Herr Professor Wippermann, Sie haben die Einstellungen zu Gewalt in unseren gesellschaftlichen Milieus untersucht. Was ist der Tenor Ihrer Ergebnisse?
Gewalt herrscht oder droht immer und überall, die Gewalt hat zugenommen und kaum ein Ort in der Gesellschaft ist absolut sicher davor, ausgenommen das eigene Umfeld. Da ist es friedlich. – In dieser paradoxen Einschätzung stimmen Menschen aller Milieus überein.
Was verstehen Sie unter Milieus?
In Milieus lassen sich Menschen gruppieren, die sich in ihrer…
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überein.
Was verstehen Sie unter Milieus?
In Milieus lassen sich Menschen gruppieren, die sich in ihrer Lebensauffassung und in ihrer Lebensweise ähneln, etwa in Normen, Werten, Einstellungen und in dem, was wir Lebensstil nennen. Neben diesen mentalen Faktoren sind die soziale und wirtschaftliche Situation wichtig, also Einkommen, Bildung, Beruf und so weiter. Insofern gibt es in einer sozialen Schicht mehrere Milieus, und manche Milieus sind schichtenübergreifend.
Haben Sie ein Beispiel?
Das Milieu der Postmateriellen reicht von der Ober- bis zur Mittelschicht, das der Hedonisten von der Unterschicht bis in die mittlere Mittelschicht. Wenn wir das alles berücksichtigen, erkennen wir in Deutschland neun Basismilieus, die sogenannten DELTA-Milieus [siehe Kasten].
Was haben Sie nun in Ihrer Gewaltstudie genau untersucht?
Wir wollten wissen, was für die Menschen Gewalt ist, wie sie in unterschiedlichen Milieus Gewalt im Alltag wahrnehmen und erleben. Welche Gewalt beobachten sie? Wie deuten sie Gewalt? Wie erklären sie sich Gewalt? Und welche Vorstellungen haben sie von Präventionsmaßnahmen?
Mit welchen Befunden?
Erst einmal haben die Menschen aller Milieus die subjektive Alltagserfahrung, dass Gewalt in den vergangenen zehn Jahren erheblich zugenommen hat, härter geworden ist und auch vielfältiger und unvorhersehbarer. Sie kann einem immer und überall begegnen, aber paradoxerweise nicht im eigenen Umfeld, das die Mehrheit als weitgehend gewaltfrei beschreibt. Grundsätzlich lautet in fast allen Milieus das Narrativ: Gewalt kommt von anderen Haushalten, anderen Stadtteilen, anderen Partnerschaften, anderen Familien; sie kommt auch aus anderen Milieus, von „Fremden“. In ländlichen Gebieten heißt es oft: Gewalt ist eine Geißel der Großstadt – bei uns auf dem Land ist die Welt noch in Ordnung, da gibt es meist nur Schlägereien auf Volksfesten unter Einfluss von Alkohol. Aber in den anonymen Städten, da ist es dunkel, da gibt es kriminelle Clans und Gestalten.
Verdrängen die Menschen also die Gewalt in ihren eigenen Reihen?
Ich würde sagen: Sie schmeicheln der eigenen Lebenswelt. Gerade im Milieu der bürgerlichen Mitte, aber auch in anderen Milieus haben die Menschen zunehmend die Tendenz, sich abzuschotten gegenüber Fremden und Personen aus anderen Milieus, insbesondere von Benachteiligten, Hedonisten und den Expeditiven. Sie fürchten, dass die Gewalt anderer Milieus in die eigene Lebenswelt eindringt.
Also aus sogenannten Brennpunkten?
Menschen aus nahezu allen Milieus können mit der Fokussierung auf Brennpunkte wenig anfangen und lehnen diesen Begriff ab. Zwar benennen die Menschen Orte, an denen Gewalt aus ihrer Sicht häufig vorkommt, wie Bahnhöfe, Flüchtlingsunterkünfte, bestimmte Parks oder Stadtteile und Straßenzüge mit einem hohen Anteil von Personen mit anderer Herkunft oder Menschen in prekären Verhältnissen. Doch sie begreifen diese Orte nicht als Brennpunkte, weil Gewalt auch häufig woanders vorkommt, zum Beispiel in Vereinen, auf Volksfesten, am Arbeitsplatz, in Alten- und Pflegeheimen, in Schulen und vor allem unsichtbar in vielen privaten Haushalten. Auch lassen sich das Internet, Foren, Chats und vor allem sogenannte soziale Netzwerke mit der Alltäglichkeit von Cybermobbing oder Cyberstalking kaum als Brennpunkt bezeichnen. Der Begriff „Brennpunkt“ impliziert zudem eine explosive, extreme Gewalt. Die meiste alltägliche Gewalt aber erfolgt nicht extrem, ist in der Dauerhaftigkeit, Unsichtbarkeit und Unberechenbarkeit dennoch oft verletzender, auch in ihren Neben- und Spätfolgen – beispielsweise psychische Gewalt durch Bemerkungen oder sexistische Gewalt durch Bilder, Sprüche oder Gesten.
Worin unterscheiden sich die Milieus, wenn es um die Wahrnehmung von Gewalt geht?
Dazu drei Beispiele. Erstens: Etablierte an der Spitze der Gesellschaft, denen es mit einem exklusiven Lebensstil ökonomisch sehr gut geht, nehmen Verstöße gegen Anstand und Etikette als Gewalt wahr. Sie berichten von einer zunehmenden körperlichen, verbalen und sozialen Verletzung von Tabuzonen, von Anstandsregeln. Etwa wenn jemand den körperlichen Abstand nicht wahrt oder durch bestimmte Gesten, Worte und Verhaltensweisen im Straßenverkehr, zum Beispiel wenn dort jemand den Stinkefinger zeigt. Zweites Beispiel: Postmaterielle sind ein Milieu, das ähnlich gelagert ist wie die Etablierten, aber eine ganz andere Grundorientierung hat. Postmaterielle betonen vor allem strukturelle und institutionelle Gewalt.
Was heißt das konkret?
Das meint etwa, dass Kinder aus sozialschwachen Familien deutlich geringere Bildungs- und Aufstiegschancen haben, dass Menschen mit Migrationshintergrund bei Bewerbungsgesprächen gar nicht eingeladen werden; dass Polizistinnen und Polizisten häufiger und anlasslos junge Männer mit Migrationshintergrund kontrollieren. Das empfinden die betroffenen Menschen als Gewalt. Sie beklagen auch soziale Ghettoisierung als gewaltauslösenden Faktor und dass unsere Städte gentrifiziert werden, dass es dort Wohlstandsblasen gibt. Das nehmen Postmaterielle als gewaltsame Akte wahr. Deshalb müssten diese Blasen aufgelöst werden, weil sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedrohen. Die Postmateriellen erwähnen auch sehr viel stärker mediale Gewalt, also sexistische Gewalt, etwa in Computerspielen, in der Werbung oder in sozialen Medien. Menschen mit einer postmateriellen Lebensausrichtung führen das darauf zurück, dass es eine grundsätzliche Intoleranz gegenüber allen gibt, die anders sind.
Und drittens?
Performer haben tendenziell eine radikal individualistische Einstellung zu Gewalt und Gewaltprävention. Gewalt ist in ihrem Narrativ ein Kreislauf: Wer Opfer davon war, wird später Täterin oder Täter sein. Ein Teufelskreis. Und trotzdem ist der oder die Einzelne nicht davon entschuldigt, sondern es gibt die Möglichkeit der Selbstkontrolle und des Selbstmanagements. Die physische und psychische Gewalt ist für Performer das Symptom einer Krankheit und umfasst kriminelle Gewalttaten: Diebstahl, Erpressung, schwere Körperverletzung, Nötigung, Totschlag, Mord sowie wahllose Verletzungen anderer aufgrund von Frust, Überforderung, Alkohol- und Drogenkonsum oder die gewaltsame Beschaffung dieser Mittel.
Wie sieht die Gruppe der Benachteiligten Gewalt?
Hier ist die Einstellung stark durch eigene Gewalterlebnisse in Kindheit und Jugend geprägt, etwa die Gewalt zwischen und von Eltern, aber auch an Schulen und auf der Straße. Die meisten in diesem Milieu stellen aber ihre eigene Partnerschaft als weitgehend gewaltfrei dar, im Kontrast zu den Gewalterfahrungen in ihrer Kindheit sowie in früheren Partnerschaften. Es gilt als Statussymbol, sich als jemand zu präsentieren, der – im Falle von Männern – frühere Phasen aktiver Täterschaft oder – im Falle von Frauen – das duldsame Opfersein überwunden hat. Fast alle Frauen dieses Milieus erzählen, dass sie selbst Gewalt erlebten durch Mobbing oder auffallend viel sexuelle Gewalt am Arbeitsplatz.
Sie haben die Menschen auch gefragt, wie sich Gewalt vorbeugen ließe. Was glauben die Befragten?
Das ist von Milieu zu Milieu so unterschiedlich wie deren Gewaltkonzepte und Wahrnehmung von Gewalt. Hedonisten zum Beispiel setzen auf Aufklärung und Bildung, beginnend in der frühen Kindheit. Benachteiligte Frauen setzen auf Unterstützungsangebote der staatlichen und freien Wohlfahrtspflege oder auch der kirchlichen Einrichtungen. Konservative und Performer wollen mehr Polizeipräsenz, auch schnellere Strafverfolgung und eine härtere Strafgesetzgebung. Performer plädieren zudem dafür, Menschen mit unterschiedlicher Lebensführung noch stärker zu separieren, als das jetzt der Fall ist. Dann entstünden weniger Neid und Missgunst, weniger Frust und Wut auf andere. Überraschend ist auch die Präventionsvorstellung der bürgerlichen Mitte.
Inwiefern?
Sie beruht auf der Idee, dass jede und jeder Opfer werden kann und das nichts mit seinem oder ihrem eigenen Verhalten zu tun hat, sondern Täterinnen und Täter sich ihre Opfer oft willkürlich aussuchen. Die Vorstellung in diesem Milieu: Sie suchen sich beliebige Opfer nach der Maßgabe aus, dass ihr Übergriff „erfolgreich“ ist und sie kaum Gegenwehr erfahren. Insofern ist es eine Schutzvorkehrung, sich selbstbewusst und stark zu präsentieren, um nicht in das Auswahlschema zu fallen. Diese Selbstausrüstung ist aber höchst individualistisch gedacht und letztlich trügerisch: Es gibt keine Garantie, verschont zu werden, und es gibt Täterinnen und Täter, die einfach stärker sind. Das Konzept individueller Selbstausrüstung senkt wohl die Wahrscheinlichkeit, Opfer zu werden, aber es macht in einer Weise auch mitschuldig, weil es sich nicht hinreichend geschützt hat. Aber die Ursachen für Gewalt sind natürlich nicht bei den Opfern zu suchen, sondern bei den Täterinnen und Tätern.
Nun erleben wir eine Welle der Gewalt in Europa, die wir gar nicht mehr kannten: Krieg. Wie stehen Menschen aus unterschiedlichen Milieus dazu?
Tatsächlich melden sich Menschen bestimmter Milieus häufiger zum Wehrdienst. Das Militär ist eine Verteidigungseinrichtung, in der legale Gewalt zur Verteidigung stattfindet. Diese Gewalt wird dort trainiert und ist ein Merkmal militärischer Kompetenz. Zur Bundeswehr verpflichten sich überdurchschnittlich häufig Menschen aus den Milieus der Traditionellen, der bürgerlichen Mitte, der Benachteiligten und zum Teil auch der Hedonisten; kaum hingegen aus den Milieus der Expeditiven, Postmateriellen, Performer und Etablierten. Die Menschen letzterer Milieus sehen gesellschaftliche Chancen, berufliches Weiterkommen und Gestalten eher in anderen Berufszweigen. Wenn aber aus den Milieus der Konservativen, Etablierten, Performer oder bürgerlichen Mitte jemand zur Bundeswehr geht, dann findet man sie fast ausschließlich in den Offiziersdienstgraden mit einer Laufbahnperspektive. Die straffe Disziplinordnung der Bundeswehr mit klarer Hierarchie, Befehlslogik und uniformer Kleidung ist für die meisten Postmateriellen und Expeditiven hingegen abschreckend.
Was glauben Sie: Kann der Krieg in der Ukraine gewisse Gewalteinstellungen in unserer Gesellschaft verändern?
Einerseits rückt damit das Thema Gewalt in das Zentrum der Aufmerksamkeit und öffnet die Chance, stärker als zuvor auch in unserer Gesellschaft darüber nachzudenken und die Wahrnehmungsfilter neu zu justieren, wie und warum Menschen anderen Menschen Gewalt antun. Die monströse Gewalt des Krieges in der Ukraine könnte das Thematisieren über die Formen der Gewalt in unserer Gesellschaft aber auch als Luxusproblem erscheinen lassen.
Wie meinen Sie das?
Gerade eklatante Menschenrechtsverletzungen, „ethnische Säuberungen“, Vergewaltigungen und Exekutionen, etwa im ukrainischen Butscha, erzeugen einen Horizont, vor dem die Gewalt hierzulande blass und fast nichtig erscheinen mag. So könnte der Blick auf Gewalt völlig absorbiert werden von der militärischen und imperialen Gewalt von Staaten gegenüber anderen Staaten. Dieses Risiko ist zwischen den Milieus sehr unterschiedlich verteilt. Bei Menschen in den Milieus Traditionelle, Benachteiligte, bürgerliche Mitte könnte diese Tendenz höher sein als in anderen Milieus.
Die feine Wahrnehmung von Gewalt im Alltag aber ist ein Zivilisationsgewinn, und diese Sensibilität angesichts dieses brutalen Krieges zu wahren ist eine Herausforderung. Insofern liegt es an uns allen selbst, wie wir jetzt den Diskurs zu Gewalt gestalten: ob wir ihn reduzieren auf Gewalt, die woanders, aktuell beispielsweise in der Ukraine stattfindet, oder ob wir Gewalt grundlegender reflektieren als einen inakzeptablen Übergriff auf die körperliche, psychische und sexuelle Selbstbestimmtheit und Würde des anderen für eigene Machtgewinne, Überlegenheitsgefühle, religiöse Überzeugungen, aus Sadismus oder für den Erlebniskick.
Der Krieg bietet die Chance, über die Anerkennung von anderen und Fremden, von Menschen mit anderen Werten, einer anderen Lebensweise, anderer Herkunft grundlegend nachzudenken, öffentlich und privat zu diskutieren, also schlichtweg über Toleranz und Solidarität. Mit Vertrauten solidarisch zu sein und sie zu tolerieren ist keine Kunst; mit Fremden solidarisch zu sein und ihr Anderssein zu tolerieren macht Zivilisation aus.
Gesellschaftliche Milieus in Deutschland (DELTA-Milieus)
Konservative: wohlhabend, gebildet, humanistisch geprägte Pflichtauffassung und Verantwortungsethik; gepflegte Umgangsformen; klare Vorstellung vom richtigen Leben und Auftreten
Etablierte: Erfolgsethik, Machbarkeitsdenken, Exklusivitätsansprüche und leistungsorientiertes Statusdenken mit Distinktion gegenüber anderen. Stolz darauf, dank eigener Leistung an der Spitze zu stehen. Kosmopolitischer Habitus des Entrepreneurs und Topmanagers
Postmaterielle: Aufgeklärte Nach-68er: konstruktiv-kritisch gegenüber Neoliberalismus und Globalisierung; postkonsumatorische, immaterielle Werte und anspruchsvoller, bewusster Lebensstil. Skepsis gegenüber bestehenden Verhältnissen: Die Welt ist nicht in Ordnung, daher change the world
Performer: effizienzorientierte, optimistisch-pragmatische neue Leistungselite mit global-ökonomischem Denken und stilistischem Avantgarde-Anspruch: hohe IT- und Multimediakompetenz. Mental und kulturell flexibel
Expeditive: unkonventionelle, kreative, urbane Avantgarde: programmatisch individualistisch, mobil und stets auf der Suche nach neuen Grenzen und ihrer Überwindung. Lebensprinzip ist: eigene neue Wege gehen
Traditionelle: Sicherheit und Ordnung liebende Nachkriegs- und Wiederaufbaugeneration: beheimatet in der traditionellen kleinbürgerlichen Arbeiterkultur sowie in der traditionell-bürgerlichen Welt
Bürgerliche Mitte: Leistungs- und anpassungsbereiter bürgerlicher Mainstream: Streben nach beruflicher und sozialer Etablierung, nach gesicherten und harmonischen Verhältnissen
Benachteiligte: Um Orientierung und Teilhabe bemühte Unterschicht; starke Zukunftsängste und Ressentiments; geringe Bildungs- und Aufstiegsperspektiven
Hedonisten: Die spaß- und erlebnisorientierte moderne Unterschicht und untere Mittelschicht: Leben im Hier und Jetzt
Carsten Wippermann ist Gründer und Leiter des DELTA-Instituts für Sozial- und Ökologieforschung in Penzberg und Professor für Soziologie an derKatholischen Stiftungshochschule München. Seine Studie Gewalt und Milieus ist bei Beltz erschienen.