Karin Schwarz, Rainer Tolle und Susa Boden haben zum Tee geladen. Etwas eng ist es schon, rund um den Küchentisch in der Wohnung im Berliner Stadtteil Mitte. Aber dass sich hier mehr als zwei Leute tummeln, ist man gewohnt. Boden (37), Schwarz (59) und Tolle (64) leben polyamor.
Von Polyamorie ist die Rede, wenn mehr als zwei Personen eine einvernehmliche Beziehung führen, und das „basierend auf emotionaler Liebe und intimen Handlungen über einen längeren Zeitraum“, so eine Definition des Wiener…
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so eine Definition des Wiener Kommunikationswissenschaftlers Stefan Ossmann. Wie viele Menschen leben polyamor? Ossmann sagt, es gebe diesbezüglich zwar Schätzungen, aber diese auch nur für die USA. Dort empfänden fünf Prozent der Bevölkerung polyamor. Er glaubt, dass lediglich ein Zehntel dieser fünf Prozent tatsächlich auch in Mehrfachbeziehungen leben. Für Deutschland gibt es keine verlässlichen Zahlen.
Ossmann hat intensiv zu dem Thema geforscht. Für ihn gehört auch eine gewisse Hierarchie zur Polyamorie: Oft gibt es ein zentrales Paar – eine sogenannte Primärbeziehung – und daneben weitere Beziehungen. Für die Beteiligten erfüllen die unterschiedlichen Paarungen verschiedene Funktionen. In Abgrenzung zu einer offenen Beziehung, die in einem definierten Rahmen sexuelle Kontakte außerhalb der Beziehung ermöglicht, geht es bei der Polyamorie auch um emotionale Bindungen.
Wie das konkret aussehen kann, zeigen Karin Schwarz und Rainer Tolle. Sie sind seit 36 Jahren zusammen, seit 20 Jahren verheiratet. Die beiden hatten und haben daneben andere Partner. Tolles Partnerin ist Susa Boden, die ihrerseits verheiratet ist, zwei Kinder hat – und sich mit mehreren anderen Männern in Beziehungen befindet. Man besucht sich, verbringt tageweise Zeit mit dem anderen. „Polykül“ nennen manche das in Anlehnung an die Chemie: So, wie sich einige – und manchmal sehr viele – Teilchen durch chemische Bindungskräfte zu einem Molekül zusammenfinden und für einen gewissen Zeitraum stabil bleiben, wollen die Polyamoren ihre Verbindungen untereinander verstanden wissen. Soziale Gefüge, die akkurat bis in die letzten Verästelungen darzustellen oft einen Flipchart und viel Zeit bräuchte. Susa Boden nennt sie am liebsten „Beziehungsnetze“.
Bodens Ehe besteht seit dem Jahr 2006 und war ursprünglich noch nicht polyamor gestaltet. Die Öffnung für andere Partner war für sie Ergebnis einer Abwägung, bei der es nicht nur um Selbstverwirklichung ging, sondern auch um Schadensbegrenzung: „Die Ehe ist zunehmend abgeflacht, wir haben mehr oder weniger nebeneinanderher gelebt. Da aber Kinder da waren, wollten wir uns nicht trennen. Polyamorie erschien uns als eine Lösung.“ Aus ihrem damaligen Wohnort Bonn ist sie mittlerweile nach Berlin gezogen, auch weil hier die Auswahl an Menschen, die sich selbst als polyamor verstehen, größer sei. Ihre Kinder – sieben und zwölf Jahre alt – leben bei ihr und haben jetzt mehrere soziale Väter.
Experimentierfreude, Lust am Vermitteln
Berlin, das passt, könnte man jetzt sagen. Schließlich vermuten hinter dem Schlagwort „Polyamorie“ viele ein urbanes Zeitgeistthema, das es auch ist – aber eben nicht nur. Festhalten lässt sich, dass der Begriff langsam allgemeine Verbreitung findet. Der Kommunikationswissenschaftler Ossmann hat festgestellt, dass in dem von ihm untersuchten Zeitraum zwischen 2007 und 2017 die Berichterstattung zu dem Thema durchaus zugenommen hat, wenn auch nicht exponentiell, wie er betont. Es sei eben eher etwas für die Wochenendbeilagen als für die tägliche Boulevardpresse – für diese sei die Angelegenheit einfach zu komplex, sagt er.
Experimentierfreude, Lust am Reden, Vermitteln und Aushandeln; das Scheitern des Versuches, sich auf nur eine einzelne Person einzulassen; das politische Ansinnen, Teil einer allgemeineren sexuellen Befreiungsbewegung zu sein: Wenn man mit Beziehungsexperten und Polyamoren über die Polyamorie spricht, wird schnell klar, dass es sich dabei um ein Konzept handelt, das von sehr unterschiedlichen Menschen aus sehr verschiedenen Gründen verfolgt wird. Und doch scheint es gewisse Faktoren zu geben, die die meisten Polyamoren einen. Eine gewisse Skepsis gegenüber althergebrachten Vorstellungen von sexueller Identität dürfte dazugehören.
Das zeigte etwa ein Team rund um Melissa Manley an der University of Michigan. Es befragte zwei Gruppen von Probanden, polyamor orientierte Personen einerseits, monogam orientierte Personen andererseits. Untersucht wurde, ob es im Studienzeitraum von fünfeinhalb Monaten bei den Probanden Änderungen in einem dieser Bereiche gab: sexuelle Orientierung (hetero-, homo-, bi-, asexuell); sexuelle Anziehung gegenüber einem bestimmten Geschlecht; das tatsächliche Geschlecht des Partners. Eine solche Änderung wurde nur bei jedem fünften Monogamen, aber bei jedem zweiten Polyamoren verzeichnet.
Der Dritte als Korrektiv
Der Antitraditionalismus der Polyamoren kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass sie sich von einem Partner nicht erhoffen, dieser werde alle Bedürfnisse befriedigen; diese Aufgabe kommt eher dem Beziehungsnetz als Ganzem zu. Die Psychologin Rhonda Balzarini von der York University im kanadischen Toronto hat das veranschaulicht, indem sie 1308 polyamore Personen auf Unterschiede zwischen ihren Primär- und Sekundärbeziehungen befragte. Der Primärbeziehung schrieben die Befragten eine größere Verbindlichkeit und Zufriedenheit sowie eine bessere Kommunikation zu. Mit dem sekundären Partner verbrachten die Befragten hingegen mehr Zeit mit sexuellen Aktivitäten als mit dem primären Partner.
Unterschiedliche Menschen also, die als Partner Unterschiedliches bedeuten und bewirken. Da dürfte es kaum erstaunen, dass die größte Herausforderung für Polyamore in aller Regel die Kommunikation ist. Im Gespräch mit den polyamor Lebenden Boden, Schwarz und Tolle spielt ein Ideal eine große Rolle, das fordert: Jeder soll in alles eingeweiht sein, alles soll gemeinsam besprochen und im gegenseitigen Konsens abgestimmt werden.
Das ist heikel. Allein mit einer einzigen anderen Person ein auf Transparenz und Offenheit beruhendes Verhältnis aufrechtzuerhalten ist anstrengend. Mit jeder hinzukommenden Person vergrößert sich der Aufwand. Dabei geht es nicht nur um organisatorische Fragen – wer schläft morgen wann bei wem? – oder den Versuch, durch Gespräche Eifersuchtsgefühle zu bewältigen. Gerade bei langjährigen Paaren spielt ein hinzukommender Dritter auch gerne mal die Rolle des außenstehenden Beobachters, der den Zweien den Spiegel vorhält. Polyamorie als Weg zur Selbsterkenntnis und -verbesserung?
Man braucht ein dickes Fell
Rainer Tolle glaubt, viele Menschen lebten in monogamen Zweierbeziehungen, „weil sie sich selbst nicht kennenlernen wollen“. Man suche im anderen ein Idealbild. „Das geht regelmäßig schief, weil die Diskrepanz zwischen Ideal und Realität immer größer wird. Umso mehr heiße Eisen entstehen, die man gar nicht mehr anfassen will. In der polyamoren Beziehung baut man zwar auch solche Idealbilder auf, aber das fällt den anderen Partnern sehr schnell auf“, sagt Tolle. Der Dritte, ergänzt Karin Schwarz, sei „jemand, der wahrnimmt und eingeladen wird, seine Wahrnehmungen zu teilen“. Das sei nicht immer leicht. Als ihr anderer Partner Holger in der gemeinsamen Wohnung angefangen habe, die Verhaltensweisen von ihr und ihrem Ehemann Rainer zu hinterfragen, sei das erst einmal „knüppelhart“ gewesen.
Überhaupt braucht man, so scheint es, als Polyamorer ein dickes Fell. Das ist einer der Gründe, warum manche Psychologen der Idee des Vielfachliebens skeptisch gegenüberstehen. Dazu zählt auch Isabella Heuser-Collier. Die Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité glaubt, dass die Vorstellung, immer offen zu sein und über Schwierigkeiten kommunizieren zu müssen, für viele Menschen eine emotionale Überforderung darstelle – und verweist zudem auf den hohen Zeitaufwand, der damit einhergehe.
Für Heuser-Collier konfligiert die Idee, nicht den Einzelnen, sondern viele ins Zentrum seines Liebens und Begehrens stellen zu wollen, mit grundlegenden menschlichen Bedürfnissen: „Wir wollen für andere besonders sein; die Einzigartigkeit befriedigt den Narzissmus, den wir nun einmal haben.“ Gerade beim Heranwachsen sei es wichtig, dass ein Mensch eine starke, auf ihn fokussierte Bindung erfahre. Zwar seien insbesondere jüngere Menschen in der Lage, dem Exklusivitätsprinzip zuwiderzuhandeln, etwa in Form einer polyamoren Beziehung. Damit gingen jedoch auch Gefahren einher. Ausgesprochen kränkend sei es, die Erfahrung zu machen, dass der Partner sich ständig weiteren Personen zuwende. „Der Neue ist immer ein Stück weit faszinierender und damit einzigartiger‘. Weil der Neue Aufmerksamkeit braucht, nehme ich mich als weniger einzigartig wahr.“
Wenn eine Lebensweise zur Ideologie wird
Der Schweizer Psychotherapeut Tim Wiesendanger sieht das anders. Für ihn besteht die Gefahr gerade in der romantischen Überhöhung der Zweierbeziehung. Er warnt davor, allzu sehr bei jener Vorstellung zu verharren, die er als „modernen Mythos der Monogamie“ beschreibt: dass die möglichst lebenslange Monogamie die anzustrebende Beziehungsform zweier Menschen sei. Die „Märchen unserer Kindheit, die zuckersüßen Geschichten von lebenslang glücklichen Paaren in Hollywoodfilmen, in Seifenopern und in der Werbung sowie allem voran die kirchengesteuerte Machtpolitik über Sexualität“ hätten dazu geführt, dass die Monogamie vielfach als etwas Naturgegebenes wahrgenommen werde, so schreibt Wiesendanger in seinem Buch Abschied vom Mythos Monogamie.
Gar das „Ende der Monogamie“ ruft etwa der Autor und Journalist Friedemann Karig in seinem vielbeachteten Essay Wie wir lieben aus. Diese Beziehungsform nämlich sei „ein Desaster“, zumal fast jede zweite Ehe in Deutschland geschieden werde, Beziehungen im Schnitt lediglich vier Jahre dauerten und rund die Hälfte der erwachsenen Deutschen schon einmal fremdgegangen sei. Anlass für Karig, die Polyamorie als Utopie für gekränkte Mono-Seelen zu konzipieren. Und in der Tat dürfte praktisch jeder jemanden kennen, der mit seelischen Blessuren aus einer Zweierbeziehung kam. Belegt ist indes nicht, dass es diese Verletzungen in polyamoren Konstellationen in geringerem Maße gibt. Karig und andere Befürworter der heutigen Polyamorie stellen sich gerne in eine Reihe mit großen politischen Denkern, die in ihrer Zeit bestehende Beziehungskonzepte infrage stellten.– Zu Recht? Es lohnt sich, genauer hinzuschauen.
Liebe ohne Limit
Die Literaturwissenschaftlerin Hannelore Schlaffer hat das Konzept der „intellektuellen Ehe“ in ihrem gleichnamigen Buch vorgestellt. Die Intellektuelle Ehe heißt es, weil es in der Zeit von 1880 bis 1920 vor allem Künstler und Gelehrte waren, die diese Form der Beziehung vorantrieben – und zwar nicht nur im privaten Raum, sondern auch publikumswirksam durch Schriften und öffentliche Auftritte. Im Mittelpunkt standen Gleichberechtigung und gegenseitige Toleranz.
Wenngleich die Freiheit des Einzelnen, außerhalb der Ehe erotische Abenteuer zu erleben, durchaus in vielen Ausprägungen der von der anbrechenden Moderne geprägten Lebensform inbegriffen war, drehte sich hier letztlich alles um das Ehepaar. Das Beispiel der Schriftsteller und Philosophen Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre zeigt das. So sehr die beiden sich auch bemühten, dem jeweils anderen Romanzen zuzugestehen, so blieben sie doch auf ihr Paarsein fixiert: ein Doppelstern, um den das restliche Universum zu kreisen hatte. Beauvoir und Sartre verständigten sich „von Anfang an auf eine verlässliche Liebe, die mit freier Liebe gepaart sein sollte, auf Treue, die den Seitensprung erlaubte, auf eine Liebe also, die auch die Liebe des Partners zu anderen liebte“, wie Hannelore Schlaffer schreibt.
Die Polyamorie hingegen hat einen anderen Wesenskern: Hier geht es nicht darum, eine Paarbeziehung aus Liebe zum anderen luftiger zu gestalten, sondern das Konzept der Paarbeziehung letztlich aufzulösen. Laut der Gründerfigur der Polyamorie schafft man dadurch eine gesündere, offenere Beziehungskultur. In ihrem 1992 veröffentlichten Werk Love Without Limits verlieh die Psychologin Deborah Anapol dem in den 1980er Jahren entstandenen polyamory movement erstmals eine Stimme. In einem späteren Buch formulierte die im Jahr 2015 verstorbene Autorin eine Beziehungsethik, die auf den Werten Ehrlichkeit, Verbindlichkeit, Integrität und Gleichheit beruht. Sie schrieb dazu: „Die Polyamorie ist der Demokratie in vielen Hinsichten ähnlich – beide funktionieren am besten für aufgeklärte und engagierte Bürger.“
Die Eifersucht verlernen
Im besten Fall fordert eine auf mehrere Liebespartner ausgerichtete Beziehungsstruktur demzufolge nicht nur auf- und abgeklärtes Handeln, sondern fördert es auch. Gut und schön, könnte man einwenden: Die Liebe ist doch nun einmal nicht nur Kopfsache – der Bauch redet auch mit. Was tun, wenn die von Rationalität und offenem Diskurs geprägten Werte im Alltag dann doch Makulatur sind, weil sie von Gefühlen wie Eifersucht überschattet werden?
Die Eifersucht und das damit verbundene schlechte Gewissen seien, findet Psychotherapeut Tim Wiesendanger, keine „natürlichen“ Gefühle, sondern die „ungenießbaren Früchte einer individuellen neurotischen Entwicklung in der Kindheit und Jugend, eingebettet in ein Kollektiv letztlich absurder Besitzansprüche“. Diese seien Ausdruck eines toxischen Wertefundaments, das wesentliche Teile unseres Gesellschafts- und Familiensystems präge – und das es aus Wiesendangers Sicht zu überwinden gilt. Aber geht das so einfach? Und: Fällt es Polys leichter?
Der Sozialpsychologe Justin Mogilski ist der Autor einer im Januar publizierten Studie, die dieser Frage nachgegangen ist. Dazu verglich er 529 Monogame mit 159 Personen, die in Paarbeziehungen waren, in denen beide Partner romantische Kontakte außerhalb der Zweierkonstellation akzeptierten. In Gedankenexperimenten konfrontierte Mogilski seine Probanden mit verschiedenen Szenarien, die Eifersucht erzeugen könnten: Was wäre, wenn der Partner mit einer dritten Person in ein intimes Verhältnis einträte – sexuell oder auf der Gefühlsebene?
Ein Ergebnis der Studie lautet: Polyamore sind nicht weniger eifersüchtig, sondern anders. Während die monogamen Probanden verstärkt über Eifersucht auf der emotionalen Ebene berichteten, verhielt es sich auf rationalem Terrain genau andersherum. Die Nichtmonogamen verbrachten mehr Zeit mit eifersüchtigen Gedanken; ein Vorgang, der nach der Lesart Mogilskis wohl dazu dient, vorhandene Eifersuchtsgefühle zu rationalisieren.
Wie ein solcher Rationalisierungsversuch aussieht, kann man am Beispiel von Matthias Stephan ablesen. Auch Stephan ist ein bekennender Polyamorer. Der 53-Jährige lebte in einer monogamen Beziehung, erkannte dann seinen Hang zum Viellieben und gründete in Hannover einen Stammtisch, um sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen. Zehn Jahre ist das jetzt her. Seither habe er viel gelernt. Zum Beispiel: „Die Fantasie ist ein starker Motor für Eifersucht. Wenn man sich der Realität stellt, schwächt man auch die Eifersucht.“ Zusammen mit seinen Vertrauten vom Poly-Stammtisch habe er, der früher selbst sehr eifersüchtig gewesen sei, sich zum Ziel gesetzt, „die Eifersucht zu verlernen“. Wenn alle einer Kultur der Transparenz folgen, so die Idee, dann gibt es wenig, was im Unbestimmten bleibt, und damit wenig, vor dem man sich fürchten müsste.
Die Frage ist indes, ob überhaupt jede Form der Eifersucht bekämpft werden sollte. Der am Universitätsklinikum Würzburg tätige Psychosomatikprofessor Herbert Csef etwa weist in einem wissenschaftlichen Überblicksartikel zum Thema Polyamorie darauf hin, dass es neben krank- und wahnhaften auch „berechtigte“ Formen der Eifersucht gebe: nämlich dann, wenn es einen realen Rivalen oder Nebenbuhler gibt und die Verlustängste „einfühlbar und begründet“ sind. Denn dann stehe ja tatsächlich die Gefahr im Raum, eine bedeutsame und wertvolle Beziehung zu verlieren.
Die Belastungsgrenzen kennen
Die Liebe, sagen Polyamore gerne, werde nicht weniger, wenn man sie aufteilt. Indes: Die Aufmerksamkeit, gemessen in Minuten, die man am Tag Zeit für eine Person haben kann, ist faktisch durch die Umstände des Lebens begrenzt. Wie geht es einem Polyamoren, wenn er merkt, dass ein Partner seine Aufmerksamkeit gerade einem anderen schenkt und für einen selbst nichts mehr übrig zu sein scheint? „Es gibt Paare, die für eine gewisse Zeit einen Flow miteinander haben, sich blind verstehen, und die anderen kommen da fast nicht dazwischen“, sagt Rainer Tolle. Das müsse schon mal gehen in einem Beziehungsnetz, ohne dass die anderen ausflippten, findet er.
Heißt das, dass letztlich jeder macht, was ihm guttut, ohne Rücksicht auf die anderen? Tolle sieht das so: „Es kann vorkommen, dass jemand abzustürzen droht. Dann muss man versuchen, denjenigen mitzunehmen. Zum Beispiel indem man Dinge in Räume verlagert, wo der andere das nicht unmittelbar mitbekommt.“ Man müsse Gefühle aushalten, aber auch schauen, wo die Belastungsgrenzen des Einzelnen sind. Und das bedeutet: Arbeit.
Dennoch beinhaltet die Polyamorie für viele das Versprechen, den Frustrationen des klassischen Beziehungslebens aus dem Weg gehen zu können. Matthias Stephan etwa empfand sein monogames Leben als bedrückender. Er habe damals vieles nicht hinterfragt, es sei leicht mal was unter den Tisch gefallen. „Sobald aber mehr als zwei Personen involviert sind, hilft es nicht“, sagt Stephan. „Dann muss man reden.“
Auf Spiegel Online wurde kürzlich von Paarberatern die These vertreten, unglückliche Paare suchten im Schnitt sechs Jahre zu spät Hilfe. An diesem Punkt lohnt der Blick auf den polyamoren Ansatz. Die mit ihm einhergehende gesteigerte Bereitschaft, das, was in einer Beziehung nicht gut läuft, zu thematisieren und anzugehen, kann womöglich auch für jene inspirierend sein, die unter Liebe traute Zweisamkeit verstehen.
Geschichte einer Bewegung
- Der Begriff der Polyamorie ist eine eingedeutschte Form des englischen Begriffs polyamory – ein Kunstwort aus poly (viele) und amor (Liebe).
- Prominente Vorläufer der Polyamorie finden sich vor allem in Intellektuellenkreisen, so in der Schwabinger Bohème zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder fünfzig Jahre später im intellektuellen Paris.
- 1992 veröffentlicht die Psychologin Deborah Anapol das Buch Love Without Limits – bis heute ein wichtiges Grundlagenwerk der Polyamorie-Bewegung.
- 2006 wird der Begriff polyamory auf Initiative der amerikanischen Aktivistin Morning Glory Zell-Ravenheart ins Oxford English Dictionary aufgenommen. Ins Deutsche übersetzt lautet die Definition: „Die Praxis, der Zustand oder die Fähigkeit, unter wissentlicher Zustimmung aller Beteiligten mehr als eine liebevolle sexuelle Beziehung zur selben Zeit zu haben.“
- In den letzten Jahren sind im deutschsprachigen Raum viele Polyamorie-Stammtische entstanden. Für die Polyamorie-Bewegung sind sie wichtige Anlaufstellen – zum gegenseitigen Erfahrungsaustausch, aber auch als Partnerbörse.
Literatur
Deborah Anapol: Polyamory in the 21st century: Love and intimacy with multiple partners. Rowman & Littlefield, Lanham 2012
Rhonda N. Balzarini u. a.: Perceptions of primary and secondary relationships in polyamory. Plos One, 12/5, 2017. DOI: 10.1371/journal.pone.0177841
Herbert Csef: Polyamory – ein Weg aus den Zwangen der Monogamie und destruktiver Eifersucht? Journal fur Psychologie, 22/1, 2014, 1–15.
Friedemann Karig: Wie wir lieben: Vom Ende der Monogamie. Aufbau Taschenbuch, Berlin 2017
Melissa H. Manley u. a.: Polyamory, monoamory, and sexual fluidity: A longitudinal study of identity and sexual trajectories. Psychology of Sexual Orientation and Gender Diversity, 2/2, 2015, 168–180.
Justin K. Mogilski u. a., Jealousy, consent, and compersion within monogamous and consensually nonmonogamous romantic relationships. Archives of Sexual Behavior, 2019. DOI: 10.1007/s10508-018-1286-4
Hannelore Schlaffer: Die intellektuelle Ehe: Der Plan vom Leben als Paar. Hanser, München 2011
Tim K. Wiesendanger, Abschied vom Mythos Monogamie: Wege zur authentischen Beziehungsgestaltung. Querverlag, Berlin 2018