Voller Feuereifer – ohne Lebensmut

Bei keiner anderen Erkrankung ist die Suizidrate so hoch wie bei einer Bipolaren Störung. Trotzdem wird sie oft verkannt. Eine persönliche Spurensuche

Die Illustration zeigt eine Frau als Schmetterling, mit zwei Flügelseiten, die eine Seite weint, die andere ist fröhlich
© Joni Majer für Psychologie Heute

Meine Freundin Sarah (Name geändert) und ich kannten uns schon als Jugendliche. Wir wuchsen auf dem Land auf und besuchten dieselbe Schule. Das Besondere an ihr war ihre auffällig gute Laune. Dass sie sich mit Anfang 40 ihr Leben nehmen würde, war nicht absehbar. Oder doch? In der Rückschau lassen sich Momentaufnahmen wie ein Puzzle zusammensetzen, das ihren Krankheitsverlauf skizziert. Jedes Puzzleteil enthält Hinweise auf diese Erkrankung. Bei Sarah wurde sie leider zu spät erkannt. Aber warum?

Um…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

sie leider zu spät erkannt. Aber warum?

Um Antworten zu finden, wende ich mich an Professor Christian Simhandl von der Sigmund-Freud-PrivatUniversität in Wien. Der Psychiater und Psychotherapeut ist Gründer der Österreichischen Gesellschaft für Bipolare Erkrankungen, leitet das Bipolar-Zentrum Wiener Neustadt und beschäftigt sich seit 40 Jahren mit der Diagnose und Behandlung dieser Störung. Nach Durchsicht meiner Notizen bestätigt er meine Vermutung, dass Sarah aller Voraussicht nach manisch-depressiv war, wie die bipolare Störung auch heißt.

So wie ich, sagt er, würden viele Angehörige, die einen nahestehenden Menschen durch Suizid verloren haben, sich fragen, warum sie Zusammenhänge nicht schon früher bemerkt haben: „Wir alle sind erst im Nachhinein gescheiter. Bei bipolaren Störungen ist das leider entsetzlich wahr.“

Dann erzählt er von Platon und Aristoteles, die bereits vor über 2000 Jahren über „melancholische Zustände“ berichteten, und unserer Gesellschaft, die bis heute nicht ausreichend über die Erkrankung aufgeklärt sei, weil typische Anzeichen landläufig als Launen, Anwandlungen oder Kapriolen bagatellisiert werden. „Oft heißt es: Der führt sich immer so auf, ist streitsüchtig und verprasst sein Geld. Oder: Die zieht sich im Frühjahr und Herbst immer zurück. Warum sich jemand so verhält, wird kaum hinterfragt“, so der Experte.

Meist haben nicht einmal die Betroffenen selbst eine Ahnung, was in ihnen vor sich geht. Gerade noch leichtlebig und beschwingt, fühlen sie sich plötzlich erschlagen von ihrer schwermütigen Gedankenwelt. Umso wichtiger ist es, solche Wechselbäder der Gefühle ernst zu nehmen und abklären zu lassen. Bis zur Krankheitsbestimmung können laut Simhandl 10 bis 15 Jahre vergehen. 60 Prozent aller Fälle werden falsch diagnostiziert, weil Erkrankte oft nur über die depressiven Symptome klagen.

Erst ruhelos, dann antriebslos

Bipolare Störungen zählen zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen in Mitteleuropa. Drei bis fünf Prozent der Bevölkerung sind betroffen – Frauen und Männer zu gleichen Teilen. Das auffälligste Merkmal sind extreme Gefühlsschwankungen, die abwechselnd für ein Stimmungshoch (Manie) und ein Stimmungstief (Depression) sorgen. Doch nicht jede Laune ist eine Manie und nicht jede Betrübtheit eine Depression. Als manisch gilt jemand erst, wenn er oder sie länger als eine Woche gereizt, überaktiv und ruhelos ist, wenig schläft und deshalb im Alltag beeinträchtigt ist.

Eine bipolare Depression wiederum ist naheliegend, wenn jemand sich mindestens zwei Wochen lang bedrückt und antriebslos fühlt und sich unter anderem mit Selbstvorwürfen, Schuldgefühlen oder gar Todesgedanken plagt. Meist halten diese Episoden monatelang an, sie können aber binnen eines Jahres auch öfter auftreten und schnell wechseln. Dann kippt die Stimmung oft innerhalb von Stunden von einem Extrem ins andere.

Die Erkrankung bricht meist nach Stresssituationen aus, wie etwa einem Schul- oder Wohnortwechsel, nach einer Trennung, wenn jemand den Arbeitsplatz verliert oder nach einem Todesfall. Solche Ereignisse stellen für die Betroffenen höchst verletzliche Momente im Leben dar. Für gewöhnlich zeigen sich erste Anzeichen zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr. Bei einem Viertel aller Betroffenen machen sie sich schon im Grundschulalter bemerkbar – durch Hyperaktivität.

ADHS und familiäre Disposition

„Für den Schweizer Psychiater Jules Angst ist diese sogar das zentrale Moment in der Feststellung der Störung. Ihm zufolge werden 50 Prozent aller ADHS-Kinder bipolar“, sagt Simhandl. In der Pubertät zögen sich manche Jugendliche zurück, andere seien extrem enthusiastisch und neigten zu verstärktem Kontaktbedürfnis und leichtsinnigem Verhalten.

Sarah war als Teenager nicht zu bremsen. Beim Ausgehen quatschte sie im Tanzlokal hemmungslos Leute an, erst zur Sperrstunde tauchte sie wieder auf. Während ich mich nach dem Bett sehnte und nach Hause fuhr, saß sie aufgedreht im Taxi in die nächste Disco. Ihren Heimweg trat sie erst zur Frühstückszeit an, meist per Anhalter. Eines Tages stand auf ihrem Schul-Federmäppchen das Goethe-Zitat: „Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt.“

Leider werden solche Eigenheiten vom Umfeld oft nicht als Alarmzeichen verstanden. Gerade in Familien mit einer Veranlagung für eine bipolare Störung gilt Obacht: Bei Kindern mit einem manisch-depressiven Elternteil ist das Erkrankungsrisiko um bis zu 20 Prozent erhöht. Daher rät Simhandl Eltern, Auffälligkeiten bei Kindern dringend abklären zu lassen: „Erste Hochs und Tiefs gehen vorüber, kehren aber im Laufe des Lebens wieder.“

Als Sarah und ich als Studentinnen in die Großstadt zogen und eine WG gründeten, erwähnte sie einmal, dass ihre Mutter manisch-depressiv sei und dass sie keinesfalls so werden wolle wie sie. Danach verlor sie nie wieder ein Wort darüber.

Gefährliche Selbsttherapie

Um den Leidensdruck zu mindern, versuchen Betroffene bereits in der Jugend, ihre intensiven Gefühle mit Alkohol, Medikamenten und diversen Substanzen in den Griff zu bekommen. „Manche drosseln ihre rasenden Gedanken in der Manie mit Cannabis. Andere greifen zu Kokain oder Ecstasy, um der Depression entgegenzusteuern“, erklärt Simhandl.

Doch diese Selbsttherapie ist ein Teufelskreis: „Rauschmittel, aber auch Arzneimittel wie Antidepressiva, die oft falsch verschrieben werden, heizen die wechselnde Stimmung weiter an und tragen dazu bei, dass Betroffene in die Sucht schlittern. Untersuchungen von Drogenentzugskliniken zeigen: 60 bis 70 Prozent aller Abhängigen sind bipolar.“

Oft bekam ich Sarah tagelang nicht zu Gesicht. Ging ich abends schlafen, war sie noch auf Achse. Brach ich vormittags zur Uni auf, war sie bereits aus dem Haus. Ihr Zimmer sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. „Um runterzukommen“ rauchte sie immer öfter Marihuana.

Die Nacht zum Tag

Wirklich hilfreich ist für die Erkrankten ein ruhiger Lebensstil und ein geregelter Wach-Schlaf-Rhythmus. Bipolare Störungen sind eine Art Gehirnstoffwechselerkrankung, bei der der Neurotransmitterhaushalt aus dem Gleichgewicht gerät. Der Taktgeber für das Tag-Nacht-Hormon Melatonin ist das Sonnenlicht. Dem Hormon untergeordnet sind die Botenstoffe Serotonin, Dopamin und Noradrenalin. Während einer Manie liegt eine erhöhte Konzentration von Dopamin und Noradrenalin vor, in der Depression ein Mangel an Serotonin und Noradrenalin. Deshalb sollten Bipolare besonders auf einen strukturierten Alltag achten.

Ein geregeltes Leben war Sarah zuwider. Sie liebte es, die Nacht zum Tag zu machen und den Winter zum Sommer. Immer wieder zog es sie für mehrere Wochen auf andere Kontinente, um Sonne zu tanken. Oft übernachtete sie dort bei Fremden oder am Strand. Eine Zeitlang lebte sie in Südafrika. Als eine Partnerschaft dort in die Brüche ging, übernahm sie eine Leitungsfunktion bei einem Sportwetten-Start-up und ging abends Salsa tanzen, auch werktags. Dass sie danach zur Arbeit musste, machte ihr nichts. Sie hatte Energie ohne Ende.

„Fernreisen, die einen Jetlag verursachen, wirbeln noch mehr durcheinander“, sagt der Psychiater Simhandl. Aber auch von beruflichen Nachtschichten rät er ab. Dass seinen Beobachtungen nach auffällig viele Ärztinnen und Ärzte, Pflegepersonal, Pädagoginnen und Pädagogen oder auch Seelsorgende und ehrenamtlich Engagierte bipolar erkrankt sind, sei kein Zufall: „Manisch-Depressive kompensieren ihr geringes Selbstwertgefühl, das vor allem in der Depression problematisch ist, häufig durch Hingabe an ihre Nächsten und bleiben sich selbst von Tag zu Tag mehr schuldig. In der Manie sprühen sie vor Feuereifer und verausgaben sich oft bis zum Burnout, das sie dann auf ihre viele Arbeit zurückführen.“

Hochleistung und Konkurs

Auch in kreativ-künstlerischen Berufen sind sie oft vertreten: Der Musiker Sting, der Schauspieler Mel Gibson, die Darstellerin Catherine Zeta-Jones oder die Sängerin Mariah Carey – sie alle sind bipolar und nutzen ihre Bühnen, um darüber zu reden. Aber trägt dies nicht zu einer Glamourisierung der Störung bei? „Nein, bloß zu ihrer Enttabuisierung“, sagt Simhandl und verweist auf den Gründer des US-Nachrichtensenders CNN, Ted Turner. Sein Outing habe bewirkt, dass nun auch andere betroffene Unternehmerinnen und Unternehmer professionelle Hilfe annehmen.

Simhandl selbst behandelt in seiner Praxis zahlreiche Geschäftsleute, die sich vor Ideen überschlagen, bevor sie in der Depression an der Umsetzung ihrer Pläne scheitern und Konkurs anmelden. Um selbstschädigenden Exzessen vorzubeugen, lehrt er sie, ihren Einfallsreichtum zu kanalisieren.

Empfänglich dafür sind Betroffene aber nur im sogenannten freien Intervall, der beschwerdefreien Phase nach beziehungsweise zwischen einer Manie und einer Depression. In dieser Zeitspanne ist es Erkrankten möglich zu lernen, wie zum Beispiel Atem- und Entspannungsübungen, körperliche Bewegung, das Führen eines Stimmungskalenders und der Austausch in Selbsthilfegruppen helfen können.

Zudem vergegenwärtigt Simhandl seinen Patientinnen und Patienten ihren Wert für die Gesellschaft, der seiner Ansicht nach oft unterschätzt wird: „Menschen mit bipolaren Störungen können in der Manie schneller denken und reden. Außerdem sind sie produktiver und imstande, Höchstleistungen zu erbringen“, sagt er. Den alten Griechen seien diese Ressourcen bewusst gewesen, heute sehe man nur die pathologische Seite. Mehr Toleranz sei ratsam, denn wir verdankten diesen Persönlichkeiten so einiges. „Wären Michelangelo, Robert Schumann, Ernest Hemingway oder Virginia Woolf nicht bipolar gewesen, gäbe es viele Meisterwerke nicht.“

Vom Salz in der Suppe

Aber wird der Schaffensrausch nicht durch die Medikamentengabe beeinträchtigt? Nein, versichert er und verweist auf Lithium, „den Stimmungsstabilisator schlechthin“. Die Salze werden seit 70 Jahren zur Behandlung bipolarer Störungen verwendet. Sie bewähren sich bei akuten Manien, schützen vor Rückfällen und senken suizidales Verhalten auf ein Minimum. Voraussetzung ist jedoch, dass Lithium durchgehend eingenommen und die Dosierung fachärztlich überwacht wird.

Zwar könne das Präparat keine Lebensprobleme lösen, sagt Simhandl, doch es unterstütze Erkrankte bei der Bewältigung ihres Alltags enorm: „80 Prozent profitieren davon, 40 Prozent sind damit sogar ohne Symptome.“ Doch gänzlich unumstritten ist das Therapeutikum nicht. Einige Betroffene kritisieren, dass sie sich wie in Watte gepackt fühlten, das „Salz in der Suppe“ fehle. „Dieser Eindruck entsteht, weil sich die Emotionen auf einem gesunden Mittelmaß einpendeln“, erklärt der Wiener Psychiater. Das sei ungewohnt, weshalb manche das Medikament absetzten. „Doch die meisten kommen wieder darauf zurück. Stabilisiert sich das Leben, wird die Dosis reduziert.“

In der Depression haben sich auch Lichttherapielampen mit einer Stärke von 10000 Lux bewährt. Das Licht wirkt über die Netzhaut des Auges auf den Hypothalamus, der die Produktion von Melatonin und Serotonin anregt. Schon nach zweiwöchiger Anwendung normalisierten sich Schlaf und Stimmung.

Was soll denn schon passieren?

Sarah saß ihre depressiven Episoden aus. Medikamente und Psychotherapie lehnte sie ab, weil sie ihr „Tief“ aus eigener Kraft überwinden wollte. Nach einem sexuellen Übergriff war sie so am Boden, dass sie monatelang nicht vom Sofa kam und ihre Arbeit verlor. Nicht einmal die Sonne, die sie so liebte, machte sie mehr froh. Eines Tages, wir hatten uns 15 Jahre lang nicht mehr gesehen, kontaktierte sie mich aus heiterem Himmel.

Ihre Einstiegsfrage lautete: „Und: Welche Höhen und Tiefen hast du so erlebt?“ Als ich ihr vom Suizid meiner Tante erzählte, wollte sie Details wissen. Bei einem weiteren Treffen einige Monate später war sie aufgekratzt wie immer und erzählte mir von Typen, mit denen sie sich auf einem Festival irgendein Zeug eingeworfen hatte. Als ich mir Sorgen machte, lachte sie: „Was soll denn schon passieren?“

Der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen zufolge begeben sich lediglich 10 bis 15 Prozent der bipolar Erkrankten in Behandlung. Im Kontrast dazu: Eine von fünf Personen nimmt sich das Leben, jede vierte versucht es. Besonders hoch ist das Selbsttötungsrisiko in der Phase, wenn die Erkrankung entsteht. Eine sehr gefährliche Zeit ist aber auch der Mischzustand, wenn der Antrieb vorhanden, aber die Stimmung noch gedrückt ist.

„Die Betroffenen bringen keinen Gedankengang mehr zu Ende. Sie reden sprunghaft, leiden manchmal auch unter Halluzinationen und Verfolgungswahn und agieren nicht nachvollziehbar“, sagt Simhandl. Erst zögen sie sich zurück, dann wieder ordneten sie eigene Angelegenheiten und wirkten kommunikativ und erleichtert. „Dieser Eindruck entsteht, weil zu diesem Zeitpunkt meist bereits die Entscheidung zum Suizid gefallen ist.“

Bei Sarah kam alles zusammen. Während der Coronalockdowns verlor sie ihre sozialen Kontakte und ihre beiden Jobs. Sie war nicht mehr erreichbar. Im Herbst 2021 meldete sie sich plötzlich bei alten Bekannten wieder, um längst Verjährtes zu bereinigen. Sie erzählte von einer neuen Arbeit und einer neuen Wohnung und fragte eine Freundin, ob diese jemanden zum Reden wisse. Die meisten interpretierten Sarahs Kontaktaufnahme als positives Zeichen, als Schritt zurück ins Leben. Wenig später sprang sie in den Tod.

Brauchen Sie Hilfe? 

Kreisen Ihre Gedanken um Suizid? Sprechen Sie mit jemandem darüber: Die Telefonseelsorge bietet eine anonyme Beratung, telefonisch, online oder persönlich. Sie erreichen sie unter den kostenlosen Telefonnummern 0800/1110111 und 0800/1110222 sowie online unter telefonseelsorge.de

Zum Weiterlesen

Rosa Geislinger, Heinz Grunze: Bipolare Störungen (manisch-depressive Erkrankungen). Ratgeber für Betroffene und Angehörige. Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen e.V./BoD, Norderstedt 2005 (2., überarbeitete Auflage)

Kay Redfield Jamison: Meine ruhelose Seele. Die Geschichte einer bipolaren Störung. Mvg, München 2014

Donna Reynolds: Der bipolare Spagat. Manisch-depressive Menschen verstehen. Trias, Stuttgart 2021

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2022: Das Tempo der Liebe