Die Zeit, als alles neu war

Die Jugend prägt uns stärker, als vielen bewusst ist. Sie ist die Zeit, in der wir unsere Identität formen – eine lebenslange Richtschnur.

Eine junge Frau mit Brille hält in der Hand eine pinkfarbene Schachtel, in der sie als junges fröhlichen Mädchen ist zusammen mit anderen Erinnerungen aus ihrer Jugend
Wir gingen das Leben unbedarft an, taten, was uns interessiert. Ohne konkretes Ziel, ohne Kosten und Nutzen. © Frauke Ditting

Es gibt eine Anekdote aus ihrem Leben, die erzählt Michelle Obama, die ehema­lige amerikanische First Lady, immer wieder. Darin geht es um ein Gespräch mit der Studienberaterin ihrer Schule. Sie erklärte Obama, sie brauche sich an der Universität Princeton, einer amerikanischen Eliteuniversität, an der Oba­ma studieren wollte, gar nicht erst zu bewerben. Sie sei nicht ihr Kaliber. Obwohl Michelle Obama einige Monate später in Princeton angenommen wurde und auf eine erfolgreiche Karriere zurückblicken kann,…

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Obama einige Monate später in Princeton angenommen wurde und auf eine erfolgreiche Karriere zurückblicken kann, habe sie diese Erinnerung nie ganz losgelassen.

Wir alle haben Jugenderinnerungen wie diese. Erinnerungen, die wir nie vergessen. Die Gedächtnisforschung zeigt dabei, dass die Erfahrungen unserer Jugend im Gedächtnis besonders prominent sind. Als reminiscence bump – Reminiszenzhügel – bezeichnet man den Effekt, dass wir uns als Erwachsene an besonders viele autobiografische Erlebnisse aus der Zeit zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr erinnern. Die Erinnerungen aus dieser Zeit scheinen dem natürlichen Nebel des Vergessens viel seltener zum Opfer zu fallen als die aus anderen Phasen. Aber warum? Bedeutet die außergewöhnlich starke Verankerung, dass diese Zeit auch besonders prägend ist?

Erinnerungsreichtum

„Mich überrascht das nicht“, sagt der emeritierte Entwicklungspsychologe und Jugendforscher Wim Meeus, wenn man mit ihm über den reminiscence bump spricht. Er hat eine Erklärung dafür, warum wir viele Episoden aus der Jugend – und nicht etwa der Kindheit – noch als Erwachsene erinnern. Meeus ist der Überzeugung, dass die Jugend im Rückblick für Erwachsene viel relevanter ist als die Kindheit.

Wie alle Entwicklungsphasen – die Kindheit, das Erwachsenen- oder Seniorenalter nicht minder – ist die Jugend vor allem ein soziales Konstrukt: ein menschlicher Versuch, kontinuierliche biologische Veränderungen sinnvoll zu unterteilen, indem man sie mit bestimmten psychologischen und sozialen Kompetenzen in Zusammenhang bringt. Unter dieser Prämisse betrachtet, ist die Jugend die Phase, in der wir in die Gesellschaft hineinwachsen, unsere Rollen in dieser kennenlernen, kurzum sozial reifen. Sie gut zu erinnern sei daher wichtig, um gesellschaftlich zurechtzukommen, sagt Meeus.

Wie konstruiert das Konzept der Jugend ist, merkt man schon beim Versuch zu verstehen, welches Lebensalter damit gemeint ist. Die Definitionen variieren je nach Kultur, denn wie soll man universell festlegen, wann ein Mensch erwachsen ist? Den Beginn, darüber besteht immerhin relative Einigkeit, markiert die Pubertät.

Sie setzt in etwa zwischen dem 9. und dem 13. Lebensjahr ein. Eben noch Kind, beginnt der Körper sich zu wandeln; er wächst, wird breiter und schwerer. Brüste entwickeln sich, Scham- und Achselhaare, ein erster Bart. „Jugend ist Anpassung“, erklärt Wim Meeus. Bei diesen äußerlichen Merkmalen sei die Vehemenz des Wandels, die erforderte Anpassungsleistung offensichtlich, ähnlich müsse man sich aber auch das vorstellen, was sich innerlich abspiele – in der Psyche.

Zweite Geburt

„Viele meiner Klientinnen und Klienten beschreiben die Jugend wie eine zweite Geburt“, erzählt Andreas Kroitzsch, der als Coach nach dem systemischen Ansatz arbeitet und sich tiefgehend mit dieser Phase auseinandergesetzt hat. Während ihr werden Menschen plötzlich anders wahrgenommen, nicht mehr als Kind, sondern als junge Frau, Transperson oder junger Mann.

Es werden neue Anforderungen an sie gestellt, sie müssen die Erwachsenenrolle lernen – mehr Aufgaben im Haushalt übernehmen, gute Noten schreiben und ein Studium oder eine Ausbildung ansteuern oder auch einen ersten Nebenjob meistern. Studien zeigen dementsprechend, dass Menschen im Verlauf ihrer Jugend immer gewissenhafter und angepasster werden.

Zwischen Anpassung und Freiheit

Jemand, der an Fridays for Future, die 68er, die Punk- oder Hippiebewegungen denkt, mag diese Aussage irritieren – die Jugend soll Menschen deswegen prägen, weil sie sich in dieser Zeit anpassen? Treffender ist vielleicht, von einer Zeit der Dialektik zu sprechen. Sie ist charakterisiert durch ein Spannungsfeld zwischen einerseits einer Fülle sozialer Aufgaben und dem Versuch, ihnen gerecht zu werden, und andererseits Freiheitsdrang, Unkonventionalität, Neugier.

Erich Fromm beschrieb jugendliche Lebensgewohnheiten als einen „Ausdruck echter Freude an Aktivitäten“. Er meinte damit wohl die Tendenz, das Leben unbedarft anzugehen: das zu tun, was einen interessiert, ohne dabei ein bestimmtes Ziel anzustreben oder Kosten und Nutzen abzuwägen – sei es, dass man für ein politisches Ziel kämpft, Fußball spielt oder tanzt.

Aber auch ein anderer Umstand trägt zum Lebensmut, der Energie, den starken Gefühlen bei, die wir in der Jugend spüren. Er erklärt das Herzklopfen beim ersten Kuss, den Kloß im Hals beim Start ins Arbeitsleben, die Euphorie während der heimlichen Party im Elternhaus, die Vorfreude auf eine Reise mit Freundinnen, das große Empfinden von Unabhängigkeit: Die Jugend ist eine Zeit, in der wir auch die Freiheiten des Erwachsenenlebens das erste Mal genießen dürfen, in der wir uns entfalten können und vieles ausprobieren. Allein deswegen bleiben viele Erfahrungen aus der Jugend in unserem Gedächtnis hängen.

Emotionen als Anker der Erinnerungen

Woran wir uns noch Jahre später entsinnen, ist nämlich das Resultat eines sorgfältigen Filterns. Unser Wissen würde uns überfordern, würden wir routiniert ablaufende Ereignisse wie den wöchentlichen Supermarkteinkauf oder den Plausch mit dem Kollegen nicht schnell vergessen. Situationen, in denen wir starke Freude, Wut oder Aufregung empfunden haben – wie beim ersten Konzert oder einem Vorstellungsgespräch –, sollten wir dagegen erinnern.

Sie erweitern unser Wissen über die Welt, die assoziierten Gefühle geben Auskunft, ob uns diese neuen Erlebnisse geschadet oder wohlgetan haben. Emotionen verankern Erinnerungen sozusagen wie kleine Häkchen im Gedächtnis. Sie helfen uns, in der Zukunft selbstfürsorglich zu handeln und nicht immer wieder in die gleichen Fallen zu tappen. All die ersten Male unserer Jugend, die Küsse, Reisen und Festivals, werden daher wie ein großer Wissensschatz gesammelt, auf den wir als Erwachsene zurückgreifen können.

Allerdings legen die Studien zum reminiscence bump dar, dass es nicht nur besonders emotionale Erlebnisse oder neue Kompetenzen sind, derer wir uns entsinnen. Der Kern von Michelle Obamas Erinnerung an die Studienberaterin ist ihre eigene Emanzipation, die Erfahrung, dass sie Zutrauen in sich selbst haben kann, dass sie mutig ist und dafür be­lohnt wird. Es geht um Identität. Wie Obama erinnern sich viele Menschen an einzelne Erlebnisse, die bis heute prägen, wofür sie sich einsetzen und interessieren. Aus den Erfahrungen, die wir mit anderen Menschen machen, durch das Beobachten und Reflektieren ziehen wir unsere Schlüsse darüber, wer wir sind, was uns auszeichnet.

Sind wir ein mutiger Mensch oder eher zurückhaltend? Ist uns Gerechtigkeit wichtig? Offenheit? Gemeinschaft? Wir bilden in der Jugend Grundannahmen über uns selbst, die als lebenslange Richtschnüre, Orientierungshilfen fungieren. Bestimmte Situationen, wie die Beratung bei Obama, verbinden wir mit solchen Selbsterkenntnissen. Die Erinnerungen illustrieren die abstrakten Annahmen. Sie machen verstehbar, was wir meinen, wenn wir uns etwa für warmherzig, akkurat oder impulsiv halten. Sie machen unsere Identität greifbar.

Denken über das Denken

„In der Jugend werden wir uns unserer selbst erstmals bewusst. Wir beobachten uns, die eigenen Gedanken und das Verhalten in verschiedenen Situationen. Deswegen erinnern wir uns besonders gut“, erläutert Peter Uhlhaas. Der Psychologe erforscht an der Berliner Charité die neuronale Entwicklung in der Jugend. Schon als Kinder sind wir dazu in der Lage, uns in andere Menschen hineinzuversetzen, um ihr Verhalten besser zu verstehen. Erst in der Jugend aber werden wir uns dieses Prozesses bewusst.

Wir registrieren, dass sich Freundinnen manchmal anders verhalten, als wir es täten. Wir bemerken unsere Eigenheiten. Wir versuchen, diese Diskrepanzen zu erklären und zu verstehen, wie wir auf andere wirken. Mit dem bewussten Nachdenken über uns selbst, der Metakognition, hängt also zusammen, dass wir in der Jugend beginnen, uns sozial einzuordnen, uns mit anderen zu vergleichen. „In der Jugend realisieren wir unsere Andersartigkeit“, so drückt es Uhlhaas aus.

Diese Fähigkeit ist dabei Voraussetzung für einen der aufregendsten Aspekte der Jugend: die ersten innigen Freundschaften. Es erfordert viel Reflexion und Ausdauer, sich von der Bindung an die Eltern zu lösen und umzuorientieren, hin zu neuen Menschen auf Augenhöhe: „Freunde sind schließlich nicht wie unsere Eltern in der Kindheit dafür da, unsere Bedürfnisse zu erfüllen“, sagt Kroitzsch. Mit Freundinnen müssen wir stattdessen zunächst aushandeln, wie wir zueinander finden und eine gute Zeit miteinander haben.

Grundordnung des Selbstbildes

Ähnlich wie sich unsere Beziehungen aber ein Leben lang verändern, entwickeln wir auch unsere Identität immer wieder weiter. Und doch: So essenziell wie in der Jugend wird das bewusste Reflektieren über uns selbst nie wieder sein. Es ist der Grundstein, den wir legen, auf den wir immer wieder Bezug nehmen werden, selbst oder auch gerade wenn wir unsere Identität später überdenken.

„In der Jugend bildet sich eine innere Grundordnung des Selbstbildes. Und das ist sehr wichtig für unser Wohlbefinden. Sie gibt uns Ruhe, Zufriedenheit und Gewissheit“, sagt Wim Meeus. Wir müssen nicht immer wieder grundlegend infrage stellen, wie wir uns in einer Situation verhalten oder entscheiden, sondern denken einfach an diese frühen ersten Male zurück. Zweifeln wir zum Beispiel daran, ob wir dem Bürgermeister eine Mail schreiben sollten, können wir uns daran erinnern, wie richtig es sich damals angefühlt hat, auf Demonstrationen zu gehen, wie viel Kraft es gab, sich als ein politischer Mensch zu verhalten.

Die Persönlichkeit festigt sich

Wie bedeutsam die Jugend für unser weiteres Leben ist, zeigt sich vor allem in den Rückwirkungen auf die Persönlichkeit. Im Unterschied zur Identität, worunter Psychologinnen und Psychologen das Bild verstehen, das wir uns von uns selbst machen, bezeichnet Persönlichkeit objektive Eigenschaften, etwa Offenheit oder emotionale Stabilität. Bei Kindern stellen Forschende noch erhebliche Schwankungen im Charakter fest, in der Jugend jedoch scheint sich dieser zu festigen.

Die Persönlichkeit ist zu einem guten Teil Resultat genetischer Veranlagung – jeder Mensch kommt mit einem ihm oder ihr eigenen Temperament zur Welt, bereits Babys sind unterschiedlich offen gegenüber Fremden, erwidern Blickkontakt oder nicht, lächeln oder weinen. Doch unsere Umgebung, die Erfahrungen, die wir machen, die Möglichkeiten, die sich bieten, bestimmen, in welcher Art und Weise sich dieses genetische Profil entfaltet.

Jugendliche sind frei genug, sich entsprechend ihren Neigungen auszuleben. Eine besonders offene Person könnte sich also dafür engagieren, für einige Zeit eine Schule im Ausland zu besuchen. In der Schule, im Sportverein oder der Clique treffen wir zudem auf Menschen mit anderen Werten und Gewohnheiten als unsere Eltern. Sie können uns in gewissem Maß verändern. Wenn es im Fußballverein belohnt wird, ruhig auf Konflikte zu reagieren, und wir gar einen Trainer zum Vorbild haben, der mit stoischer Gelassenheit zwischen Streithähnen vermittelt, kann das dazu führen, dass auch wir verständnisvoller und überlegter mit Konflikten umgehen.

Aber was bedeutet das für die langfristige Persönlichkeitsentwicklung? Wie prägend sind die ersten autonomen Schritte dieser Zeit im Vergleich zur Kindheit? Jahrzehntelang gingen Psychotherapeuten, zum Beispiel auch Sigmund Freud, schließlich davon aus, dass die Persönlichkeit eines Menschen grundlegend in den ersten drei bis fünf Jahren des Lebens besiegelt wird.

Auswirkung auf die Intuition in Beziehungen

Heute würde wahrscheinlich niemand mehr pauschal sagen, dass die Erfahrungen der Kindheit uns stärker prägen als die der Jugend. Generell wissen Forscherinnen inzwischen, dass sich Menschen ihr Leben lang verändern und auch mit 70 noch beginnen können, verständnisvoller mit Mitmenschen zu kommunizieren. In der Kindheit und Jugend ist unser Gehirn aber besonders formbar. Die Erlebnisse der beiden Lebensphasen schlagen sich dabei auf unterschiedliche Art und Weise in uns nieder. So erinnern wir unsere Kindheit deutlich weniger plastisch als die Jugend.

Erst ab circa fünf Jahren können wir überhaupt Erinnerungen im Langzeitgedächtnis ablegen. Die Erfahrungen der Zeit davor aber, vor allem die Bindung zu den Eltern oder anderen Bezugspersonen, wirken sich besonders auf unsere Intuitionen in Beziehungen aus. Sind die Bezugspersonen der Kindheit verlässlich, versuchen sie sich auf die Bedürfnisse einzustellen, entwickeln Kinder ein Grundgefühl von Sicherheit und Vertrauen im Umgang mit anderen. „Wenn mir meine Eltern dagegen nicht vermittelt haben, dass ich liebenswert bin, erwarte ich nicht, dass meine Freunde oder Lehrerinnen mich so akzeptieren, wie ich bin, und ich verhalte mich entsprechend“, sagt Wim Meeus.

Diese Intuition prägt dann unser Verhalten als Jugendliche. In einem Experiment ließen Forschende beispielsweise adoleszente Schülerinnen und Schüler verschiedene Szenen interpretieren. Darunter eine, in der ein Schüler zeichnete und dabei von einem anderen angestoßen wurde, so dass der Stift verrutschte. Während die meisten hierin ein Versehen vermuteten, interpretierten es einige wenige als böse Absicht.

Eine belastete Bindung in der Kindheit könne also durchaus dazu führen, dass Menschen auch in der Jugend schlechte Erfahrungen machen, so die Erklärung der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Etwa weil sie sich aufgrund ihrer Interpretationen und Erwartungen an andere selbst aggressiv und abweisend verhalten. Dann verhärten sich negative Gefühle gegenüber ihnen selbst zu einem expliziten Selbstkonzept. Es ist geprägt von Erinnerungen, in denen sie versagt haben und andere dann auch so aggressiv reagierten, wie sie es von ihnen erwartet hatten.

Von einer Psychotherapie in der Jugend profitieren

Während in der Kindheit also ein grundsätzliches Vertrauen oder Misstrauen gegenüber anderen entsteht, wird dieses in der Jugend weiterentwickelt, kann sich bestätigen oder abmildern. Auch entwickeln wir feinere soziale Fähigkeiten und bewusste Einstellungen wie unsere Werte.

Anders als etwa Freud und Zeitgenossen annahmen, die Jugendliche sogar als zu unstet für eine Psychotherapie einschätzten, ist eine problembehaftete Jugend aber nicht in Stein gemeißelt, nur weil man in der Kindheit eine unsichere Bindung hatte. „Stattdessen können Jugendliche sogar besonders von einer Psychotherapie oder einem anderweitig unterstützenden Umfeld profitieren, da sie lernfähig sind, ihr Gehirn besonders stark durch Erfahrung veränderbar ist und Jugendliche zugleich schon reflektiert sind“, sagt Peter Uhlhaas.

Einer der Ersten, die in diese Richtung dachten, war Anfang der 1950er Jahre Erik H. Erikson. Erikson war ein Anhänger der Psychoanalyse Freuds – und ein Freigeist. Er verbrachte seine jungen Jahre mit Kunst, entschied sich gegen ein Medizinstudium und arbeitete später ohne einen akademischen Abschluss als Psychiater und Hochschullehrer. Erikson war fasziniert von der Eigenschaft des Menschen, sich selbst beim Denken zu beobachten. Er stellte die Jugend als Lebensphase, in der sich diese Fähigkeit entwickelt, in ihrer Bedeutung heraus.

Metakognition, also das Denken über das eigene Denken, befähigt bereits Jugendliche dazu, sich ihre emotionalen Intuitionen bewusstzumachen. So können sie sich von manchen Gedanken auch distanzieren – und zwar bevor sich diese über schmerzhafte und gerade deswegen besonders detailliert erinnerte Erfahrungen in unserem Selbstbild festsetzen. Ein jugendliches Ich denkt zum Beispiel: Ich bin nicht so schön wie die anderen. Aber in seiner Fähigkeit zur Selbstreflexion erkennt es eben auch, dass ihm dieser Gedanke schadet und dass er vielleicht übertrieben ist. So gelingt es womöglich, ihn nicht so wichtig zu nehmen.

Erinnerungen: ein Narrativ

Andererseits gibt es jedoch auch schmerzhafte Erfahrungen, die sich tief einbrennen. Diesen Eindruck gewinnt der saarländische Psychotherapeut Olaf Duchêne bei seinen Patientinnen und Patienten. „Die meisten Menschen kommen zu mir, weil sie eine Art von Leid erleben, unangenehme Gefühle, die sie sich nicht erklären können: cholerische Ausraster, Trauer, Ängste.“

Auf der Suche nach deren Ursprüngen landet Olaf Duchêne immer wieder in der Jugend. Die Menschen erinnerten sich an Vorfälle, die sie bewusst mit ihren psychischen Problemen in Zusammenhang brächten. Dahinter stecke oft noch eine Situation aus der Kindheit, diese sei ihnen jedoch weniger präsent. Erst in der Jugend finde die bewusste Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten statt. Die Erinnerungen, welche sich in dem Prozess bilden, tragen viele Menschen ein Leben lang als Ballast mit sich herum.

Eine Strategie im Umgang sei, die belastenden Erinnerungen mit etwas Distanz noch einmal zu betrachten und auf ihren Realitätsgehalt zu überprüfen. Hierbei könnten psychotherapeutische Gespräche durchaus hilfreich sein, ebenso der Austausch mit Freunden, der Familie oder die Auseinandersetzung mit sich selbst. „Ich finde, dass dafür auch das Schreiben eine tolle Methode ist“, so Duchêne.

Denn niemand kann seine Vergangenheit, seine Jugend ungeschehen machen und Erinnerungen einfach löschen. Aber Erinnerungen sind keine realitätsgetreuen Abbilder der Wirklichkeit, sie sind geprägt von unseren Interpretationen. Sie sind ein selbstkonstruiertes Narrativ. Schon dieses Wissen kann befreien. Wer versteht, wie die vielen Jugenderinnerungen einst entstanden sind und dass sie eng mit damaligen Bewertungen zusammenhängen, kann sich die Frage stellen: Wie sehr glaube ich dem, was mir da immer wieder einfällt?

Inspiration und Überraschungen finden

Überhaupt seien viele Menschen im Rückblick auf ihre identitätsstiftenden Jugenderinnerungen sehr streng mit sich, berichtet Duchêne. Viele schauten auf ein Chaos zurück und würfen sich zu wenig Weitsicht und Vernunft vor. Dabei ist die Jugend mit ihrer Dialektik aus Anpassung und Rebellion eben per se eine Phase der Spannung und ziemlich anstrengend. Wim Meeus findet, dass wir unterschätzen, wie sehr Jugendliche damit beschäftigt sind, sich zu finden: „Eigentlich ist in dieser Zeit zum Beispiel mental wenig Kapazität übrig, um sich um die Schule zu kümmern“, sagt er.

Der Bildungsweg sei daher für viele sehr belastend. Insbesondere die lang praktizierte frühe Trennung von Schulkindern in Gymnasiasten, Real- und Hauptschülerinnen bedeute großen Stress, man verliere Freunde, werde schnell in eine Schublade gesteckt, die der jugendliche Geist auf der Suche nach Identität allzu gerne übernehme. Duchêne meint, wir könnten unserem jugendlichen Ich mehr Akzeptanz und Mitgefühl entgegenbringen, wenn wir uns fragten: Welche Lasten trugen wir damals? Was waren die Umstände, unter denen wir uns so verhielten?

Selbstverständlich ist die Jugend aber auch eine schöne Zeit. „In der Rückschau finden viele meiner Klientinnen Inspiration und Überraschungen“, berichtet Coach Andreas Kroitzsch. Er geht davon aus, dass die verschiedenen Rollen, die wir im Laufe unseres Lebens erfüllen – als Schüler, Freundin, Mutter, Partner –, auch gewisse Aspekte unserer Persönlichkeit kultivieren und nähren.

In der Adoleszenz bilden sich oft autonome, selbstbewusste Tendenzen in uns aus, die wir als Erwachsene manchmal vergessen haben. Dabei könnte es uns Kraft geben, wenn wir uns zum Beispiel daran erinnern, wie wir zum ersten Mal zu einer Chorprobe gingen – obwohl wir befürchteten, dass wir nicht gut genug singen würden.

Wertvolle Impulsivität

Tatsächlich werden Menschen in der Regel nie wieder so mutig und freiherzig sein wie in dieser Zeit. „Das liegt an den in der Jugend ablaufenden Entwicklungsprozessen im Gehirn“, erklärt Peter Uhlhaas. Bei Jugendlichen besteht ein Ungleichgewicht in der Reifung von Hirnarealen, die mit dem emotionalen Erleben assoziiert sind, und solchen, die wichtig für die Kontrolle und Abfederung eben solcher emotionalen Impulse sind.

Daher handeln Jugendliche eher kopflos. Aber diese Impulsivität hat eben auch etwas Gutes: Sie ermöglicht es, sich leichter von den Eltern abzunabeln, sich stattdessen auf neue Menschen und andere Aktivitäten einzulassen, deren Erwartungen und soziale Normen wir noch nicht kennen.

Coach Andreas Kroitzsch nutzt die erinnerten Momente bisweilen, um bei seinen Klienten Mut und Schaffensgeist zu wecken. Eine Frau, die bei ihm Unterstützung suchte, haderte jahrelang mit ihrem Körper, stellte auch in anderen Bereichen sehr hohe Ansprüche an sich und machte sich viel Druck. Im Verlauf des Coachings gelang es ihr, sich wieder an längst vergessen geglaubte Erlebnisse der Jugend zu erinnern.

In dieser Zeit habe sie sich sehr frei gefühlt, besonders enge Freunde gehabt. In den Sitzungen mit Kroitzsch hatte sie intensive Bilder vor Augen: Sommerabende mit Musik, weite, bunte Kleidung. Diese kraftvollen Bilder der Jugend hat sie sich jetzt wieder in ihren Alltag geholt. In Momenten, in denen ihr alles zu viel wird, in denen Sorgen um die Arbeit, den Haushalt oder der Druck, eine Diät zu machen, sie vereinnahmen, denkt sie an diese Zeit zurück. Das hilft ihr, sich zu entlasten, sich zu erlauben, das Leben zu genießen. Sie ruft in letzter Zeit öfter einen alten Freund an oder geht mit ihrem Mann in der Frühlingssonne ein Eis essen. Sie hat auch wieder begonnen zu tanzen.

Entwicklungsschritte in der Jugend

Biologische und neuronale Veränderungen im Überblick

1. Die Jugend oder auch Adoleszenz (vom lateinischen adolescere = heranwachsen) ist die Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Welche Altersspanne sie umfasst, ist jedoch nicht eindeutig definiert. Die Weltgesundheitsorganisation etwa meint damit den Altersbereich vom 15. bis zum 24. Lebensjahr. Sie weist jedoch zugleich darauf hin, dass die Definitionen je nach Kulturkreis stark variieren können.

Der Beginn der Adoleszenz wird mit dem der Pubertät (siehe Punkt 2) zusammengelegt, als Endmarker können biologische Entwicklungsschritte wie die Geschlechtsreife herangezogen werden, meistens jedoch geht es vielmehr um psychosoziale Faktoren, etwa die finanzielle oder emotionale Unabhängigkeit von den Eltern.

2. Das Wort Pubertät kommt vom lateinischen pubertas, was so viel wie Mannbarkeit bedeutet. Bezeichnet werden damit die körperlichen Entwicklungen, die zur Geschlechtsreife führen. Wann sie auftreten und wie sie ablaufen, wird sowohl von genetischen Faktoren bestimmt als auch den Lebensumständen, zum Beispiel der Ernährung eines Menschen. So sank das Alter bei der Menarche, der ersten Regelblutung, bis in die 1980er und 1990er Jahre stetig ab.

3. Die Jugend ist auch eine Zeit wichtiger Reifungsschritte im Gehirn. Zum einen kommt es zum Abbau der sogenannten Grauen Substanz des Gehirns. Dazu gehören unter anderem die Nervenzellen und ihre Verbindungspunkte, die Synapsen. Während wir in der Kindheit grundlegende Kompetenzen wie Sprechen oder Gehen lernen, wofür wir breite Vernetzungen verschiedenster Hirnareale benötigen, geht es in der Jugend darum, vorhandene Kompetenzen zu verbessern.

Wir sollen dann etwa schneller und effizienter auf Vokabeln der Muttersprache zugreifen können. Dafür werden selten genutzte Synapsen abgebaut, nach dem Prinzip use it or loose it. So verbleiben kleinere Netzwerke, die eine effizientere Informationsübertragung ermöglichen.

Gleichzeitig finden Umbauten an den Axonen statt. Die Weiße Substanz bezeichnet eine Fettschicht, die die Axone umgibt und isoliert. Dadurch wird die Weiterleitung der elektrischen Impulse beschleunigt, die Informationen von einer zur anderen Nervenzelle übertragen. In der Jugend wird diese Schicht stetig dicker. Die Isolation verbessert sich und Informationen werden schneller weitergeleitet.

4. Die beschriebenen Umbauprozesse im Gehirn geschehen jedoch nicht an allen Stellen gleichzeitig, so dass es während der Jugend zu Reifungsungleichgewichten kommt. Während Hirnregionen, die für Emotions- und Belohnungsverarbeitung entscheidend sind, schon früh entwickelt sind, zum Beispiel das limbische System, hinkt die Großhirnrinde hinterher.

Insbesondere der frontale Bereich der Großhirnrinde, das Stirnhirn, ist oft erst mit Mitte 20 vollständig ausgereift. Es wird als besonders bedeutsam für Fähigkeiten wie Selbstkontrolle und Organisation angesehen. Forscherinnen und Forscher bringen das Ungleichgewicht in der Reifung solcher Kontrollareale einerseits und der emotionsverarbeitenden Areale andererseits damit in Zusammenhang, dass Jugendliche Emotionen so intensiv erleben, dass sie risikobereit und impulsiv sind.

Die große erste Liebe

Was macht die Jugendliebe so besonders? Die Entwicklungspsychologin Inge Seiffge-Krenke beschreibt, wie uns diese Erfahrung ein Leben lang prägt

Frau Seiffge-Krenke, viele Menschen erreichen das Gefühl ihrer ersten Liebe danach nie wieder. Was macht sie so besonders?

In der Jugend können wir sehr intensiv lieben. Es ist das erste Mal, dass wir Intimität mit einer anderen Person aufbauen – sehr aufregend! Jugendliche erleben Emotionen auch tatsächlich stärker, weil ungestörter. In der Jugend sind Hirnareale, die für Operationen wie Abwägen und Planen wichtig sind, noch nicht ausgereift.

Das bedeutet, dass Jugendliche weniger ans Morgen denken und sich zum Beispiel seltener fragen, ob der aktuelle Partner oder die aktuelle Partnerin wirklich der Mensch fürs Leben ist. Sie haben stattdessen ein eher verzerrtes, idealisiertes Bild der Person und entsprechend starke Gefühle. Allerdings ist das nur für den Beginn der Jugend typisch – so für das Alter von 13 oder 14 Jahren.

Warum nur in dieser Zeit?

Die starken Gefühle, die Jugendliche ih­ren Partnern gegenüber am Beginn der Jugend empfinden, haben eine Antreiberfunktion und sollen uns motivieren, die sichere Basis der Elternbindung zu verlassen.

Jugendliche müssen die Eltern vom Sockel stoßen und alle Energie auf andere Menschen richten, damit sich die Elternbindung modifizieren kann, dis­tanzierter wird und sich mehr auf Augenhöhe einpendelt, so dass gleichzeitig andere Personen in das Leben treten können. Die Tendenz zu Intensität und Idealisierung kann allerdings schnell unvorteilhaft werden. Man geht ja nicht wirklich in Beziehung mit jemandem, wenn man ihn so idealisiert.

Ab der mittleren Adoleszenz lernen wir genau das: Wie mache ich aus dem Verliebtsein Liebe? Wie löse ich Konflikte mit meiner Partnerin? Welches ist das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz? Wie grenze ich mich ab, ohne die Beziehung in Gänze infrage zu stellen? Und ein ganz wichtiger Punkt, der vielleicht Ihr eingangs beschriebenes romantisches Bild der einen Jugendliebe sprengt: Wie gehe ich mit Trennungen um?

Prägen die Erfahrungen, die wir dann sammeln, unsere späteren Beziehungen?

Ja, auf jeden Fall. Die anfänglichen Liebeleien sind schnell vergessen. Aber es ist wichtig, wie wir unsere erste längere Beziehung erleben, in welcher der Partner unsere engste Bezugsperson ist. Meist fällt das in die späte Jugend rund um das 18. Lebensjahr, wenn man mal mindestens ein oder gar zwei Jahre zusammengeblieben ist.

In einer Studie, in der Kolleginnen und ich Jugendliche über mehrere Jahre bis ins junge Erwachsenenalter begleitet haben, zeigte sich, dass die Zuwendung durch den Partner in dieser Lebensphase erklären kann, warum die Menschen in späteren Beziehungen unterschiedlich zufrieden sind. Wer sich von den Eltern abnabelt und dann eine akzeptierende, wohlwollende Person trifft, hat es leichter zu vertrauen, vermute ich.

Außerdem geht es – wie oben beschrieben – um soziales Lernen. Übung macht auch in Beziehungen den Meister: Mit den Jahren, die unsere Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einer Partnerin verbrachten, stieg ihre Zufriedenheit. Es ist Übungs- wie auch Vertrauenssache, in Beziehungen seine Bedürfnisse zu kommunizieren, Kompromisse zu verhandeln und Dissonanzen auszuhalten.

Das klingt fast, als könnte jeder in der Jugend lernen, gesunde Beziehungen zu führen.

Das ist eine zugespitzte Formulierung. Aber aus meiner Forschung ziehe ich durchaus diesen Schluss. Wir sind alle sehr unterschiedlich. In Beziehungen haben wir die Möglichkeit, uns selbst besser kennenzulernen und einzuschätzen, aber auch zu lernen, wie wir uns regulieren können – das fördert glücklichere Partnerschaften.

Sind Ausgangsvoraussetzungen, etwa die Persönlichkeit oder die Bindung zu den Eltern, unwichtig, wenn es darum geht, eine Beziehung zu führen?

Nein, aber die Jugend ist wichtiger. Natürlich gehen Jugendliche mit unterschiedlichen Vorerfahrungen und einem eigenen Temperament in Beziehungen. Gewisse Persönlichkeitseigenschaften machen es entweder schwerer oder leichter, mit jemandem zusammen zu sein, ihm oder ihr zu vertrauen.

Jene Menschen etwa, die schnell ängstlich und besorgt sind und belastende Emotionen wie Wut oder Trauer intensiver spüren, haben brüchigere, wenig erfüllte Partnerschaften. Ähnlich verhält es sich mit der Bindung zu den Eltern. Wer sich da sicher fühlt, hat Glück gehabt. Dem fallen möglicherweise viele Schritte in dem Beziehungsaufbau zu anderen leichter. Ein hoher Selbstwert hilft, Bedürfnisse klar zu kommunizieren und Zurückweisungen zu akzeptieren.

Aber letztlich geht es in Beziehungen darum, Austausch und Einklang zu finden. Jugendliche, die sich bei den Eltern nicht geborgen fühlen, suchen oft früher Partnerschaften.

Wie kommt es dazu?

Na, das ist ja das Fantastische an der Jugend: Autonomie. Ich kann mir das suchen, was ich brauche – einen sicheren Hafen in diesem Fall. Das kann gut funktionieren. Eine tragfähige lange Beziehung in der Jugendzeit kann Schul­probleme, Kriminalität, übermäßigen Drogenkonsum oder Ähnliches verringern. Aber ich kann auch an die oder den Falschen geraten. Außerdem kann es sein, dass Paare, die am Beginn der Jugend viel Nähe suchen, heftige Konflikte haben. Denn den Partnern fehlen eben noch die sozialen Fertigkeiten, um Konflikte zu lösen.

Was kann Jugendliche dabei unterstützen, sich in Beziehungen gut miteinander zu entwickeln?

Struktur und Orientierung sind in dieser Phase wichtig. In dieser Hinsicht gibt es eine für mich sehr überraschende Studie. Einige Kolleginnen aus der ganzen Welt – unter anderem aus Südeuropa, Nordafrika, Asien – und ich haben verglichen, wie gestresst Jugendliche in ihren Heimatländern durch romantische Beziehungen und Datings sind.

Ich hatte erwartet, dass streng religiöse und kulturelle Normen repressiv wirken und Wut sowie Hilflosigkeit schüren. Aber im Gegenteil: Jugendliche in Kulturen mit engerem Rahmen waren gelassener. Es war ganz klar für sie, wie die Annäherung – der erste Kuss, Berührungen, das Vorstellen in der Familie – abläuft. Ich würde nicht empfehlen, das so hier umzusetzen, aber ich denke, gewisse Grenzen und eine gute Struktur in anderen Lebensbereichen sind wichtig. 

Inge Seiffge-Krenke ist Psychoanalytikerin und ­Professorin für Entwicklungspsychologie mit einem Schwerpunkt auf der Jugend – siehe auch Flucht vor Intimität? in Psychologie Heute 10/2021.

„Ich habe gelernt, mich zu öffnen“

Eine Künstlerin blickt zurück auf ihre Jugend – und die Gruppe, in der sie Halt fand.

„Der rauchige Duft von Lagerfeuer, das Kna­cken von getrockneten Ästen oder das Klappern von Löffeln in Blechschalen versetzen mich auch heute wie auf Knopfdruck in meine Jugend zurück. Mit zwölf schloss ich mich den Pfadfindern und Pfadfinderinnen in meiner Heimatstadt Frankfurt an, weil ich mich in der Natur sehr geborgen fühlte und das Abenteuer suchte.

Ich denke, ich hatte schon damals eine gute Intuition für das, was ich brauchte. Die 1970er waren für viele Menschen der Mittelschicht keine leichte Zeit. Mein Vater war Friseur und oft mit dem Geschäft, mit sich und seinen Träumen beschäftigt. Er hat getrunken und mit vielen Drogen experimentiert. Ich glaube, er wäre lieber Künstler geworden. Meine Mutter war durch sein Verhalten überfordert, so dass ich mit meinen Problemen allein war. Ich gab es auf, für Hausaufgaben um Hilfe zu bitten oder meinen Wunsch nach Reitstunden zu äußern.

Bei den Pfadfindern galt Gemeinschaft als höchstes Gut. Wir verbrachten oft mehrere Tage gemeinsam im Wald, navigierten mit dem Kompass oder entfachten Lagerfeuer, da ­musste man sich aufeinander verlassen. Das hieß, andere zu unterstützen, Verantwortung für die Jüngeren zu tragen, aber auch, sich zu offenbaren, wenn man selbst nicht mehr weiterwusste.

Heute bin ich Künstlerin. Wenn ich Performances und Audiowalks konzipiere, stoße ich regelmäßig an meine Grenzen. Ohne die Erfahrung bei den Pfadfinderinnen, wo ich gelernt habe, um Hilfe zu bitten, wenn ich sie brauche, könnte ich diese Arbeit nicht machen.“

Literatur:

Wim Meeus: The study of adolescent identity formation 2000–2010: A review of longitudinal research. Journal of Research on Adolescence, 21/1, 2011, 75–94

Arnold Lohaus (Hg.): Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Springer, Berlin 2018

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2022: Die Zeit, als alles neu war