Das Kreativ-Ich in der Krise

Therapiestunde: Panikattacken, Lampenfieber, Selbstzweifel: Alina Gause hat ein Konzept entwickelt, mit dem sie Kreative unterstützt.

Die Illustration zeigt eine Person mit drei Köpfen, die die drei Anteile verkörpern, die die Kreativität bei Künstlern unterstützt
Die drei Anteile der Person sollten gut versorgt sein. Dann wird das Künstlerleben gelingen. © Michel Streich

Kreative Persönlichkeiten verfügen über zahlreiche psychische Kompetenzen, die bei der Bewältigung von Krisen hilfreich sind, wie Fantasie, Kreativität, Hu­mor oder Ambiguitätstoleranz (das Gegenteil von „Schwarz-Weiß-Denken“). Zudem steht ihnen die Kunst als innerer roter Faden zur Seite, wenn sie aus der Balance geraten. Sie wirkt einerseits wie ein Seismograf für Erschütterungen und hilft andererseits bei der Stabilisierung. So spürt eine Sängerin Belastungen auf ihrer Stimme – das Singen ist ihr aber…

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So spürt eine Sängerin Belastungen auf ihrer Stimme – das Singen ist ihr aber auch bei der Überwindung hilfreich.

Eine weitere Besonderheit bei den kreativen Berufsgruppen besteht darin, dass alles „in einem Topf“ ist: Wo endet die Arbeits- und beginnt die Freizeit? Alle Leidenschaften sind im Beruf realisiert und das private und berufliche Netzwerk sind häufig stark miteinander verzahnt. Daher löst ein Problem in einem Teilbereich nicht selten einen Flächenbrand aus, und es fällt schwer, die Quelle für den Leidensdruck zu benennen.

Die Schauspielerin Inga entwickelte etwa nach zwei schlecht verlaufenen Drehtagen Panikattacken und Schlafstörungen – damit geriet für sie das ganze Leben aus den Fugen. Oder Makoto, Klarinettist, fand nach 30 Jahren Leidenszeit, in denen er sein Lampenfieber zeitweise mit Alkohol und Medikamenten „behandelt“ hatte, zu mir. Und Annette, Autorin, litt unter einem für sie unentwirrbaren Chaos aus familiären Mustern, Zweifeln und Selbstanklagen, das sie aus ihrer Sicht daran hinderte, Bücher zu schreiben.

Das Kreativ-Ich im Lockdown

Für diese Problemstellungen habe ich unter anderem das Konzept der drei Persönlichkeitsanteile Kreativer entwickelt: Danach gibt es die erste Person, die Privatperson, und die zweite Person, das Kreativ-Ich. Und schließlich die dritte Person, die in Situationen erscheint, die nicht eindeutig der ersten oder zweiten Person zugeordnet werden können und zumeist Fragen des Marketings und der Selbst­organisation betreffen. Verknappt könnte man sagen: Sind alle drei Persönlichkeitsanteile gut versorgt, ist ein nachhaltig zufriedenstellendes Künstlerleben garantiert.

Häufig stelle ich dieses Denkmodell di­rekt zu Beginn der Zusammenarbeit vor. Ich führe aus, dass erste, zweite und dritte Person sich in ihren Bedürfnissen und Aufgaben unterscheiden, gegebenenfalls verschiedene Lebensräume bevorzugen und sich in unterschiedlichen Spannungs- und Bewusstseinszuständen befinden. Ich bitte mein Gegenüber, für jeden Persönlichkeitsanteil einmal zu überlegen, was er braucht, um sich in seinem Element zu fühlen. Erste Person: Ist die Privatperson gerne im Wald oder lieber in der Clubszene unterwegs? Wie viel Schlaf und Bewegung sind für sie richtig? Wie wichtig ist ihr der Kontakt oder Abstand zu ihrer Ursprungsfamilie? Zweite Person: Welche Dosis an Ausübung der Kunst braucht das Kreativ-Ich, um sich lebendig zu fühlen? Ist es störend, wenn die Nachbarn alle Übungen mitverfolgen? Und schließlich die dritte Person, der Manager des Trios: Wie leicht oder schwer fällt es ihr, das Selbstmarketing zu betreiben? Ist eine klare zeitliche Struktur hilfreich oder hinderlich?

Im zweiten Schritt schauen wir, in welchen Bereichen es rundläuft und wo etwas fehlt. Unter Umständen ist die zweite Person, das Kreativ-Ich, in ihrer Welt furchtlos und ambitioniert, die dritte Person hingegen in Bezug auf ihren Bereich verängstigt oder desillusioniert. Oder die erste Person, das Privatleben, hat unter der erfolgreichen Karriere gelitten – zweite und dritte Person sind aber zu Recht stolz auf das Erreichte. Natürlich ist die Aufteilung einer Gesamtpersönlichkeit in drei Ein­zelteile ein künstlicher Vorgang. Kreative finden jedoch häufig durch eine solche getrennte Betrachtung der unterschiedlichen inneren Welten zu einer entlastenden Ordnung und zurück in den Handlungsmodus. Sie lernen die verschiedenen Stärken und Schwächen ihrer Anteile kennen und können sie zu ihrem persönlichen Dreamteam hin entwickeln.

Die vermeintliche Inkompetenz

Für die Schauspielerin Inga kristallisierte sich heraus, dass alles, was ihre Privatperson brauchte, um auf stabilen Beinen zu stehen, durch den Corona­lockdown weggebrochen war. Die Familie im Ausland zu sehen, der Sportverein, Zeit mit dem Patenkind zu verbringen. Ihr wurde klar, dass es diese solide Basis der ersten Person war, die es ihr bisher erlaubt hatte, in der zweiten Person dem hohen Druck ihrer Filmkarriere standzuhalten. Der Wegfall dessen hatte sie labilisiert und ihr Lampenfieber in Auftrittsangst kippen lassen. Die damit verbundenen Schlafstörungen und Panikattacken waren ihr jedoch nicht nur wie eine Verstärkung des üblichen Lampenfiebers erschienen, sondern wie ein neuartiges und daher besonders besorgniserregendes Phänomen.

Sie interpretierte sie zu­dem als Folge vermeintlicher Inkompe­tenzen der Schauspielerin in ihr. Als wir nun identifizierten, was für eine entscheidende Säule mit ihrem veränderten Privatleben weggebrochen war, konnte sie zum einen die wichtige Aufgabe dieses Anteils erkennen und zum anderen ihr Vertrauen in die zweite Person, die Schauspielerin, zurückgewinnen. Wir räumten der Stärkung ihrer Privatperson unter Coronabedingungen höchste Priorität ein. Die positiven Effekte davon und die Erleichterung darüber, ihr Kreativ-Ich unversehrt als kompetent zu erfahren, senkten ihre Ängste innerhalb weniger Wochen wieder auf ein für ihre Arbeit als Schauspielerin notwendiges, aber akzeptables Maß.

Vernachlässigte Sehnsüchte

Bei Makoto, dem Klarinettisten, ergab die Analyse, dass er sich privat so stabil fühlte wie lange nicht mehr, was er vor allem auf die glückliche Beziehung zu seinem Partner zurückführte. Dadurch war Raum für Themen der zweiten Person entstanden – wie etwa seine Auftrittsangst. Beim Blick auf sein Musiker-Ich stellten wir fest, dass er seine persönlichen Wünsche zugunsten eines eher fremdbestimmten, vorgezeichneten Weges zurückgestellt hatte. Vorsichtig näherten wir uns den vernachlässigten Sehnsüchten. Er erzählte von einer Begegnung mit Leonard Bernstein und weinte.

Es führte ihm vor Augen, wie tief die Liebe zur Musik in ihm verankert war und dass seine Ängste ihm den Zugang hierzu verstellten. Dieses emotionale Erlebnis brachte für ihn die Wende – wir entwickelten ein Übungsprogramm und besprachen, wie er vor einem Konzert bewusst das Gefühl aus der Begegnung mit Bernstein als Erinnerungsanker nutzen könne. Er berichtete mir später, dass die Ängste sich durch die Übungen und die erneuerte Verbindung zu seiner zweiten Person, dem Musiker-Ich, so reduzieren ließen, dass ihn die Schönheit der Musik wieder erreichen konnte. Vor seinem Einsatz habe er nur noch gedacht: „Wie schön, dass ich ein Teil davon bin“, und das erste Mal seit seinem dritten Studienjahr wieder angstfrei gespielt.  

Abschließend möchte ich noch von Annette – der Autorin, die keine sein konnte – erzählen. Gekommen war sie in der Erwartung, dass wir in mühseliger Arbeit eine hochneurotische Familienverstrickung lösen müssten, um es ihr zu ermöglichen, ins Schreiben zu kommen. Für uns beide überraschend verließ sie bereits die erste Sitzung mit einem ganz neuen Blick auf ihre Gesamtpersönlichkeit und einem klaren Entschluss: Sie werde von nun an ihre zweite Person, die Autorin in sich, als unabhängiges Wesen mit eigener Legitimation betrachten. Den von ihr selbst so genannten „Psychoteil des privaten Ichs“ wolle sie hingegen ab sofort – zumindest in den Schreibzeiten – ad acta legen. Und ihre dritte Person habe ihrem Autorinnen-Ich verordnet, sich auf diesem Weg von mir unterstützen zu lassen. In der Folgezeit konnte ich miterleben, wie sie sich tatsächlich ungeachtet der alten Familienkonflikte als Autorin etablierte.

Alina Gause, Diplompsychologin und Schauspielerin, bietet in Berlin eine spezielle Beratung für Künstlerinnen und Künstler an. Sie ist Autorin des Buches Kompass für Künstler. Ein persönlicher Wegbegleiter für Kreative (Springer 2017)

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2021: Menschen verstehen wie die Profis