Halbtrocken

Abstinenz gilt als das oberste Ziel in der Behandlung von Alkoholabhängigkeit. Doch es ist nicht mehr das einzige. Über einen Wandel und seine Chancen.

Die Illustration zeigt einen Mensch mit einem kleinen Weinglas im großen Glas in der Hand, aus dem er trinkt
Von Halbtrocken zu Trocken? Konsumreduktion führt bei Alkohol häufig zu Abstinenz. © Karsten Petrat

Schon mit 14 Jahren hat Heiko Enders* jeden Donnerstag mit seiner Clique und einem Kasten Bier das Wochenende eingeläutet und dann ausgiebig bis Sonntagmittag gefeiert. Nach dem Schulabschluss zog er nach Berlin – und dort jeden zweiten Abend durch Clubs und Bars. Zu Bier, Sekt und Schnäpsen gesellte sich immer mal auch Kokain. Zehn Jahre ging das so. Dann kam Köln: zwanzig Bier am Abend, manchmal auch nur zwölf oder dreizehn, dafür dann aber zusätzlich sechs oder sieben Wodka mit Red Bull.

Freundinnen und…

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und Freunde sprachen ihn nun immer öfter an, ob er nicht etwas viel trinke. Enders winkte jedes Mal ab. Er vertrage das, keine Sorge. Irgendwann begann er, nicht mehr nur in geselliger Runde und auf Partys zu trinken, sondern auch zu Hause Vorräte anzulegen – für sich allein. Drei- bis viermal in der Woche stürzte er zwei Flaschen Wein oder auch mal eine halbe Flasche Scotch hinunter. Immer öfter schwänzte er die Arbeit. Eigentlich nicht sein Stil.

Zweimal hat er seither schon versucht, das Trinken ganz sein zu lassen. Zuletzt hat das fast zwei Jahre geklappt. Doch jedes Mal gewann der Alkohol wieder die Oberhand. Auch an diesem einen Abend im Frühjahr. Erst gab es Champagner zum Anstoßen, dann Wein zum Quatschen und später Absinth in einer Bar. Und plötzlich schlug ihm die Hauswand ins Gesicht. Der inzwischen 44-Jährige war so betrunken, dass er sich entlang der Häuserfassaden durch die Straßen Hamburgs in seine Wohnung schleppen musste. Ein Absturz zu viel. Tränen schossen ihm in die Augen. Scham und Ekel krochen in ihm hoch. „Wie du dich selbst zugrunde richtest“, dachte er. So, das wusste Enders, konnte es nicht weitergehen.

Ein „gebesserter Konsum

Vor nur 15 Jahren wäre der Weg, den Enders nun einschlagen musste, klar gewesen: Nie wieder trinken. „Damals hätte ich gesagt: Abstinenz ist das einzige Ziel, das es in der Behandlung von ­Abhängigkeit gibt“, sagt auch Professor Karl Mann, einer der führenden Forschenden zu Suchterkrankungen in Deutschland und viele Jahre ärztlicher Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim.

Heiko Enders biegt aber anders ab. Er wendet sich an eine Suchtberatungsstelle, die Konsumreduktion als Therapie anbietet – noch vor wenigen Jahren kaum denkbar. Oder wie Karl Mann in einem Positionspapier in dem Fachmagazin Suchttherapie noch vor zehn Jahren betonte: „Bei dezidierten Alkoholabhängigen zeigen Langzeitstudien, dass es auf Dauer keinen ­‚gebesserten Konsum‘ gibt.“

Seither hat sich viel verändert. Die Konsumreduktion ist in Deutschland mittlerweile ein ebenso probates Mittel, um Menschen mit einer Suchterkrankung zu helfen, wie der vollständige Verzicht. So steht es seit 2014 sogar in der Leitlinie Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen. Daran haben damals 46 wissenschaftliche Gesellschaften mitgearbeitet – federführend betreut von Karl Mann. Im Januar 2021 erschien nun die Neuauflage der Leitlinie. Wie schon in der Vorgängerversion heißt es in dem 400-Seiten-Werk, dass Abstinenz das vorrangige Ziel einer Entwöhnungsbehandlung sei und bleibe. Wenn es aber für die Person nicht möglich sei, diese zu erreichen, „soll eine Reduktion des Konsums – Menge, Zeit, Frequenz – im Sinne einer Schadensminimierung angestrebt werden“. 

Professionelle Hilfe

Seit Jahrzehnten gibt es unter Suchtforscherinnen und -forschern bereits die Idee, es mit einer Reduktion der getrunkenen Menge zu versuchen, statt immer nur an dem Dogma Abstinenz festzuhalten. All die Jahre stieß das auf taube Ohren und vehementen Widerstand. Woher rührt nun die Wende? Drei Dinge haben den Anstoß gegeben: ein engagierter Psychotherapeut, ein Paradigmenwechsel in der Forschung und ein neues Medikament.

Schon ein Blick in die Statistiken lässt schnell erkennen, weshalb es zu einem Umdenken kam, ja kommen musste: In Deutschland sind nach aktuellen Erhebungen etwa 1,77 Millionen Menschen an einer Alkoholabhängigkeit erkrankt. Doch nur ein Bruchteil davon ist in Behandlung. Dem Bericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2015 zufolge sind es nur 163 000 Menschen. Das entspricht nicht einmal zehn Prozent der Erkrankten. Bei keiner anderen psychischen Erkrankung finden sich so niedrige Behandlungsraten.

Dieser Umstand hat mehrere Gründe. Einer davon: Die Hürde, sich mit einer Sucht professionelle Hilfe zu suchen, ist noch immer hoch. Die Scham ist enorm. Wer süchtig ist, der gilt in der Gesellschaft als schwach – und selbst schuld. „Eine weitere Herausforderung ist, dass in der Behandlung der Alkoholabhängigkeit die Abstinenz immer noch als oberstes Therapieziel gilt. Das wirkt auf Patientinnen und Patienten häufig abschreckend“, sagte Thomas Hillemacher, ärztlicher Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der „Paracelsus Medizinischen Privatuniversität“ am Klinikum Nürnberg, schon 2012 auf einer Pressekonferenz.

Depression und Migräne

Genauso empfand es auch Heiko Enders. In eine Klinik wollte er nicht und auch zu einer ambulanten Therapie konnte er sich lange nicht durchringen, denn das Ziel sollte immer der komplette Verzicht sein. Sein persönliches Ziel war das aber nicht. So wie er entschied sich die große Mehrheit der Betroffenen daher bislang lieber gegen eine Behandlung. Und wenn jemand es doch stationär versuchte, wurde die Person umgehend der Klinik verwiesen, wenn sie die Abstinenzregeln des Hauses brach.

Die Folgen der bisherigen Versorgung: Die Betroffenen rutschten immer weiter ab. Niemand fing sie auf. Dabei sind die Folgen von Sucht verheerend. Beziehungen gehen zu Bruch, nicht wenige verlieren ihren Job, Familien zerbrechen, die Menschen verfallen in eine Depression, das Zellgift Alkohol richtet zugleich ihren Körper zugrunde. Entsprechende Warnsignale sendete auch Heiko Enders Körper schon mit Anfang 40. Seine Leber war doppelt so groß wie üblich, ergab eine Untersuchung beim Hausarzt. Dazu kamen Bluthochdruck, Magenschleimhautentzündung und immer öfter Migräne. Auch das, sagt Enders heute, kam vom Suff. Die Zahl der Menschen, die jedes Jahr durch Alkoholkonsum oder den Konsum von Tabak und Alkohol sterben, liegt Schätzungen der Bundesregierung zufolge bei 74000.

Absurd: Entscheiden Sie sich für Enthaltsamkeit oder Sie bekommen keine Behandlung. „Das wäre, als würden Sie zu einem Diabetiker sagen: Sie dürfen nie wieder Süßes essen, keine Schokolade, keinen Kuchen, und wenn Sie sich nicht daran halten, beenden wir die Behandlung“, sagt der Psychiater Falk Kiefer, ärztlicher Direktor am ZI Mannheim. Doch genau das ist jahrzehntelang geschehen. „Wenn jemand zur Suchtbehandlung kam, aber partout nicht abstinent leben wollte, haben wir ihn oder sie einfach nicht behandelt, sondern nach Hause geschickt und der Person gesagt, sie solle wiederkommen, wenn sie so weit wäre“, berichtet Mann. „Aus heutiger Sicht ist das ein schlimmer Kunstfehler.“

Abstinenztherapie

Das hat der Psychologieprofessor Joachim Körkel schon Mitte der neunziger Jahre so empfunden. Der Leiter des Ins­tituts für innovative Suchtbehandlung und Suchtforschung an der Evangelischen Hochschule Nürnberg hat vor mehr als 20 Jahren ein Programm zur Konsumreduktion entwickelt, das lange Zeit für Furore sorgte. Körkel selbst promovierte in den 1980er Jahren über Abstinenz und hieß sie einst für gut. Anschließend leitete er mehrere Jahre eine Fachklinik für Suchtpatienten, deren einziges Therapieziel, wie heute und damals üblich, die Abstinenz war. Doch die Erfahrungen, die er dort machte, stimmten ihn nachdenklich. „Wenn eine Frau 81 Entgiftungsbehandlungen hinter sich hat, was soll ihr dann die 82. Abstinenztherapie bringen?“

Er forderte, dass Behandelnde für jeden Menschen einen individuellen Weg – oder eben Schleichweg – finden müssten und sie nicht in Schablonen pressen dürften. „Keine Strategie ist für jeden gleich gut“, ist sein Credo. Bei einem Forschungsaufenthalt in den USA setzte er sich mit einem neuen Ansatz auseinander: dem kontrollierten Trinken. Er entwickelte daraufhin ein psychotherapeutisches Programm für Deutschland, dessen Ziel ist, dass Menschen mit Alkoholproblemen lernen, weniger zu trinken statt gar nichts mehr. Sein Bestreben: Das Programm sollte die Hürde für Betroffene senken, sich Hilfe zu suchen.

Nicht mehr: Rückfall oder Niederlage

„Diese Idee wurde bis aufs Blut bekämpft“, berichtet Körkel. Selbsthilfegruppe wie die Anonymen Alkoholiker, die bei ihren Teilnehmern Abstinenz voraussetzen, liefen Sturm. Der Suchtforscher Karl Mann hielt Körkel und von ihm ausgebildeten Suchtberaterinnen vor, mit dem Programm vor allem ein lukratives Geschäft zu verfolgen sowie mit dem Begriff „kontrolliertes Trinken“ unter Abhängigen den verführerischen Gedanken gestreut zu haben, Kontrolle über die Konsummenge zurückgewinnen zu können. „In der Behandlung von Alkoholsucht gab es lange Jahre eine Art Fundamentalismus“, sagt Körkel. Er bekam ihn deutlich zu spüren. Sogar Morddrohungen soll er erhalten haben.

Personen aus allen Gesellschaftsbereichen warfen ihm und allen, die diese Alternative anboten, vor, sie würden Abhängigen falsche Hoffnungen machen, sie aufs Glatteis locken – gar Beihilfe zum Suizid leisten. Denn viele befürchteten, trockene Alkoholikerinnen und Alkoholiker würden nun wieder beginnen zu trinken. „Ich habe einen guten Freund, der bei den Anonymen Alkoholikern sehr aktiv ist. Der kann bei diesem Argument nur den Kopf schütteln. Warum sollte jemand, der es geschafft hat, trocken zu leben, der seit Jahren ohne Alkohol zurechtkommt, der spürt, wie gut es seinem Körper und Geist tut, ohne Alkohol zu leben, weshalb sollte der das nun einfach kaputtmachen?“, entgegnet Körkel. Wer schon abstinent lebt oder es aus eigenem Antrieb ernsthaft anstrebt, solle auf diesem Weg bleiben. Das ist damals wie heute der Tenor in Psychotherapie, Medizin und Suchtberatung – auch Körkels.

Seine Idee fasste hierzulande trotz der massiven Kritik Fuß: Die Caritas bietet schon lange seine Programme an. Einige Krankenkassen bezuschussen sie als Präventionskurse für Menschen, die noch nicht süchtig sind, aber einen sehr riskanten Konsum aufweisen und in den Griff bekommen wollen.

Placebo und gestützte Gespräche

Suchtforscherinnen und -forscher in Europa gingen einen weiteren, entscheidenden Schritt. Sie änderten das Maß, mit dem sie im Rahmen von Studien feststellen, ob eine Suchtbehandlung erfolgreich war. Aus „Abstinenz: ja oder nein?“ wurde: „Wie viel hat jemand in den vergangenen Wochen oder Monaten getrunken?“ Aus Rückfall und Niederlage wurde „weniger ist mehr“. Der Paradigmenwechsel stellte einen weiteren Hebel um.

Den letzten Anstoß gab die Pharmaindustrie. Die Firma Lundbeck entwickelte Anfang der 2010er Jahre ein Medikament, dass Suchterkrankten dabei helfen soll, die Trinkmenge zu reduzieren. Bei den Studien zur Wirksamkeit des Mittels stellten die Forschenden – unter anderem Karl Mann – fest, dass nicht nur Menschen, die das Präparat einnahmen, sondern auch jene, die ein Placebo schluckten und begleitend ein paar stützende Gespräche erhielten, ihren Alkoholkonsum deutlich senken konnten – und zwar dauerhaft.

„Das Medikament kam zur rechten Zeit und war ein wesentlicher Faktor für das Umdenken, das wir heute sehen“, sagt Körkel, der sogar als Berater von dem Pharmaunternehmen angeheuert wurde und dann mit Karl Mann Seite an Seite arbeitete. Die Studien zu dem Arzneimittel Nalmefen, das 2014 in Deutschland zugelassen wurde, werden mittlerweile von Fachärzten und der Stiftung Warentest kritisch gesehen. Doch für die Versorgungslage von Alkoholabhängigen hatte es sehr wohl eine sichtbare Wirkung – mit langfristigem Nutzen.

Ein geringeres Risiko

„Abstinenz ist und bleibt die beste Option für Menschen mit Alkoholabhängigkeit. Menschen, die diesen Weg einschlagen, haben die besten Chancen, gesünder weiterzuleben“, betont Mann heute. Aber auch: „Reduziertes Trinken führt ebenso zu gesundheitlichen Verbesserungen.“ Das belegt er nunmehr mit eigenen Untersuchungen. In einer Studie von ihm und Kollegen aus den USA hatten 1100 alkoholabhängige Menschen, die im Zuge einer Behandlung deutlich weniger tranken, günstigere Leberwerte, einen gesünderen Blutdruck und damit ein geringeres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Sie berichteten zudem über mehr Zufriedenheit mit dem eigenen Leben. Und dieser Befund blieb auch dann bestehen, wenn alle Teilnehmenden herausgerechnet wurden, die sich irgendwann ganz für Abstinenz entschieden hatten. Das bedeutet: Schon den Konsum zu reduzieren kann die körperliche wie auch die psychische Gesundheit vehement verbessern.

Eine systematische Übersichtsarbeit der Charité in Berlin listete 2017 weitere Befunde aus 63 Studien auf: Senkten alkoholabhängige Menschen oder solche, die in riskantem Ausmaß tranken, ihren Konsum auf ein moderates Level, hatten sie bessere Cholesterinwerte, verloren überflüssige Pfunde, zeigten weniger Anzeichen von Angst, Depression oder Stress, mussten seltener wegen psychischer Erkrankungen stationär behandelt werden – und lebten länger.

Die Daten sprechen für das Konzept. Doch wie soll das funktionieren, ein reduzierter Konsum oder gar kontrolliertes Trinken? Immerhin ist ein Symptom der Sucht, die Kontrolle über den Konsum zu verlieren. „Hausärztinnen und Hausärzte empfehlen schon lange Konsumreduktion“, sagt Suchtforscher Mann. „Wenn eine Patientin zum Beispiel im Rahmen einer Routineuntersuchung schlechte Leberwerte aufweist, dann fragt der Hausarzt üblicherweise nach, wie viel diejenige in der Woche so trinkt. Und dann macht er seiner Patientin den Vorschlag mal für drei bis vier Wochen halb so viel zu trinken, einfach um zu schauen, ob das die Leberwerte verbessert.“ In der Regel machen die niedergelassenen Mediziner damit gute Erfahrungen.

Dokumentation des Konsums

Das Programm zum kontrollierten Trinken spannt den Bogen weiter. Körkel hat die Reduktion in ein psychotherapeutisches Setting gepflanzt, das mittlerweile hunderte geschulte Psychologinnen und Psychologen sowie Sozialpädagoginnen und -pädagogen in Gruppen oder Einzelsitzungen bundesweit anbieten. Das Wort „kontrolliert“ findet er nicht kritisch. „Wenn jemand eine Sucht hat, dann sollte man der Person nicht jegliche Fähigkeit absprechen, ihr Verhalten kontrollieren zu können“, sagt der Psychologieprofessor.

Jeder Mensch sei fähig, sich Ziele zu setzen und zu überlegen, was er dazu braucht, um diese umzusetzen. Etwas anderes mache sich das Programm nicht zunutze. Die Teilnehmenden müssen ihren eigenen Konsum dokumentieren. In einem Tagebuch halten sie fest, zu welchen Anlässen, in welcher Stimmung und in wessen Anwesenheit sie trinken, was sie trinken und wie viel. Auf dieser Basis entwickeln sie sogenannte Trinkregeln für sich: Wie viel Alkohol pro Woche dürfen es sein, wann, mit wem? Und was hilft, um den ­Rahmen zu wahren, was dabei, das Ganze durchzuhalten? Das können Kniffe sein wie: nicht vor 18 Uhr, keinen Schnaps, kein Feierabendbier oder nie, wenn es mir seelisch schlechtgeht.

13 Gläser Sekt zum Geburtstag

Heiko Enders hat sich solche Regeln erarbeitet. In einer ambulanten Suchtberatung sprach er zunächst mit einer Psychologin über sein bisheriges Trinkverhalten und seine Wünsche für die Zukunft mit Konsum. Dann entwickelten sie zusammen Strategien, wie er den Alkohol in den Griff bekommen könnte. Dafür erstellte Enders für jede neue Woche einen Trinkplan: Zweimal in der Woche erlaubte er sich fünf Gläser Wein. Anlässe wie Geburtstage oder gesellige Abende trug er mit ein. Er wusste: Hier würde er aufpassen und sich Methoden überlegen müssen, wie er dann durchhalten könnte.

Also kaufte er besonders teure Weine, wenn er Gäste zum Abendessen daheim hatte. „Die kippt man nicht“, sagt er. Ein Glas Wein sollte mindestens eine halbe Stunde reichen, und nach jedem Glas Wein trank er eines mit Wasser. Öfter fuhr er mal mit dem Auto zu einer Feier, um nüchtern bleiben zu müssen. Manchmal ging er früher hin, wenn bei den Gästen noch keine Trinkstimmung aufgekommen war, oder er blieb einer Feier ganz fern, wenn er wusste, dass er seinen Wochenplan sonst nicht einhalten könnte.

„Die Menschen sind verschieden. Bei manchen funktioniert kontrolliertes Trinken, bei anderen nicht. Das Gleiche gilt auch für die Abstinenz, genauso wie für jede medizinische Maßnahme. Eine Pille kann dem einen helfen, dem anderen nicht“, sagt Körkel. Natürlich sei „kein Alkohol“ immer als wertvolle Option in Erwägung zu ziehen, aber wenn jemand das letzlich nicht möchte oder nicht schafft, dann sei die Reduktion doch ein sinnvoller Weg.

Für manche ist sie auch nur der erste Schritt. Ein halbes Jahr lang schrieb Enders jede Woche Trinkpläne. Sein Lebensgefährte unterstützte ihn. Enge Freunde waren eingeweiht und achteten auf ihn. Doch er verzeichnete Ausrutscher. Bei einer Einweihungsparty im August zählte er zehn Gläser Wein und etwas Sekt. Die Woche darauf erteilte er sich Alkoholverbot. Dann kam eine kleine Sommerreise an die Ostsee. Fast jeden Abend trank er da. „Ich war raus aus Berlin, die Therapie rutschte weiter weg. Ich dachte mir: Ich habe jetzt Urlaub, ich will genießen“, sagt er im Rückblick. Danach verordnete er sich selbst für drei Wochen eine Trinkpause – und hielt durch. Ihm wurde aber langsam klar: Mit zehn Sitzungen in der Suchtberatung ist es nicht getan.

Irgendwann trocken

Als der Dezember bevorstand, hatte Enders große Bedenken. Ein runder Geburtstag, Weihnachten, Silvester: Alles Anlässe zum Anstoßen und Trinken. Gefestigt fühlte er sich noch lange nicht. Tatsächlich endete das Jahr in einem Alko­holexzess: 12 bis 13 Gläser Sekt zum Geburtstag, Heiligabend eine Mischung aus Champagner und Wein – die Silvesterfeier dauerte mehrere Tage. Die Bilanz machte Enders nachdenklich. Im Januar nüchterte er aus, trank keinen Schluck. Zum ersten Mal dachte er nun über einen Klinikaufenthalt nach. Und über dauerhafte Abstinenz.

Untersuchungen zeigen, dass bis zu 30 Prozent aller Betroffenen, die sich zunächst für eine Reduktion entscheiden, irgendwann trocken leben wollen – und das dann auch durchhalten. „Wer sich für die Reduktion entscheidet, wechselt nicht selten zur Abstinenz. Aber: Dann ist es ein selbst gewähltes Ziel, hinter dem der Patient auch wirklich steht“, sagt Falk Kiefer.

Das bestätigt Heiko Enders. „Ich glaube, ich wäre nicht bereit gewesen, in eine Klinik zu gehen, wenn meine Therapeutin das in der ersten Sitzung vorgeschlagen hätte. Da hätte ich dichtgemacht.“ Doch ein Dreivierteljahr später war das für ihn eine ernsthafte Option. Ein Schritt nach vorn – kein Scheitern.

Zum Weiterlesen

Joachim Körkel: Kontrolliertes Trinken. So reduzieren Sie Ihren Alkoholkonsum. Trias, Stuttgart 2021 (3. Auflage)

Karl Mann u.a.: Leitlinienorientierte Behandlung alkoholbezogener Stö­rungen. Nervenarzt, 87/1, 2016, 13–25. DOI: 10.1007/s00115-015-0022-8l

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2021: Selbstwert wagen