Kunst für die Psyche: „Eine neue Ordnung gestalten“

Welchen Stellenwert hat Kunst für psychisch kranke Menschen? Ein Gespräch über die Sammlung Prinzhorn, die Kunst von Psychiatrie-Patienten zeigt.

Das Foto zeigt eine menschliche Silhouette, die an Gemälden vorbeiläuft. Die Kunstwerke zeigen Selbstporträts von Psychiatrie-Erfahrenen.
Die Sammlung Prinzhorn in Heidelberg zeigt Kunstwerke von Psychiatrie-Erfahrenen. Auf dem Bild aus dem Jahr 2005 ist ein Teil der Ausstellung „Bern 1963: Harald Szeemann erfindet die Sammlung Prinzhorn“ zu sehen. Bei dieser Ausstellung handelte es sich um Zeichnungen und Gemälde von Patientinnen und Patienten der Heidelberger Psychiatrie aus den dreißiger Jahren, die Szeemann gesammelt hatte. © Ronald Wittek | dpa; lsw

Welche psychischen Funktionen hat Kunst? Thomas Röske leitet die Sammlung Prinzhorn in Heidelberg, ein Museum von bedeutenden Werken Psychiatrie-Erfahrener. Mit Psychologie Heute und dem Psychoanalytiker Hartmut Kraft sprach er über die Besonderheiten dieser Kunst und das kreative Potenzial von Krisen. Für unser Gespräch lud Hartmut Kraft zu sich nach Hause ein. Das Kölner Wohnhaus wird gelegentlich auch Ausstellungsort seiner kultur- und epochenübergreifenden Kunstsammlung.

Die Vorstellung, dass Menschen mit psychischen Störungen besonders kreativ sind, ist weit verbreitet. Ist Ihrer Einschätzung nach etwas dran?

Thomas Röske (TR): Nicht alle, die mal eine Diagnose erhalten haben, sind Genies, genauso wenig wie jedes Genie psychisch krank ist. Man kann aber einige Symptome als kreative Antwort auf ein verändertes Erleben sehen – zum Beispiel eine psychotische Wahnbildung, die dann mitunter auch bildnerisch ausgestaltet wird. Auch auf visuelle Halluzinationen reagieren einige Betroffene mit einer enormen gestalterischen Produktivität. Sie folgen dabei aber keiner künstlerischen Intention im herkömmlichen Sinne, die sich immer auch auf eine Öffentlichkeit und eine Idee von „Kunst“ beziehen würde.

Hartmut Kraft (HK): Sie folgen einem inneren Auftrag.

TR: Und dennoch sind sie es selbst, die künstlerisch tätig werden – nicht etwa ihre Psychose, wie das früher der Psychiater Leo Navratil gesehen hat. Er ging davon aus, dass sich die künstlerischen Leistungen von Psychiatrie-Erfahrenen nur ihrem psychischen Ausnahmezustand verdanken und sprach deshalb auch von „zustandsgebundener Kunst“. Es ist aber die Person selbst, die künstlerisch gestaltet.

HK: Als Psychotherapeut sehe ich diesen kreativen Akt nicht nur bei Menschen mit Psychose. Jedes Symptom ist ein Lösungsversuch für eine innere Problematik. Es gibt Patientinnen und Patienten, die wegen Suizidgedanken zur Therapie kommen und mit der Zeit herausfinden, dass sie gar nicht sterben wollen – sondern mit diesen Gedanken verbildlichen, dass sie sich aus einem quälenden Lebensmuster lösen müssen. Wenn jemand so etwas für sich erkennt, setzt das kreative Kräfte frei. Und dann erlebt man, wie der Mensch wieder nach vorne schaut und auf eine oft unerwartete Weise sein Leben neugestaltet.

Auch bekannte Kunstschaffende nehmen in ihren Werken Bezug auf Belastungen und Traumata der eigenen Biografie. Welche Funktion erfüllt hier die bildnerische Tätigkeit?

HK: Die Malerin und Bildhauerin Niki de Saint Phalle hat in ihrer Autobiografie festgehalten, wie ihr die Kunst als „Erlösung“ überlebenswichtig wurde. Die Bildserie der shooting paintings beschreibt sie als Entäußerung ihrer massiven Wut über den Vater, der sie als Kind sexuell missbraucht hat. Sie hat immer wieder neue kraftvolle Ausdrucksformen entwickelt, wie später ihre weltberühmten „Nana“-Skulpturen. Die Auseinandersetzung mit dem Missbrauch war vermutlich nie abgeschlossen – aber über die lebendige und gestalterische Tätigkeit konnte sich Niki de Saint Phalle aus der traumatischen Erstarrung lösen.

TR: In ihren Werken war das Trauma einerseits symbolisiert und andererseits weit genug entfernt, sodass sie es aushalten und bearbeiten konnte. Das beobachte ich in ähnlicher Weise bei dem Maler Richard Grune, der acht Jahre Gefangenschaft in Konzentrationslagern überlebt hat. Auch Grune bringt die erlebte Gewalt über eine Abstraktion in seine Zeichnungen ein. Er schreibt die Szenen aus dem KZ in christliche Motivvorlagen ein. Die Darstellungen sind an Bildformeln wie dem Gnadenstuhl oder der Kreuzabnahme orientiert. Der überwältigende Schrecken erhält einen geläufigen narrativen Rahmen und wird so überhaupt erst mitteilbar. Diese psychische Funktion von Kunst als einer haltenden kulturellen Rahmung spielt auch eine Rolle bei Trauerprozessen.

Wie hilft Kunst bei Trauer?

TR: Im Umgang mit Trauer kann es helfen, den persönlichen Schmerz in einen kollektiven einzubinden, zum Beispiel über Trauerrituale. Auch das kann man als eine Form der Abstraktion ansehen. Bildnerische Darstellungen im Kontext von Trauer sind oft stark formalisiert – es wird auf eine äußerliche, allgemeine Symbolik zurückgegriffen. In unserer Kultur etwa auf Symbole wie Engel oder Trauerweiden in Schwarz-Weiß. Mir sind kaum Beispiele für eine expressive künstlerische Auseinandersetzung mit Trauer bekannt.

HK: Die meisten Menschen sind nach einem schweren Verlust auch gar nicht in der Lage, künstlerisch zu arbeiten. Ein eindrucksvolles Gegenbeispiel ist der Schweizer Künstler Ferdinand Hodler, der den Sterbeprozess seiner Partnerin Valentine Godé-Darel zeichnend begleitet, fast schon dokumentiert, hat. Dass ihm in dieser Situation eine derart elaborierte künstlerische Leistung möglich war, zeigt, wie weit er seine Arbeit auch als eine Form der Bewältigung für sich erschlossen hatte.

Sind es denn gerade Krisen, in denen Menschen kreativ werden?

TR: Wenn man eine Ausnahmesituation erlebt und alte Gewissheiten wegbrechen, können bildnerische Mittel dabei helfen, sich mental neu zu verorten. Manche Menschen haben einen leichteren Zugang dazu, das kann auch früheren Erfahrungen abgerungen sein. Gerade die Pubertät ist ja so eine Krise, in der viele von uns erstaunlich kreativ werden – Musik machen, zeichnen, malen…

HK: Gedichte schreiben en masse

TR: Der Kunsthistoriker und Psychoanalytiker Ernst Kris hatte sogar die Theorie, dass die Kreativität in der Pubertät und die Kreativität von Menschen mit Psychose auf ähnlichen psychischen Mechanismen beruhen.

Welche Mechanismen sind das nach Ihren Beobachtungen?

TR: Man meint bei Psychose-Erfahrenen manchmal ein gesteigertes Ordnungsbedürfnis zu beobachten. Auch in der Pubertät könnte es darum gehen, eine neue Ordnung zu gestalten. Gegen das Chaos, das man erlebt.

HK: Ein notwendiger Umbau. In beiden Situationen steht ja erstmal kein Stein mehr auf dem anderen.

Wird das gesteigerte Ordnungsbedürfnis in den künstlerischen Arbeiten sichtbar?

TR: Agnes Martin wäre eine Künstlerin, die mehrfach die Diagnose Schizophrenie bekommen hat. Die Ordnung in ihren Bildern, die akkuraten Gitterstrukturen, sie mögen für sie ein Bollwerk gegen ein chaotisches, vielleicht psychotisches Erleben gewesen sein. Es gibt aber Psychose-Erfahrene, die völlig anders arbeiten. Man sollte hier nicht verallgemeinern.

HK: Wir können schon Trends beobachten: Wer an einer depressiven Störung leidet, zeichnet tendenziell kleiner – in einer manischen Phase reicht hingegen eher das Blatt nicht aus. Natürlich trifft diese Beschreibung nicht auf die Arbeitsweise aller Betroffenen zu. Genauso wenig kann man umgekehrt aus einer Zeichnung auf die Pathologie der Zeichnerin schließen. Eine solche Diagnostik hat etwa der Psychiater Helmut Rennert in den 1960er Jahren durchaus angestrebt, indem er Merkmalslisten „schizophrener Bildnerei“ angelegt hat.

Kunstwerke von Personen, die nicht in den Kunstbetrieb eingebunden sind oder ohne künstlerische Absicht arbeiten, werden manchmal als Outsider Art bezeichnet. Diese Künstlerinnen und Künstler leben auch häufig mit einer psychischen Erkrankung. Zählen Sie Agnes Martin dazu?

TR: Da sehe ich einen Unterschied: Auch wenn ihre Arbeiten aus einem individuellen Ordnungsbedürfnis entstanden sein mögen, ist es Agnes Martin zugleich gelungen, damit eine produktive Antwort auf die künstlerische Situation ihrer Zeit zu formulieren. Man kann mit Martin geradezu definieren, was Minimalismus ist. Indem ihr Werk auch in diesem Kontext lesbar ist, wird es von einem breiteren Publikum als relevante künstlerische Position wahrgenommen.

Sollten nicht gerade auch Outsider-Positionen als relevant wahrgenommen werden?

TR: Als Spezialmuseum sehen wir das als unsere Aufgabe – Outsider Art würdevoll zu präsentieren und auf diese Werke aufmerksam zu machen; sie haben den gleichen Respekt verdient wie andere Kunst.

HK: Das finde ich sehr wichtig. Es sollte noch mehr bedeutende, auch nicht-spezialisierte Museen geben, die Outsider Art zeigen. Und zwar integriert, als Bestandteil ihrer ständigen Sammlung.

Wäre es Ziel dieser Integration, Outsider Art als Kategorie aufzuheben?

TR: Wir können auf das Label verzichten, wenn wir als Betrachtende unsere Vorstellung von Kunst erweitern. Dazu müssen wir bereit sein, uns auf ungewöhnliche, uns selbst unverständliche Beweggründe einzustellen, aus denen Kunstwerke entstehen. Integration wird missverstanden, wenn Unterschiede einfach ignoriert werden. Wir sollten die Besonderheiten als produktive Bereicherung bewusst in den Blick nehmen.

HK: Die Werke sollten deshalb auch möglichst nicht von ihrem besonderen Entstehungskontext isoliert werden. In Wandtexten und Katalogen können nicht nur kunsthistorische und gesellschaftspolitische Bezüge benannt werden, sondern auch schweres seelisches Leid, sozialer Rückzug und Ausgrenzung. Auch das sind Faktoren, die in eine Gestaltung einfließen und die gesunden, gestalterischen Kräfte eines Menschen herausfordern können.

Welche Besonderheiten sind es, die Outsider Art auszeichnen?

TR: Wenn eine Künstlerin wie Vanda Vieira-Schmidt pro Tag bis zu 1000 DIN-A-4-Bögen bemalt und überzeugt ist, damit die Welt zu retten, dürfen wir das nicht mit Konzeptkunst gleichsetzen. Die Konzeptkünstlerin Hanne Darboven hat ebenfalls etliche, nach ihrem Zeichensystem gestaltete Blätter produziert – ihr war aber klar, wie das von der Kunstwelt rezipiert wird. Sie hat sich bewusst in diesen Dialog begeben. Vieira-Schmidt geht es hingegen darum, mit dem Zeichnen ihr magisches Denken zu stützen. Sie konnte damit Kontrolle über bedrohliche Mächte erleben, die wir als Betrachtende in unserer Realität nicht sehen. Sie bleibt mit ihrer Kunst innerhalb einer abgeschlossenen Welt.

HK: Innerhalb einer Ein-Personen-Kultur

TR: Ja, und das ist das Bezeichnende. Outsider Art ist kein Stilbegriff, sondern beschreibt gerade das Inselhafte dieser Arbeiten.

Professionelle Kunstschaffende nehmen hingegen gerne Bezug auf Werke sogenannter Outsider.

HK: Der Künstler Max Ernst hat Hans Prinzhorns Bildnerei der Geisteskranken, den ersten international bekannten Katalog von Werken Psychiatrie-Erfahrener, als „Bibel der Surrealisten“ bezeichnet. Auch heutige Kunststudierende sind interessiert an der Kunst Psychiatrie-Erfahrener. Man schaut sich Ausdrucksformen aus Lebenswirklichkeiten ab, die man selbst so nicht kennenlernen kann. Ähnlich wie sich europäische Kubisten am Formenvokabular ozeanischer und afrikanischer Kunst bedient haben.

TR: Was viele Kunstschaffende besonders beeindruckt, ist, wie spontan etwa eine Vanda Vieira-Schmidt anfängt zu zeichnen. Frei von hemmenden Überlegungen, was sie alles „auf keinen Fall“ zeichnen sollte, damit es nicht an irgendeine Stilrichtung erinnert. Es sind aber sicher auch die psychischen Ausnahmeerfahrungen an sich, die eine gewisse Faszination ausüben.

HK: Friedensreich Hundertwasser soll es so formuliert haben: „Die haben’s gut. Die sind schon drüben.“

Sehen Sie auch eine therapeutische Wirkung im künstlerischen Arbeiten?

HK: Joseph Beuys hat das wörtlich bestätigt: „Kunst ist ja Therapie!“ – seine Kreativität hat ihn erhalten. Man muss aber auch sehen, dass Beuys in seinem künstlerischen und politisch-gesellschaftlichen Sendungsbewusstsein Raubbau an seinem Körper getrieben hat; durch einen enormen Arbeitseinsatz und leider auch massiven Zigarettenkonsum.

TR: Es gibt Kunstschaffende, die Opfer ihrer Kunst geworden sind. Ich denke aber, dass eine kreative Auseinandersetzung mit persönlichen Herausforderungen helfen kann, neue Perspektiven, eine neue Beziehung zur Welt für sich zu etablieren.

Ist das bei Joseph Beuys gelungen oder gescheitert?

HK: Er selbst hat den Ausdruck geprägt: „Ich ernähre mich durch Kraftvergeudung“ – eine treffende Beschreibung seiner Arbeitsweise. Auch wenn er dabei wenig Rücksicht auf seine körperliche Gesundheit genommen hat: Aus den tiefen Krisen in seinem Leben konnte er mit der Rückbesinnung auf seine kreativen Möglichkeiten immer wieder herausfinden. Es ist ihm gelungen, diese Erfahrung zu seiner künstlerischen Mitteilung zu machen: „Jeder Mensch ist ein Künstler!“ – jeder kann gestalten; nicht nur Kunstwerke, sondern sein Leben, Beziehungen, gesellschaftspolitische Zusammenhänge.

Ich nenne das eine PlusHeilung, weil Beuys seine Depression nicht nur überwunden, sondern den Weg aus der Krise mit dieser Botschaft aktiv in einen Zugewinn umgedeutet hat. Das Vertrauen in seine gestalterischen Kräfte gewann er durch die Bewältigung seiner Lebenskrise. Eine solche Transformation kann das Ergebnis einer künstlerischen Entwicklung, aber auch eines psychotherapeutischen Prozesses sein.

Können von dieser Form der Krisenbewältigung auch Laien profitieren?

HK: Aus eigener Erfahrung würde ich sagen: ja. Wer in ein vertieftes Malen oder Zeichnen einmal hineinfindet, begreift von innen heraus, was eine kreative Tätigkeit auslösen – und auch auflösen, sortieren – kann. Wir müssen aber nicht alle bildende Kunst machen. Kreativität ist als Ressource auf vielfältige Weise zugänglich. Für mich wurden später die Sammlertätigkeit und der Diskurs, das Schreiben über Kunst, wichtiger als das Malen.

TR: Dass über Kunst kommuniziert wird, zählt auch selbst zu ihren psychosozialen Funktionen. Kunstschaffende erhalten eine Antwort auf ihre gestalterische Position, selbst wenn sie ausschließlich in einem privaten Rahmen rezipiert werden. Zugleich setzt jedes Werk einen gesellschaftlichen Impuls. Es ist als persönliche Mitteilung relevant und öffnet einen einzigartigen Zugang zu unserer gemeinsamen Bildgeschichte.

Dr. Thomas Röske ist Kunsthistoriker und Kurator. Er leitet die Sammlung Prinzhorn und das zugehörige Museum am Universitätsklinikum Heidelberg. Die Sammlung Prinzhorn umfasst weltweit bedeutende Bestände sogenannter Outsider Art. Die Werke werden seit den 1920er Jahren zusammengetragen und stammen überwiegend von Psychiatrie-Erfahrenen.

Prof. Dr. Hartmut Kraft sammelt seit über 50 Jahren Kunst, ist Psychiater und Psychoanalytiker. Ein Teil seiner Sammlung aus dem Bereich Outsider Art befindet sich seit 2020 im Besitz der Sammlung Prinzhorn.

Zum Weiterlesen

Hartmut Kraft: Grenzgänger zwischen Kunst und Psychiatrie. DuMont, Köln 1998

Thomas Röske: „Outsider Art: Eine besondere Art von Kunst?“, in: Kunst an den Rändern. Wie aus Bildern und Objekten Kunst werden kann, Hrsg. von Christiane Kruse und Annika Frye, Berlin/Boston: De Gruyter 2021, S. 72-89.

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