Und morgen vielleicht von vorn

Kerstin Mersinger ist schwer psychisch krank. Immer wieder gefährdet sie sich und andere. Auch wenn sie stabil ist: Die Angehörigen bleiben alarmiert.

Eine junge Frau steht als dunkle Silhouette am Fenster und schaut hinaus, vor ihr ein weißer Vorhangstoff.
Eine Betroffene verlässt nur zu wenigen Terminen das Haus. Niemand kann genau sagen, wann die nächste Psychose anklingt und sie wieder in die Klinik muss. (Hinweis: Das Foto zeigt nicht die echte Protagonistin) © Eren Çevik/EyeEm/Getty Images

Der Schritt über die Türschwelle ihrer Wohnung braucht Zeit, so, als würde sie eine lange Reise antreten. Erst sagt sie ihren zwei Katzen tschüss, dann schließt sie die Zimmertüren, rüttelt an den Klinken. Sind sie auch wirklich zu? Halb im Hausflur dreht sie sich um, geht noch einmal die Türen ab, zieht und drückt, dann erst schließt sie die Wohnungstür hinter sich. Sie dreht den Schlüssel um, einmal, zweimal, dreimal, dann ein zweites Schloss.

Auf der Straße schaut Kerstin Mersinger nicht nach rechts, nicht nach links. Den Blick geradeaus, macht die 45-Jährige kleine Schritte, sie trägt Jeans und Wolljacke trotz der Hitze an diesem Tag, die langen Haare zum Pferdeschwanz im Nacken gebunden. Eigentlich meidet sie die Hauptstraße, aber bis zu der Tagesstätte sind es nur 150 Meter. Es ist Mittwoch, 7.30 Uhr. Sie geht an diesem Wochentag immer, wenn sie es schafft, für ein paar Stunden zur Arbeiterwohlfahrt (AWO), wo sie gemeinsam basteln, töpfern oder kochen. Vor kurzem hat Kerstin von vier auf fünf Stunden erhöht. Ein gutes Zeichen.

Noch ein Jahr zuvor war nicht daran zu denken. Statt der AWO bestimmte eine Psychose ihre Woche, den Alltag. Im Herbst verließ sie die Klinik, diesmal war sie für 34 Tage dort gewesen. Es war bereits der dritte Aufenthalt in jenem Jahr und die zweite Zwangseinweisung (lesen Sie dazu den Artikel „Zwangseinweisung und gesetzliche Betreuung“).

Kerstin sagt über diese Zeit: „Das war heftig. Ich bin nicht stolz drauf.“

Ihr Mann Lothar sagt: „Noch mal krieg ich das nicht hin.“

Ihre Freundin Simone sagt: „Ich hab gedacht, wir hätten sie verloren.“

Mit dieser Reportage hat Helena Weise den Medienpreis für Wissenschaftsjournalismus der Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. 2023 gewonnen

1998 war Kerstin Mersinger, die eigentlich anders heißt, aber nicht möchte, dass sie oder ihre Angehörigen erkannt werden, das erste Mal gegen ihren Willen in der Psychiatrie untergebracht worden. Damals bekam sie ihre erste Diagnose oder besser gesagt gleich zwei: Borderlinepersönlichkeitsstörung und bipolare affektive Störung.

Bei der Borderlinediagnose sind die Betroffenen emotional instabil und unfähig, ihre eigenen Gefühle zu kontrollieren. Die Erkrankung zeichnet sich durch ein gestörtes Selbstbild, intensive und unbeständige Beziehungen und eine Neigung zu Selbstverletzungen aus. Sie ist zum Teil genetisch, zum Teil durch frühe Lebenserfahrungen wie Gewalt oder Vernachlässigung bedingt, durch die sich die Gehirnstruktur der Betroffenen verändert; sie reagieren schneller und empfindlicher auf Stress. Bei der bipolaren affektiven Störung wechseln die Betroffenen zwischen manischen und depressiven Episoden, also zwischen Hochgefühl und Antriebslosigkeit. Es ist eine chronische psychische Erkrankung, bei der im schweren Verlauf auch Psychosen auftreten können.

Ein Leben zwischen Klinik und Zuhause

Später folgten weitere Diagnosen: Substanzmissbrauch von Alkohol und Cannabis, schizoaffektive Störung, die sowohl Symptome einer Schizophrenie wie Wahnvorstellungen und Halluzinationen umfasst als auch Stimmungsschwankungen zwischen Manie und Depression. Mersinger litt unter Psychosen, fügte sich Verletzungen zu, versuchte, sich umzubringen. Auf psychotische Phasen folgten Zwangseinweisungen, mal blieb sie ein paar Tage, mal ein paar Monate, bis die Psychiatrie sie wieder entließ. Ihr Leben ist seitdem geprägt von dem Wechsel zwischen Klinik und Zuhause. Von guten und schlechten Phasen.

Es gibt keine genauen Zahlen dazu, wie viele Menschen wiederholt stationär behandelt werden, auch gegen ihren Willen. Das liegt zum einen daran, dass sich Dauer und Häufigkeit dieser Aufenthalte stark unterscheiden; zum anderen werden Zwangseinweisungen – im Gesetzeskontext „Unterbringung“ genannt – von den Bundesländern uneinheitlich erfasst. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) schätzt, dass um die zehn Prozent der Patientinnen und Patienten unfreiwillig in der Psychiatrie sind.

Auch die Krankheitsbilder dieser unfreiwillig behandelten Patienten werden nicht erfasst, doch Psychiaterinnen und Psychiater, Betreuende und Angehörige berichten übereinstimmend von Menschen, die nicht einsehen wollen oder können, dass sie krank sind, und eine Behandlung entsprechend ablehnen. Häufig leiden die Betroffenen demnach unter einer akuten Psychose oder befinden sich – etwa bei bipolaren Erkrankungen – in einer extremen Episode, in der nur noch die Zwangseinweisung sie davon abhält, sich oder anderen etwas anzutun.

Kerstin Mersinger hat gerade eine gute Phase. Sie nimmt ihre Medikamente: morgens und abends 10 mg Olanzapin plus 5 mg Haloperidol; einmal am Tag 75 mg Levomeproma­zin – Neuroleptika zur Behandlung schizophrener Psychosen. „Nicht mehr viel“, wie sie sagt. Jeden Dienstag hilft sie ihrem Vater, obwohl sie ein schwieriges Verhältnis zu ihm hat, in seinem Antiquariat, mittwochs geht sie zur AWO, freitags zur Psychosegruppe bei ihrer Psychiaterin, bei der sie gemeinsam mit anderen lernt, was hinter ihren Diagnosen steckt und wie sie damit umgehen kann. Ihre Mutter kommt regelmäßig zu Besuch. Manchmal begleitet sie ihren Mann zum Einkaufen. Den Rest der Zeit verbringt sie zu Hause, telefoniert mit Freundinnen, schaut Fernsehen, am liebsten Berlin – Tag & Nacht oder Animationsfilme wie etwa Tim Burtons Corpse Bride. So weit, so stabil.

In der AWO setzt sich Kerstin an diesem Morgen zu Martina, die beiden kennen sich seit Jahren, ihre Erkrankung verbindet sie. Ein häufiges Thema: der Mangel an Psychiaterinnen und Psychiatern in der Stadt: „Was ist denn aus dem Jahn geworden, oben am Domplatz?“ – „Der ist seit letztem Jahr in Rente.“ – „Die eine, da in der Mauerstraße, die war gut; aber die ist weggezogen.“ – „Was ist mit dem drüben im Nachbarort?“ – „Da komm ich nicht hin, kann ja keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen.“

Laut den von der DGPPN herausgegebenen Basisdaten Psychische Erkrankungen gab es Anfang 2022 in Deutschland 14 354 Psychiaterinnen und Psychiater. Weniger als die Hälfte davon ist niedergelassen, 72 Prozent aller Fachärztinnen und Fachärzte sind älter als 50 Jahre. Für psychisch schwerkranke Menschen, die großteils auch auf Medikamente angewiesen sind, welche Psychologinnen und Psychologen sowie Psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten von Rechts wegen nicht verschreiben dürfen, bedeutet das lange Wartezeiten und Abstriche bei der Versorgung.

Allein an Schizophrenie erkranken jedes Jahr über 15 000 Menschen. „Wir bräuchten 1,6-mal so viele Ärzte wie noch vor 20 Jahren, um die gleiche Anzahl an Patientinnen und Patienten zu versorgen“, sagt Sylvia Claus, ärztliche Direktorin am Pfalzklinikum in Klingenmünster. „Viele Menschen tauchen dann notfallmäßig in den Kliniken auf, weil die ambulante Versorgung nicht erreichbar oder zu spät erreichbar war.“

Mehr als Badesalz und Duftöl

Kerstin Mersinger rührt derweil in einem Plastikbecher, sie färben heute Badesalz, tröpfeln Duftöl hinzu, füllen das Salz in kleine Fläschchen und versiegeln sie mit Wachs. Ihre Bewegungen sind langsam und konzentriert. An jedem Finger trägt sie einen Ring, um den Hals und die Handgelenke Ketten aus Metall, verziert mit Skeletten und Totenköpfen, die sie nie abnimmt. Lange Ärmel verdecken die vielen symmetrisch angeordneten Narben auf ihren Unterarmen, die sie sich selbst über die Jahre zugefügt hat.

Es ist still und riecht nach Orange, Eukalyptus und Vanille. Um halb eins packt Mersinger ihr Badesalz ein, raucht eine letzte Zigarette auf dem Hof und geht die 150 Meter zurück nach Hause. „Einmal die Woche reicht“, sagt sie auf ihre schmucklose, zu Hauptsätzen reduzierte Art. „Aber so ganz ohne die AWO – da würde mir was fehlen.“

Tagesstätten wie diese geben Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen Struktur und verschaffen den Angehörigen Erleichterung. Sie gehören zu einem Netz aus ambulanten Versorgungsangeboten. Hierzu zählen die psychiatrischen Pflegedienste, bei denen Fachkrankenpfleger die Betroffenen zu Hause besuchen und bei der Medikamenteneinnahme oder im Alltag helfen; der Sozialpsychiatrische Dienst, der vor allem berät und im Notfall weiterhilft; ambulantes betreutes Wohnen, das ebenfalls im Alltag begleitet und Freizeitangebote vermittelt, sowie Ergo- oder Soziotherapie. Allerdings sind diese Angebote freiwillig – und es mangelt eben oft an Krankheitseinsicht, wie es in der Fachsprache heißt: Die Betroffenen halten Unterstützung oder gar häusliche Pflege für schlicht nicht nötig.

Zudem ist die Bewilligung solcher Maßnahmen mit bürokratischem Aufwand verbunden, den die Angehörigen bewältigen müssen, sofern es sie gibt. Wer allein lebt, ist auf professionelle Hilfe angewiesen, darauf, dass das Versorgungsnetz ihn oder sie früh genug auffängt. Hinzu kommt, dass der Markt für Betroffene und Angehörige nur schwer zu überblicken ist. „Wir haben zwar ein gut ausgebautes Versorgungssystem in Deutschland“, sagt Iris Hauth, ärztliche Direktorin am Alexianer-St.-Joseph-Krankenhaus Berlin, einer Fachklinik für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, „aber das System ist zergliedert und fraktioniert, die Versorgungsangebote werden aus verschiedenen Töpfen finanziert – das erschwert die Zusammenarbeit.“

Als Kerstin Mersinger zu Hause angekommen ist, schließt sie die Wohnungstür auf, einmal, zweimal, dreimal, die Katzen streichen ihr um die Beine. Im Flur ist es dunkel, die Türen zu den drei Zimmern, zu Küche und Bad sind geschlossen. Ölgemälde und Kohlezeichnungen hängen dicht an dicht an den Wänden der Wohnung, die sie mit ihrem Mann teilt. Mersinger hat alle Bilder selbst gemalt.

Der Tisch im Wohnzimmer ist fast vollständig von Bechern mit Pinseln und Farbkästen bedeckt, so als würde sie jeden Moment wieder loslegen. „Wenn ich male, bin ich frei, dann hab ich nichts im Kopf“, sagt Mersinger. Sie hat seit Jahren nicht gemalt.

Von Odin besessen

Das letzte Mal, dass sie eine solche Blockade hatte, war nach dem Suizid ihres Bruders. Sieben Jahre griff sie nicht zum Pinsel, dann war die Zeit reif, sagt sie. Eine Blumenwiese, Öl auf Leinwand im Format 60 mal 90, quer. In der Zeit vorher hatte sie regelmäßig zu kiffen begonnen, lernte ihren späteren Mann Lothar kennen, unternahm zwei Suizidversuche, reiste auf eigene Faust nach England und wurde mehrere Male zwangseingewiesen.

„Ich war überzeugt, ich bin von Odin besessen, dem höchsten Gott der Germanen. Während einer Psychose denke ich, ich kann Gedanken lesen oder das Wetter beeinflussen. Ich bekomme geheime Botschaften über das Radio vermittelt und fühle mich permanent verfolgt“, sagt Kerstin.

„Man möchte helfen, aber man kann es nicht“, sagt Lothar.

„In den psychotischen Phasen verabschiedet sich Kerstins Persönlichkeit“, sagt Simone.

Zu dritt sitzen sie jetzt im Raucherzimmer, einem kleinen Erker mit orangefarbenen Vorhängen. Kerstin sitzt links in der Ecke, vor ihr auf dem Tisch die Zigarettendrehmaschine und die Schachtel mit den Medikamenten. Neben ihr Lothar und Simone, eine Frau mit dunklen Augen und energischem Blick, die schnell das Wort ergreift, wenn Kerstin zu schweigen beginnt. Ein vertrautes Trio.

Simone kommt einmal die Woche zu Besuch, sie und Kerstin sind seit fast 20 Jahren befreundet. In guten Phasen gehen sie gemeinsam im Wald spazieren, in einer schlechten Phase fand Simone Kerstin schon mal in deren Wohnzimmer, als diese auf dem Sofa sitzend ihre Pulsadern aufschnitt, über einem Messbecher, den sie vorher aufgestellt hatte, um das Blut aufzufangen.

Freundin und rechtliche Betreuung

Die Freundinnen tauschen bei Kaffee und Kuchen Anekdoten aus ihrer gemeinsamen Geschichte aus. „Weißt du noch, als du dich stundenlang in meinem Badezimmer eingesperrt hast?“ – „Weißt du noch, wie wir in der Klinik die Nächte durchgemacht haben?“ – „Weißt du noch das Medikament, von dem die Nase so aufschwemmt?“ Beruhigungstabletten nennen sie „Hau-dich-weg-Mittel“, Neuroleptika „Leck-mich-am-Arsch-Medis“.

Simone weiß, was es heißt, schwer psychisch krank zu sein. Sie und Kerstin haben sich damals in der Klinik kennengelernt, sie teilten sich ein Zimmer. „Wir sind zusammengewachsen“, sagt sie über ihre gemeinsame Zeit. Nur einmal war zwei Jahre Funkstille, da habe sie selbst eine Therapie gemacht und sei zu instabil gewesen, um sich um Kerstin zu kümmern, mit ihr zu sprechen, zu ihr zu fahren. „Ich habe das nicht mehr ertragen, die Anrufe, die monotone Stimme“, sagt Simone.

„Das war keine Freundschaft mehr, das war Begleitung.“ Erst vergangenes Jahr kam sie wieder zurück in Kerstins Leben. Lothar hatte sie angerufen, weil er nicht mehr weiterwusste. Zu dem Zeitpunkt war Kerstin hochgradig psychotisch. Simone überredete sie, freiwillig in die Klinik zu gehen. Seitdem sehen sie sich wieder regelmäßig.

„Du hast was erlebt mit mir“, sagt Kerstin und lächelt Simone zu. „Schön, dass du wieder da bist.“

Nächstes Jahr übernimmt Simone ehrenamtlich sogar Kerstins rechtliche Betreuung (lesen Sie dazu den Artikel „Zwangseinweisung und gesetzliche Betreuung“). Vor kurzem hat sie die dafür nötige Ausbildung abgeschlossen – ursprünglich nicht, um ihre Freundin gesetzlich zu vertreten. Doch als es Kerstin vergangenen Sommer schlechtging, kam Lothar auf die Idee, Simone die Betreuung anzuvertrauen, wodurch diese unter anderem Zwangseinweisungen beantragen kann. Kerstin stimmte zu.

Mehr zum Thema lesen Sie im Artikel:

Ihre Stimme und sein Herz

Zu dem derzeitigen Berufsbetreuer, den ein Gericht 2016 bei einer Zwangseinweisung bestellt hat und dessen Betreuung nächstes Jahr ausläuft, haben sie kaum Kontakt. Im Notfall, erzählen Simone und Lothar, erreichten sie ihn oft nicht. Dadurch verzögere sich die Einweisung in die Klinik, weil nur der Betreuer sie veranlassen könne – zumindest solange Kerstin niemanden bedrohe.

Lothar wusste nichts von Kerstins Diagnose, als er sie 2006 kennenlernte. Im gleichen Jahr bekam sie eine Psychose, überredete ihn, sie zum Flughafen zu fahren, und flog nach England, wo sie wenig später von der Polizei in die Psychiatrie gebracht wurde. Damals habe er überlegt hinzuschmeißen, erzählt er. Zu der Zeit war er noch von Montag bis Freitag auf Montage, mittlerweile hat er den Job aufgegeben, um mehr zu Hause zu sein, bei Kerstin. Jetzt arbeitet er als Maler. Lothar hat eine ruhige Stimme und einen grauen Pferdeschwanz, den Kerstin sehr mag. Wenn sie noch einmal eine Psychose bekommt, rasiert er sich eine Glatze, hat er im Scherz gedroht.

„Beim ersten Telefonat habe ich ihre Stimme gehört und wusste: Diese Frau werde ich heiraten“, sagt Lothar. Und das tat er sechs Jahre später auch. Er zieht an seiner Zigarette und wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. „Ich habe entschieden, auf mein Herz zu hören.“ „Und, hast du es bereut?“, fragt Kerstin jetzt plötzlich, die bis dahin still neben ihm gesessen hat. „Jeden Tag“, sagt Lothar, wirft den Kopf zurück und lacht. Sie zieht ihn zu sich und küsst ihn kurz auf den Mund.

Mit jedem Mal wurden Kerstins Psychosen heftiger, manchmal dauerten sie Monate an. Wenn Lothar nicht mehr weiterwusste, wenn Kerstin nicht mehr schlief, ihn beleidigte, ihm die Schuld an ihrem Unglück gab oder sogar aggressiv wurde, rief er den Sozialpsychiatrischen Dienst. „Früher sind die dann mal vorbeigekommen und haben mit Kerstin geredet“, sagt er. „Aber mittlerweile sind die so überlastet, dass sie nur noch im Notfall kommen, zusammen mit dem Ordnungsamt.“ Und selbst dann würden sie nach fünf Minuten wieder gehen.

Das deutsche Recht definiert einen Notfall anders als Lothar: Solange Kerstin weder sich selbst noch andere akut gefährdet, darf niemand sie gegen ihren Willen in eine Klinik bringen oder behandeln. „Die sagen dann, sie können nichts machen, und fahren wieder“, sagt Lothar. „Die sagen, wir müssen abwarten, bis etwas passiert, und ich solle mich so lange in Sicherheit bringen. Und ich steh da und muss am nächsten Tag arbeiten.“

Von Schlafmangel bis Ü-Eier

Im vergangenen Jahr begann es wieder, im Juni. Manchmal ahnt Lothar, was kommen wird; meistens nicht. „Die Vorzeichen sind bei jeder Psychose anders“, sagt er. „Schlafmangel ist ein verlässliches Zeichen, aber dann ist es schon längst zu spät. Da wirkt auch keine Tablette mehr.“

Er holt sein Handy aus der Malerhose, scrollt durch die Fotos bis Juli 2021. Eine Reihe von Selfies sind da zu sehen: Kerstin mit blassem Gesicht und leicht nach oben verdrehten Augen. „Ich hatte keinen Zugang mehr zu ihr“, sagt er. Immer wieder habe Kerstin damals geduscht, sich angezogen, sei mit klitschnassen Sachen, Mütze und Sonnenbrille, drei Taschen um den Hals und ohne Schuhe einkaufen gegangen. „Irgendwann hat sie sich nur noch von Ü-Eiern ernährt.“ Hinter ihm auf dem Regal im Erker stehen noch die kleinen Plastikfiguren, als wäre das hier ein Gerichtssaal und sie Lothars Zeugen. Es ist eine große Sammlung.

Im August konnte er nicht mehr, sagt Lothar. Unter dem Vorwand, jemanden zu besuchen, habe er Kerstin in die Klinik gebracht. Eine Ärztin rief die Polizei, Lothar wartete mit seiner Frau draußen im Park, es dauerte. Sie wurde ungeduldig, erzählt er, dann wütend, bis sie ihn irgendwann in die Magengrube schlug. Das genügte für eine Zwangseinweisung, als die Polizei schließlich eintraf. Kerstin blieb damals für 25 Tage in der Klinik, wurde entlassen – und kam zwei Wochen später wieder zurück.

„Ich war total überrumpelt und bin ausgerastet“, sagt Kerstin dazu. Nicht auf Lothar sei sie sauer gewesen, sondern auf die Klinik und die Zwangseinweisung. An diese Momente, wo sie „neben den Strümpfen steht“, wie sie sagt, erinnert sie sich nur vage. Manchmal sind ganze Szenen verschluckt, ausradiert aus ihrem Bewusstsein. Ihre Psychiaterin habe ihr erklärt, dass ihr Körper sich schütze, indem er manche Erinnerungen aus ihrem Kopf streiche, sagt Kerstin.

Schreiben als Brücke

Worüber ihr schwerfällt zu reden, schreibt sie auf. Nach der ersten Zwangseinweisung war es über die Jahre so viel, dass sie 2013 mit Lothars Hilfe sogar ein Buch veröffentlicht hat, unter Pseudonym. Auf dem Cover ist ein Selbstporträt von ihr zu sehen, das sie gemalt hat, die Augen leicht nach oben verdreht, wie auf den Fotos, die Lothar gezeigt hat. In dem Buch schreibt sie über den Drang, sich selbst zu verletzen, die Suizidversuche und Psychiatrieaufenthalte. Sie schreibt, dass ihr Vater sie, ihre Mutter und ihren Bruder demütigte und nur dann Gefühle zuließ, wenn er getrunken hatte. Dass ihre Mutter sie abgöttisch liebte, aber nicht oft zu Hause war und immer mehr verzweifelte, je kränker Kerstin wurde.

Ihre erste Psychose beschreibt sie so: „Ein grenzenloses Gefühl der Angst überkam mich und ich war dem hilflos ausgeliefert, mein Herz schlug immer schneller und schneller. Auf einmal verschaffte sich wieder meine dunkle Seite Zutritt in mein Denken, ich konnte noch nicht mal weinen, ich konnte sie nicht aufhalten noch abschalten. Es war eine Unterhaltung in meinem Kopf.“ Diese Dialoge hat Mersinger abdrucken lassen, sie schildert, wie der Germanengott ihr befahl, literweise Milch zu trinken oder nach England zu reisen, um eine geheime Mission zu erfüllen. Das Protokoll eines immer wiederkehrenden Wahns.

„Mein Alarm ist mittlerweile permanent an“, sagt Lothar heute. „Wir telefonieren morgens und mittags, wenn ich bei der Arbeit bin, ich achte auf jede Stimmungsschwankung, ich versuche aufzupassen. Damit ich es beim nächsten Mal früher merke.“

Die Zahl der Behandlungsfälle in den psychiatrischen Kliniken hat sich nach Angaben des Statistischen Bundesamts im Vergleich zu 1990 verdoppelt – die Coronapandemie ausgenommen, in der viele Menschen die Krankenhäuser aus Angst vor einer Infektion mieden. Das gilt ebenso für die Zahl der Zwangseinweisungen in den letzten 25 Jahren.

Gleichzeitig werden Betten reduziert und die Verweildauer sinkt: Statt 70 Tage, wie noch 1990, bleiben die Patienten und Patientinnen nur noch rund 24 Tage auf Station. Eine Studie von 2006 zeigte, dass in diesem Zuge die Wiederaufnahmerate stieg. Anders gesagt: Die Betroffenen bleiben kürzer in der geschlossenen Psychiatrie – und kommen dafür öfter.

„Dieser Drehtür-Effekt ist nicht nur schlecht“, sagt Psychiaterin Iris Hauth. „Kurze Aufenthalte sind gut, auch wenn die Patientinnen dann wiederkommen.“ Bei langen Aufenthalten in der Klinik gingen hingegen alltagspraktische Fähigkeiten verloren, Patientinnen und Patienten „regredierten“, fielen also entwicklungspsychologisch zurück.

„In der Klinik läuft die Uhr rückwärts“, sagt Kerstin. Bei jedem Aufenthalt habe sie versucht, so schnell wie möglich wieder entlassen zu werden, nahm an Programmpunkten und Therapieangeboten manchmal nur teil, um einen guten Eindruck zu hinterlassen. Trotzdem ist sie ihrem Mann dankbar, dass er sie in die Klinik gebracht hat. „Man sieht das in dem Moment nicht so“, sagt Kerstin, „aber die Zwangseinweisung war das Beste, was mir passieren konnte“.

Abseits der Klinik

Sylvia Claus, ärztliche Direktorin am Pfalzklinikum in Klingenmünster, ist davon überzeugt, dass sich Klinikaufenthalte ganz vermeiden lassen können. In ihrem Haus läuft seit 2020 das bundesweit größte Modellvorhaben zur Versorgung psychisch kranker Menschen. Teams aus Psychiaterinnen, Therapeuten, Sozialarbeiterinnen und Krankenschwestern kümmern sich um die Patientinnen und Patienten – je nach Behandlungsplan kommen sie abwechselnd zu ihnen nach Hause.

Zudem bemühen sie sich um die Koordination zwischen der Klinik und der ambulanten Versorgung zu Hause. Deutschlandweit gibt es mittlerweile 21 solcher Projekte. „Wir überbrücken damit Behandlungslücken in der ambulanten Versorgung“, sagt Claus. „Das Modell ist kein Allheilmittel – aber es erlaubt uns, nicht mehr zwingend im Krankenhaus behandeln zu müssen. Und wir haben einen Rückgang von Zwang und Gewalt.“

In Kerstin Mersingers Umgebung gibt es keine solchen Modellvorhaben und ihre Psychiaterin macht keine Hausbesuche. Mersinger muss in die Praxis kommen, wie an diesem Freitagmorgen, zur Psychosegruppe. Im Wartezimmer schaut sie auf eine Tafel, an die Sina Hohmann gerade in großen Buchstaben „Vulnerabilität“ schreibt. „Was heißt das?“, fragt Hohmann. „Dünnhäutig“, schlägt eine Frau aus der Gruppe vor. „Dass man alles ernst nimmt“, eine andere. Die Psychiaterin nickt. „Genau, Sie ziehen sich die Jacke immer sofort an.“ Mersinger notiert sich den Satz in wackeliger Schrift in dem Schnellhefter mit Papier, der auf ihrem Schoß liegt.

„Woher kommt denn die Vulnerabilität?“, fragt Hohmann weiter. Sie schreibt „Genetik > 90%“ an die Tafel, doppelt unterstrichen. Daneben, etwas kleiner: „biologische und psychosoziale Einflüsse“. Auf einem Arbeitsblatt kann Mersinger notieren, was sie selbst betrifft. Unter biologischen Einflüssen hat sie „Cannabis“ notiert, unter psychosozialen Einflüssen „Verlust vom Bruder“.

Weiter unten schreibt Hohmann „Stress“ und kringelt das Wort rot ein. „Was ist Stress?“ Kurz ist es still, dann sagt eine Frau leise: „Alles.“ Hohmann nickt, sie zieht einen Pfeil nach unten, schreibt „Psychose“. „Vulnerabilität plus Stress führt zur Psychose“, sagt sie. „Sie können aber vorher abbiegen. Das ist keine Autobahn.“

Sina Hohmann, die eigentlich anders heißt, betreut Kerstin Mersinger seit 2018. Auch sie erinnert sich gut an den vergangenen Sommer, als ihre Patientin alle zwei Tage zu ihr in die Praxis kam, sie beschimpfte und angriff. „In akuten Phasen muss die Patientin mir vertrauen und die Tabletten nehmen“, sagt sie später in ihrem Sprechzimmer. „Da hilft es, wenn sie vorher zur Psychoedukation bei mir war.“ Erst wenn die Ärztin keinen Zugang mehr zur Patientin habe, werde ein Klinikaufenthalt notwendig.

Dem Drehtür-Effekt, davon ist sie überzeugt, lasse sich vorbeugen, unter anderem durch eine engere Begleitung. „Ich bekomme einen Kontakt im Quartal bezahlt“, sagt Hohmann. „Aber ein Mensch mit schizoaffektiver Störung kommt mit einem Termin alle drei Monate nicht hin. Und ich bekomme es nicht mit, wenn sich eine Psychose ankündigt.“ Krankheitsbilder wie das von Mersinger erforderten eine komplexe Therapie – diese sei zwar erst einmal teuer, spare aber langfristig das Geld für stationäre Aufenthalte, sagt Hohmann.

Wenn die Psychose anklopft, „sind wir machtlos“

Eine Behandlung zu Hause, ein engmaschiges Versorgungsnetz außerhalb der Klinik – Lothar und Simone fänden das gut, aber vor allem wünschen sie sich, dass Kerstin sich wieder öfter vor die Tür traut. Bis auf die wenigen Termine pro Woche – Vater, AWO, Gruppe – ist Kerstin zu Hause.

Lothar erzählt, er habe ihr Karten für ein Konzert von David Garrett geschenkt, weil sie während der Psychosen gerne Geigenmusik höre. Aber jetzt, wo sie eine gute Phase habe, sei Garrett uninteressant. „Ich freue mich auf den Tag, wenn wir wieder rausfahren können, einen Spaziergang machen“, sagt er. „Das wünsche ich mir wirklich.“

Simone möchte eine regelmäßige professionelle Betreuung für Kerstin organisieren, solange diese stabil ist. Eine Ansprechperson von außerhalb, jemand, der sie und ihren Zustand im Blick hat und sie im Alltag begleiten kann. „Es wäre ein Anfang, wenn so jemand einmal die Woche käme und mit ihr spazieren geht“, sagt sie. „Denn sobald die Psychose anklingt, sind wir machtlos.“

Kerstin möchte nicht, dass jemand kommt und mit ihr geht – Lothar nicht und auch niemand anders. „Das ist nichts für mich“, sagt sie. „So, wie es jetzt ist, ist es gut.“

Ihre Freundin Simone, die hofft, dass ihre Freundin stabil bleibt, bis sie die Betreuung übernimmt, schaut sie von der Seite an. „Dann musst du jetzt aber noch ein paar Monate durchhalten“, sagt sie. Kerstin nickt. Hinter ihr stehen die Plastikfiguren aus den Überraschungseiern. Auf dem Wohnzimmertisch nebenan warten die Pinsel und Farbtuben auf ihren Einsatz. „Glaub mir, Simone, das hab ich vor“, sagt sie. „Und nicht nur ein paar Monate.“

Dieser bewegende Beitrag gewann der Autorin, aufgrund der gelungenen Darstellung eines so sensiblen Themas, den Medienpreis für Wissenschaftsjournalismus 2023 der DGPPN. Glückwunsch an Verfasserin Helena Weise!

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2022: Angstfreier leben
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