Wie Stress uns krank macht

Der Arzt und Psychologe Christian Schubert beschreibt den Einfluss der Psyche auf das Immunsystem – und warum frühe traumatische Erfahrungen die Immunabwehr schwächen

Herr Professor Schubert, auf dem Weg zu Ihnen hatte mein Flug Verspätung. Ich saß die ganze Zeit auf glühenden Kohlen, da ich Angst hatte, meinen Anschluss zu verpassen. Muss ich nun damit rechnen, einen Schnupfen zu bekommen?

Es kommt darauf an, wer Sie sind: Sind Sie beispielsweise ein ganz Korrekter, für den jede Abweichung äußerst schlimm ist? Oder sind Sie ein routinierter Zuspätkommer, fühlen Sie in dieser Situation also gar nicht so viel Stress? Es kommt auf die subjektive Bedeutung eines Stressors…

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Sie in dieser Situation also gar nicht so viel Stress? Es kommt auf die subjektive Bedeutung eines Stressors an, und die kann von Mensch zu Mensch ganz unterschiedlich sein. Sind Sie außerdem in einer Lebenssituation, in der sich solche Stressoren häufen? Dann laufen Sie wohl tatsächlich Gefahr, einen Infekt zu bekommen.

Immer mehr Studien zeigen, dass Stress zu einer höheren Krankheitsanfälligkeit führt.

Das stimmt. In einer Untersuchung hat man beispielsweise Menschen gefragt, wie stark sie sich gestresst fühlen. Dann wurden sie mit einem Erkältungsvirus infiziert. Dabei zeigte sich ein linearer Zusammenhang: Je mehr die Teilnehmer unter Stress standen, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass sie einen Schnupfen bekamen.

Wie erklärt sich dieser Zusammenhang?

Nervensystem und Immunsystem sind miteinander verflochten. Diese Vernetzung erfolgt auf mindestens zwei Wegen: Einerseits gibt es Nervenfasern, die vom Gehirn ausgehen und direkt an Immunzellen andocken. Diese Fasern nehmen über Synapsen mit den Immunzellen Kontakt auf. Aufgrund dieser neuroimmunologischen Verbindung hat alles, was Sie mit Ihrem Gehirn denken und fühlen, potenziell die Möglichkeit, im Immunsystem wirksam zu werden.

Zusätzlich gibt es Verbindungen, die über den Blutweg laufen. Bei Stress werden vom Hirn Botenstoffe ausgeschüttet. Über den Kreislauf geraten sie unter anderem an die Nebennierenrinde, die daraufhin Kortisol freisetzt. Kortisol hat viele Wirkungen im Organismus. Eine davon ist, dass es das Immunsystem in seiner Aktivität verändert: Das zelluläre Immunsystem wird gedrosselt – die Aktivität der natürlichen Killerzellen wird heruntergeschraubt, mit Viren infizierte Zellen werden nicht mehr abgetötet, Entzündungen werden gehemmt. Im Gegenzug wird ein anderes System hinaufreguliert, das für die Entstehung von Allergien verantwortlich ist. Wenn wir also unter Stress stehen und Kortisol freigesetzt wird, sind wir potenziell anfälliger für virale Erkrankungen, reagieren aber auch verstärkt allergisch.

Warum hat sich die Verbindung zwischen Stress und Immunsystem überhaupt entwickelt? Mal angenommen, mein Vorfahre sah sich plötzlich Auge in Auge mit einem hungrigen Löwen …

… dann reagierte sein Immunsystem zunächst damit, dass es die Entzündungsreaktionen hinaufregulierte. So bereitete sich die Immunabwehr auf eine mögliche Verletzung vor, denn Entzündungen sind eine Art Schutzschild gegen Verletzungen.

Das heißt, wenn er gebissen wurde, konnte sein Körper schnell reagieren?

Richtig. Das Problem an jeder Entzündung ist aber, dass sie längerfristig enorm gefährlich ist. Sie ist ein Abwehrvorgang, der uns auch schädigt. Hier kommt das Kortisol ins Spiel: Es ist der Gegenspieler, der das Immunsystem wieder herunterreguliert. Dieser Abfall kann dann, wie bereits angesprochen, zu einer erhöhten Infektanfälligkeit führen.

Verstehe ich Sie richtig, dass kurzfristiger Stress also auch positiv auf das Immunsystem wirken kann, langfristiger Stress dagegen schädlich ist?

So ist es.

Sie gehen noch weiter: Sie sagen, dass Stress in den ersten Lebensjahren das Immunsystem des Kindes nachhaltig schwächt. Wie das?

Im Zentrum steht wieder das Kortisol. Kortisol ist ein Hormon, das in den letzten Monaten der Schwangerschaft von der Mutter verstärkt ausgeschüttet wird. Dieser Mechanismus verhindert, dass das werdende Kind zu stark Entzündungen ausgesetzt wird. Denn Entzündungen im Mutterleib sind sehr gefährlich. Kortisol wirkt wie gesagt entzündungshemmend. Aber es unterdrückt gleichzeitig jenen Teil des Immunsystems, der sich zum Beispiel gegen eindringende Viren richtet. Babys sind daher auch noch nach der Geburt, im ersten Lebensjahr, anfälliger für Infekte. Dann, nach etwa einem Jahr, beginnt etwas, das wir stress hyporesponsive period nennen. Das ist ein Zustand, in dem das Kind nicht mehr so leicht durch Stressoren aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann. Es ist von einer Art virtueller Schutzhülle umgeben, die dafür sorgt, dass sein Kortisolsystem nicht mehr so stark auf Stress reagiert – das ist wichtig bei den vielen neuen Eindrücken und Einflüssen, denen das Kind in dieser Zeit ausgesetzt ist. Man vermutet, dass die Bindung des Kindes an die Eltern diese Schutzphase ermöglicht.

Und wie steht es bei einer schlechten Eltern-Kind-Bindung?

Wenn Kinder missbraucht oder vernachlässigt werden oder sich aus anderen Gründen keine sichere Bindung zu Vater und Mutter entwickeln kann, dann geht das zulasten dieser stressmindernden Schutzphase. Langfristig könnte das zu einem schlecht arbeitenden Immunsystem führen.

Was sind mögliche Folgen im späteren Leben?

Daten der amerikanischen ACE-Studie zufolge – das Kürzel steht für adverse childhood experiences – leiden traumatisierte Kinder später als Erwachsene doppelt so häufig unter Autoimmunerkrankungen. Dieser Zusammenhang kommt zu einem gewissen Teil über Verhaltensgewohnheiten zustande: Die Betroffenen nehmen im Schnitt zum Beispiel öfter Drogen oder rauchen.

Es gibt aber auch einen biologischen Zusammenhang: Kinder mit einer gering ausgeprägten stress hyporesponsive period sind chronisch gestresst; sie haben dauerhaft zu viel Kortisol im Blut. Sie bekommen dadurch häufiger Infektionen und leiden öfter unter Allergien oder Asthma.

Irgendwann danach kommt es zu einem Crash im Stresssystem: Die zuvor erhöhte Kortisolausschüttung wird nun dauerhaft vermindert. In der Folge werden Entzündungen nicht mehr unterdrückt, sondern der Organismus gerät in einen dauerhaften Entzündungszustand. Das ebnet den Weg für schwere chronische Leiden, etwa für Autoimmunerkrankungen wie Diabetes vom Typ I, für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber auch für Krebs.

Dass Stress in Zusammenhang mit Krebserkrankungen steht, ist aber umstritten. Zum Beispiel kommt eine Metastudie aus dem Jahr 2013 mit 116 00 europäischen Männern und Frauen zu einem anderen Ergebnis: Demnach bekommen Menschen, die einen stressigen Job haben, keineswegs häufiger einen Tumor als andere.

Ich würde hier den Stressor infrage stellen. Aus meiner Erfahrung heraus lässt sich Arbeitsstress noch am ehesten abfedern, zum Beispiel durch die Familie. Wichtiger sind die Beziehungen, die eine Person führt: die Partnerschaft, Freunde, das Verhältnis zu den Eltern. Dort würde ich die gefährlichen Stressoren vermuten. Und Studien, die dorthin geschaut haben, finden diese Verbindung in der Tat. Eine große Untersuchung aus Skandinavien kommt zum Beispiel zu dem Ergebnis, dass Eltern, die ihre Kinder verloren haben, ein erhöhtes Risiko tragen, an Krebs zu erkranken. Es ist aber richtig, dass die Datenlage, was die Entstehung von Krebs angeht, noch inkonsistent ist. Bei Erkrankten ist der Zusammenhang allerdings deutlicher: Menschen, die nach einer Krebstherapie Stress haben, tragen ein höheres Risiko, einen Rückfall zu erleiden.

Sie halten Gruppenstudien mit großen Stichproben für wenig aussagekräftig, weil sie nach Ihrer Einschätzung den individuellen Krankheitsverlauf zu wenig berücksichtigen. Stattdessen plädieren Sie für Einzelfallstudien. Sie selbst haben inzwischen zwölf Personen untersucht – drei Gesunde und neun mit unterschiedlichen Krankheiten. Was sind die Resultate?

Jede unserer Studien dauert ein bis zwei Monate. Die Teilnehmer sammeln in dieser Zeit 50 bis 100 Urinproben, und wir ermitteln darin den Spiegel von Kortisol und Neopterin, einem Immunmarker. Außerdem befragen wir die Teilnehmer nach ihrem Tagesablauf und vor allem nach besonders belastenden oder auch positiven Erfahrungen.

Einer unserer wesentlichen Befunde ist: Wenn ein Patient – zum Beispiel jemand mit der Autoimmunkrankheit Lupus erythematodes – gestresst ist, steigt der Kortisolspiegel bei ihm zunächst an und fällt dann ab. Bei gesunden Personen ist es genau umgekehrt. Kortisol ist ein körpereigenes Medikament; es unterdrückt Entzündungen. Bei Patienten mit Autoimmunerkrankungen sorgt Stress dafür, dass Kortisol langfristig fehlt. Dadurch kann die Entzündung dann erst richtig aufflammen.

Wie verallgemeinerbar sind die Ergebnisse derartiger Studien?

Wir konnten an unseren Probanden diese Zyklen recht konsistent identifizieren. Allerdings braucht es sicherlich noch eine Menge solcher Analysen.

Sie fordern seit Jahren vehement, dass Ergebnisse aus der Psychoneuroimmunologie bei Therapien berücksichtigt werden, dass Patienten also ganzheitlicher behandelt werden sollten. Wie könnte das konkret aussehen?

Wir müssen zum Beispiel an der Arzt-Patient-Beziehung ansetzen. Die mechanisierte Medizin lässt heute gar keine Beziehung zu. Krebskranke werden zur Kontrolluntersuchung einbestellt, wo man sich gerade einmal vier Minuten Zeit für sie nimmt. Auf diese Weise können Nachkontrollen die Patienten sogar schädigen – allein aufgrund des unglaublichen Stresses, den sie durchmachen. Wir haben eine völlig verdrehte Medizin, die eigentlich helfen will, aber durch die Art und Weise, wie sie mit den Menschen umgeht, das Gegenteil erreicht.

Müssten Mediziner also verstärkt zu Psychotherapeuten werden?

Vielleicht ist diese Trennung sowieso artifiziell. Vielleicht wird es irgendwann ein Gesamtstudium geben, in dem Menschen, die sich für den Menschen interessieren, eine menschliche Medizin erlernen.

Kommt das nicht unglaublich teuer, wenn ein Arzt sich viel länger Zeit für seine Patienten nehmen muss?

Wenn wir uns vor Augen führen, wie viel Geld momentan in eine höchst ineffiziente Medizin gepumpt wird, dann bin ich offen für jede Form der Veränderung. Wenn wir auf Nachhaltigkeit aus sind, mag uns das am Anfang mehr kosten. Langfristig sparen wir aber, weil die Patienten weniger oft erkranken. Und vor allem: weil sie autonomer werden. Sie brauchen den Arzt nicht mehr so oft.

Misstrauen Sie generell der biomedizinischen Forschung?

Ja! Ich kritisiere an diesen Ansätzen, dass sie nur isolierte Aspekte des Lebens betrachten. Man würde mit dem gleichen Geld mit anderen Methoden, die den Menschen stärker in seinem Lebenskontext berücksichtigen, viel mehr bewirken können. Wenn wir uns heute einen Schwarz-Weiß-Film aus den 1930er Jahren ansehen, denken wir oft: Mein Gott, ist das antiquiert! Irgendwann in der Zukunft wird man darüber lachen, wenn man alte Filmaufnahmen von Biochemikern im Labor sieht, die ihre Reagenzgläser schütteln und sagen: Hier erforschen wir das Leben.

Wie sehen Sie sich? Als Psychologe? Als Mediziner? Als Immunologe?

Ich fühle mich primär als Psychotherapeut. Denn ich merke, dass ich als psychotherapeutischer Arzt auch bei körperlichen Beschwerden etwas Heilsames bewirken kann.

Wie gehen Sie vor, wenn ein Patient mit langandauernden körperlichen Beschwerden zu Ihnen kommt?

Ich behandle meine Patienten mit einer tiefenpsychologischen Psychotherapie. Und das hat auch Erfolge. Ich habe zum Beispiel einen Morbus-Crohn-Patienten, der mit mir seit Jahren psychotherapeutisch arbeitet. In dieser Zeit sind keine Krankheitsschübe mehr aufgetreten. Ich arbeite mit ihm daran, seine Aggressionen und seine Wut nicht mehr gegen sich zu wenden. Ich vermute, dass das kausal mit der Verbesserung zusammenhängt.

Über den Zwischenschritt: Er hat dadurch weniger Stress?

Wenn wir mechanistisch argumentieren: ja. Er hat weniger Stress, und zwar einen ganz bestimmten, für ihn fürchterlichen Stress. Er weiß von diesem Stress, diesem unbewussten Konflikt vielleicht gar nichts. Sie müssen ihn mit ihm gemeinsam erst bewusstmachen. Ich vermute, dass Autoimmunpatienten Ärger und Wut nicht richtig wahrnehmen. Das heißt, sie können das, was normale Menschen erleben, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen, nicht spüren. Es ist also nicht so, dass sie Wut fühlen, diese aber nicht ausdrücken. Sie spüren diese Gefühle gar nicht. Ich könnte mir aber vorstellen, dass die Wut sehr wohl existiert, nämlich in Form einer Immunreaktion. Sie richtet sich gegen den Körper. Autoimmunerkrankungen sind meiner Vermutung nach also Autoaggressionserkrankungen.

Was empfehlen Sie aus Sicht der Psychoneuroimmunologie, wenn wir gesund bleiben wollen?

Vor allem, dass wir viel mehr als bislang die psychischen und sozialen Aspekte unseres Lebens im Auge behalten sollten. Maligne Beziehungsstrukturen sind der Krankheitsfaktor schlechthin. Wer chronische Beziehungskonflikte hat, sollte professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Wir rennen doch sonst auch bei jedem kleinen Wehwehchen sofort zum Arzt.

Professor Christian Schubert ist Arzt, Psychologe und Psychotherapeut. Er leitet das Labor für Psychoneuroimmunologie an der Medizinischen Universität Innsbruck und die Arbeitsgruppe Psychoneuroimmunologie des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin. Sein jüngstes Buch Was uns krank macht – was uns heilt ist im Verlag Fischer & Gann erschienen.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2017: Schon in Ordnung