Solche Grübeleien führen nicht weiter und vergrößern die Misere eher noch. Wenn Sie sich dabei erwischen, stoppen Sie diese Gedanken. Dafür gibt es einfache Techniken: Zählen Sie von 1000 jeweils vier rückwärts. Oder richten Sie Ihre gesamte Aufmerksamkeit auf ein Bild an der Wand und erfassen Sie es zuerst als Ganzes. Betrachten Sie anschließend immer präziser die Details.

• Malen Sie einen Zeitstrahl, der links mit Ihrer Geburt beginnt und bis zum Jetzt ganz rechts führt. Zeichnen Sie alle Krisen ein, die Sie erlebt und überstanden haben. Überlegen Sie nun zu jeder Krise, wie Sie wieder aus ihr herausgekommen sind. Welche Stärken konnten Sie einsetzen, welche Menschen haben Ihnen dabei geholfen? Könnten Sie nicht jetzt auf diese Erfahrungen zurückgreifen?

• In einer Krise neigen wir dazu, positive Dinge so zu vernachlässigen, dass es einem am Ende womöglich auch ohne Krise schlechtgegangen wäre. Deshalb überlegen Sie, was Ihnen Spaß machen würde. Und wenn möglich: Tun Sie es! Das können einfache Dinge sein: ein Ausflug mit Freunden, für Gäste kochen, singen oder musizieren, handwerken, nähen oder basteln, im Garten arbeiten, verreisen, einem Hobby nachgehen. Oder einfach nur spazieren gehen und die Natur genießen, gemütlich zu Hause einen Film anschauen, ein gutes Buch lesen, ein Entspannungsbad nehmen. Am besten kombinieren Sie eher aktive mit eher geruhsamen Tätigkeiten.

Was nach der Krise hilft

Expressives Schreiben hat etwas Heilsames. Das hat James Pennebaker, einer der Doyens der narrativen Psychologie, in vielen Arbeiten empirisch belegt. Pennebaker hat ein Selbsthilfeprogramm entwickelt, um traumatische Vorfälle und emotionale Krisen rückbli­ckend aufzuarbeiten, indem man darüber schreibt: an vier Tagen jeweils 20 Minuten ohne Unterbrechung. Doch es gilt die „Ausflippregel“: Brechen Sie ab, sobald Sie spüren, dass Sie an Ihre Schmerzgrenzen stoßen!

Tag 1: Schreiben Sie über eine emotional aufwühlende Episode, die Ihr Leben grundlegend beeinflusst hat. Schreiben Sie über das Ereignis selbst sowie darüber, wie Sie sich damals fühlten – und wie es sich jetzt anfühlt, wenn Sie daran denken. Versuchen Sie, sich zu öffnen.

Tag 2: Schreiben Sie erneut über dasselbe oder ein anderes Ereignis. Versuchen Sie diesmal vor allem, es mit anderen Bereichen Ihres Lebens in Beziehung zu setzen. Wie hat es Ihr Verhältnis zu Angehörigen und Freunden beeinflusst, ihre Arbeit, ihr Selbstbild und die Art, wie Sie über Ihre Vergangenheit denken?

Tag 3: Wieder wird das krisenhafte Ereignis beschrieben, aus unterschiedlichen Perspektiven und Standpunkten. Erlauben Sie sich diesmal, „vor allem die Bereiche anzusprechen, in denen Sie sich besonders verletzlich fühlen“. Nach Pennebakers Erfahrungen ist der dritte Tag besonders kritisch, denn erst jetzt stoßen die Teilnehmer oft „auf Themen, denen sie bis dahin aus dem Weg gegangen sind“.

Tag 4: Nun ist es Zeit, einen Schritt zurückzutreten. „Denken Sie an die Ereignisse, Themen, Gedanken und Gefühle, die Sie in Ihren Texten offenbart haben.“ Was haben Sie durch die Krise in Ihrem Leben verloren – aber vielleicht auch gewonnen, dazugelernt? „Setzen Sie alles daran, Ihre Erfahrungen zu einer Geschichte zu verbinden, die Sie in die Zukunft mitnehmen können“, rät Pennebaker.

Die ausführliche Anleitung samt Auswertung und Rat finden Sie in dem Band Heilung durch Schreiben. Ein Arbeitsbuch zur Selbsthilfe von James W. Pennebaker (Hogrefe, Bern 2019)

„In Krisen spüren wir das Material des Lebens selbst“

Autor Dirk Knipphals über fades Leben, den Krisenschock Corona und das kreative Potenzial von Tiefpunkten

Herr Knipphals, ein Leben ganz ohne Krisen, wäre das nicht wunderbar?

Das wäre ein Leben wie im Märchen: „Und dann lebten sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage.“ Ich habe aber den Verdacht, das wäre kein reales Leben – und auch kein wünschenswertes. Viele Menschen, die ich kenne, haben doch den Anspruch, das Leben ganz kennenzulernen, alles Mark des Lebens auszusaugen, wie es in Henry Thoreaus berühmten Buch Walden heißt. Und zum Leben gehören eben auch die Tiefen.

Was ist gegen ein von außen gesehen „fades“ Leben ohne große Höhen und Tiefen einzuwenden? Ein Leben, in dem man sich häuslich auf Dauer eingerichtet hat: Familie, täglich zur Arbeit fahren, am Wochenende Gärtchen, Freude auf den nächsten Urlaub.

Wer Lust darauf hat: gern. Ich habe damit keine Probleme, aber eine gewisse Skepsis, dass das so klappen kann. Denn zu einem solchen Leben gehören ja mindestens zwei, und nicht jeder möchte seine Konflikte verdrängen. In den fünfziger und sechziger Jahren hatten wir homogene, sittsame Lebensentwürfe dieses Zuschnitts. Wer sich da nicht anpassen wollte oder konnte, wer nicht die Glücksvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft traf, hatte das Gefühl, dass bei ihm irgendetwas falsch im Kopf sein müsse. Wer etwa schwul war, war ausgeschlossen. Ein genormtes Leben produziert Zwang und manchmal Neurosen.

Produziert unser modernes Leben nicht ebenfalls Neurosen, nämlich solche, die aus Überforderung entstehen? Wir haben ja nicht nur die Freiheit, sondern auch den ständigen Druck, unser Leben selbst gestalten zu müssen.

Natürlich bringt der Druck, sich verwirklichen zu müssen, neue Probleme mit sich. Aber ich finde: Diese neuen Probleme sind doch so viel interessanter als die alten! Mit unserem Leben sind auch die Lebenskrisen komplizierter geworden.

„Warum Lebenskrisen unverzichtbar sind“ lautet der Untertitel Ihres Buchs Die Kunst der Bruchlandung. Wozu taugen Krisen?

Ohne Lebenskrisen wäre die Vorstellung eines eigenen Lebens nicht denkbar. Denn sobald man ein eigenes, vor allem ein intensives Leben führt, kann dies eben auch missglücken – etwa wenn zwei Lebenspartner feststellen, dass sie miteinander nicht mehr glücklich sind. Dann ist eine Lebenskrise unvermeidlich. Eine solche Krise kann etwas sehr Kreatives sein. Sie kann einen zum Beispiel anspornen, trotz aller Rückschläge an seinem Ziel festzuhalten.

Krisen können aber auch ein Anstoß sein, sein Leben neu auszurichten, statt im Unglück steckenzubleiben. Krisen halten uns lebendig, denn in der Krise spürt man den Widerstand des Materials des Lebens selbst. Woraus ist ein Leben gemacht? Das sind zum einen die eigenen Wünsche und was man damit anstellt, und das sind zum anderen menschliche Beziehungen. Und menschliche Beziehungen sind nun einmal nicht immer stabil, weder die zum Partner noch die zu den Eltern, den Kindern, den Kollegen. Man selbst ist auch nicht immer so hart und stabil, wie man denkt. In Krisen kommt etwas in Bewegung.

Übertreiben wir es nicht mit dem Krisenkult? Sie zählen in Ihrem Buch typische Krisen auf, denen Menschen heute ausgesetzt sind: Überforderungskrisen, Sinnkrisen, Beziehungskrisen, Selbst­optimierungskrisen, Identitätskrisen. Klingt das nicht nach Luxuskrisen für Leute, die sonst keine Sorgen haben?

Für mich nicht. Früher wurden Krisen verleugnet und ausgegrenzt. Eine Sinnkrise zu haben galt als „Charakterfehler“, das wurde allenfalls Künstlern zugestanden. Vielleicht haben wir in der Gegenbewegung tatsächlich eine Zeitlang zu viel über Krisen geredet oder in falschen Begriffen wie „Selbstoptimierung“ oder „Krisenmanagement“. Das klingt, als ob es hier ums Wirtschaften ginge. Es geht aber um uns. Krisen sind nichts Technisches, sie sind das Leben selbst.

Frühere Generationen haben elementarere Sorten von Krisen erlebt: verheerende Kriege, Hungersnöte, Seuchen. Haben wir durch Corona eine Ahnung davon bekommen, welche Schockwellen eine „echte“, eine umfassende Krise werfen kann?

Ja, das war ein Krisenschock. Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass wir als Gesellschaft besser mit einer solchen Krise umzugehen gelernt haben als frühere Generationen. Nehmen Sie die „Spanische Grippe“, die zum Ende des Ersten Weltkriegs weltweit mehr Tote hervorbrachte als der Krieg. Diese Pandemie hat im kollektiven Gedächtnis kaum Spuren hinterlassen – welch eine Verdrängungsleistung, die den Menschen damals auferlegt wurde! Heute hingegen leben wir, wie die Kanzlerin sagte, in dem Bewusstsein: „Es geht um jeden einzelnen Menschen!“ Die Gesellschaft kämpft als ganze darum, dass so wenig Menschen wie möglich an dieser Infektion sterben.

Können solche großen Krisen, die alle um uns herum betreffen, vielleicht sogar entlastend sein, weil sie uns so in Beschlag nehmen, dass unsere persönlichen Sorgen in den Hintergrund treten?

Meine persönlichen Erfahrungen gehen in die umgekehrte Richtung: Wer Lebenskrisen hat, hat sie jetzt noch mehr. Eine umfassende Krise wie Corona löst ja nicht die persönlichen Krisen. Zwar muss man jetzt mit Einschränkungen kämpfen, wie man sie sich nie hat vorstellen können. Aber das ist keine Entlastung, sondern eine zusätzliche Bürde.

Krisen sind schmerzhaft. Kann der Schmerz zu etwas gut sein?

Was wäre die Alternative zum Schmerz? Entweder Verleugnung, so wie in der Generation meines Großvaters: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“ Oder die andere Alternative: in ein Loch fallen. Schwärze. Depression. Ob der Schmerz für etwas gut ist, weiß ich nicht. Aber man sollte lernen, ihn anzunehmen und zu leben. Bis hoffentlich das Licht am Ende des Tunnels in Sicht kommt.

Reifen wir an Krisen? Haben wir mit jeder überwundenen Krise einen immer praller gefüllten Kasten an Bewältigungswerkzeugen, die uns zur Verfügung stehen, wenn die nächste Krise naht?

Ach, jede neue Krise kann einem die Füße wegziehen. Selbst etwas so zum Klischee Gewordenes wie die Midlife-Crisis hat etwas Brutales, wenn sie einen erwischt. Da hilft es einem dann auch nicht, wenn man damals die Pubertätskrise erfolgreich gemeistert hat. Aber der gesellschaftliche Werkzeugkasten zum Umgang mit Krisen ist heute besser gefüllt. Es gibt Therapien und Selbsthilfe. Das wichtigste Werkzeug ist: Man kann heute über Krisen reden, weil man sich Krisen zugesteht.

INTERVIEW: THOMAS SAUM-ALDEHOFF

Dirk Knipphals, studierter Literaturwissenschaftler und Philosoph, ist Literaturredakteur bei der tageszeitung in Berlin. Sein Sachbuch Die Kunst der Bruchlandung. Warum Lebenskrisen unverzichtbar sind erschien bei Rowohlt Berlin

Zum Weiterlesen

Sheryl Sandberg, Adam Grant: Option B. Wie wir durch Resilienz Schicksalsschläge überwinden und Freude am Leben finden. Ullstein, Berlin 2017

Timothy D. Wilson: Redirect. Changing the stories we live by. Back Bay Books, New York 2015

Literatur

Jonathan M. Adler u.a.: Variation in narrative identity is associated with trajectories of mental health over several years. Journal of Personality and Social Psychology 108/3, 2015, 476–496

Keith S. Cox, Kathrin J. Hanek, Abigail L. Cassario: Redemption in a single low point story longitudinally predicts well-being: The incremental validity of life story elements. Journal of Personality 87/5, 2019, 1009–1024

Sadie Dingfelder: Our stories, ourselves. Monitor on Psychology, 42/1, 2011, 42

William Dunlop, Jessica L. Tracy: Sobering stories: Narratives of self-redemption predict behavioral change and improved health among recovering alcoholics. Journal of Personality and Social Psychology, 104/3, 2013, 576–590

Tilmann Habermas: Emotion and narrative: Perspectives in autobiographical storytelling. Cambridge 2018 (Studies in Emotion and Social Interaction)

Ari Haukkala u.a.: Sense of coherence, depressive symptoms, cardiovascular diseases, and all-cause mortality. Psychosomatic Medicine, 75/4, 2013, 429–435

Laura A. King u.a.: Stories of life transition: Subjective well-being and ego development in parents of children with Down Syndrome. Journal of Research in Personality, 34/4, 2000, 509–536

Ethan Kross, Ozlem Ayduk: Facilitating adaptive emotional analysis: Distinguishing distanced-analysis of depressive experiences from immersed-analysis and distraction. Personality and Social Psychology Bulletin, 34/7, 2008, 924–938

Maike Luhmann u.a.: Subjective well-being and adaptation to life events: A meta-analysis. Journal of Personality and Social Psychology, 102/3, 2012, 592–615

Judith Mangelsdorf, Michael Eid, Maike Luhmann: Does growth require suffering? A systematic review and meta-analysis on genuine posttraumatic and postecstatic growth. Psychological Bulletin, 145/3, 2019, 302–338

Dan P. McAdams: Making meaning in the wake of trauma. In: Elizabeth M. Altmaier (Hg.): Reconstructing meaning after trauma. San Diego, 2017, 3–16

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2020: An Krisen wachsen