Gedanken auf Abwegen

Gegen Schizophrenie und andere schwere Psychosen helfen nur Medikamente: Diese Lehrmeinung hält sich hartnäckig, obwohl sie längst widerlegt ist.

Die Illustration zeigt einem Mann, der niederkauert mit den Händen am Kopf und der sich in einem Gedankenstrudel befindet
Psychosen können entstehen, wenn die Reize von außen nicht mehr gefiltert werden können. © Patric sandri

Christian Heberer ist oft misstrauisch. Neulich kam sein Brief, mit dem er sich für ein Seminar an der Hochschule anmelden wollte, einfach wieder zurück mit dem knappen Vermerk: Bitte Formblatt verwenden. Doch Heberer war verunsichert: Jemand wollte offensichtlich verhindern, dass er dieses bestimmte Seminar besucht, das ihm wichtig war. Ihm war klar: eine Verzögerungstaktik, bei der er nicht wusste, wer dahintersteckt. Auch Geheimdienste wie die CIA und der MI5 machen dem 46-Jährigen Angst. Gruppen, bei…

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bei denen man nicht weiß, welches durchtriebene Spiel sie spielen. Christian Heberer fragt sich oft, ob nicht einer seiner Bekannten heimlich für einen Nachrichtendienst arbeitet und auf ihn angesetzt wurde – eine für ihn furchtbare Vorstellung. Andererseits hat Heberer Zweifel, ob es Geheimdienste überhaupt gibt. „Vielleicht“, so seine Überlegung, „werden manche Dinge nur erfunden, um den Menschen Angst zu machen.“

Christian Heberer ist ein intelligenter Mann, er ist nicht naiv, aber er leidet hin und wieder unter Verfolgungswahn. Wahn ist das häufigste Symptom einer psychotischen Störung. Manche Betroffene glauben, vom Geheimdienst abgehört und verfolgt zu werden. Menschen mit einem Liebeswahn erleben mitunter ein großes Beziehungsdrama, ohne dass der vermeintliche Liebespartner überhaupt etwas davon mitbekommt. Eine zufällige Geste oder ein kurzer Blick, sogar eine öffentliche Werbetafel kann für sie zu einer geheimen Liebesbotschaft werden. Andere halten sich für das geheime uneheliche Kind einer berühmten Persönlichkeit oder sogar für Jesus – Größenwahn lautet dann die Diagnose. Familie und Freunde stehen dem hilflos gegenüber, denn alles gute Zureden, sämtliche Appelle an die Vernunft scheinen die Wahnidee nur zu verfestigen. Betroffene kommen auf geradezu wahnwitzige Ideen, um ihr Weltbild aufrechtzuerhalten.

Negatives Bild von sich selbst

Nachdem Christian Heberer den besagten verdächtigen Brief erhalten hatte, machte er sich auf den Weg zum Immatrikulationsbüro der Hochschule und stellte die Leiterin zur Rede. „Die Frau hat mir gleich den Wind aus dem Segel genommen“, erzählt er. Sie verwies auf den hohen Verwaltungsaufwand bei tausenden sich einschreibender Studenten und darauf, dass bis zur Verlosung der Seminarplätze noch viel Zeit sei. „So einfach war das“, Heberer muss lachen. Aber er erinnert sich an andere Zeiten, als sein Verfolgungswahn schlimmer war. „Die große Paranoia. Wenn Sie da drinstecken, dann können Sie mit niemandem darüber sprechen. Dann können Sie gar nichts anderes denken. Dann müssen Sie einfach glauben, dass die Verwaltungsfrau Sie anlügt, dass alle Seminarplätze in Wirklichkeit bereits vergeben sind.“

Als Erklärung, wie eine Schizophrenie entsteht, hat sich das „Vulnerabilitäts-Stress-Modell“ durchgesetzt. Danach können Menschen, die genetisch oder epigenetisch bedingt besonders verletzlich sind, durch ein schweres Ereignis in ihrem Leben oder durch eine ständige hohe Belastung krank werden. Die Vorstellung: Die Informationsverarbeitung gerät an ihre Grenzen und „knallt durch“. Die Reize von außen können nicht mehr gefiltert werden, eigentlich unbedeutende Ereignisse scheinen plötzlich sehr wichtig, die Menschen erleben Halluzinationen und entwickeln Wahnvorstellungen.

Wirklich erklären lassen sich die „verrückten“ Ideen dadurch aber nicht. Neuere Modelle der kognitiven Psychologie gehen noch von weiteren Faktoren für die Entstehung einer Psychose aus: gedankliche Verzerrungen, die zu Fehlinterpretationen führen. Denn psychotische Patienten neigen dazu, voreilige Schlussfolgerungen zu ziehen und die Schuld nur bei einer Sache oder einer Person zu sehen, obwohl ein Ereignis tatsächlich meist vielschichtige Gründe hat. Zudem haben sie häufig ein sehr negatives Bild von sich selbst.

Entsprechend verzerrt und negativ interpretieren sie die Ereignisse in ihrem Leben. Wer eine akustische Halluzination erlebt, kann sie beispielsweise auf Stress zurückführen („Ich bin völlig überarbeitet, kein Wunder, dass mein Körper verrückt spielt“). Oder er kann jemand anderem dafür die Schuld geben („Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu, jemand versucht mich zu manipulieren“).

Den Wahn nachvollziehen

An diesen gedanklichen Verzerrungen setzen neuere Therapien an. „Unter Psychiatern und Therapeuten herrschte lange das Vorurteil, dass sich der Wahn verstärken könnte, wenn man mit dem Patienten darüber spricht“, sagt die Psychologin Tania Lincoln von der Universität Hamburg. „Aber das Ansprechen von Wahn löst keine neuen psychotischen Episoden aus.“ Wichtig sei, dass der Therapeut sich ganz auf die Perspektive des Patienten einlasse: Was ist in seinem Leben passiert? Wann hat er das erste Mal die Wahnidee gehabt? „Wenn der Therapeut die Wahnüberzeugung dann nachvollziehen kann, stellt er fest, dass sie gar nicht so verrückt ist, wie sie zunächst schien, sondern durchaus logisch erklärbar“, sagt Lincoln.

Christian Heberer hat vor drei Jahren eine kognitive Verhaltenstherapie für Psychosen begonnen. Gemeinsam mit seiner Psychotherapeutin ist er in Gedanken noch einmal zwanzig Jahre zurückgegangen, um zu verstehen, was damals den ersten psychotischen Schub ausgelöst hat, welche Ereignisse zusammenkamen, die ihn überfordert haben. In jenem Sommer hatte Heberer gerade sein Studium hingeschmissen, noch immer keine Freundin und war viel zu viel allein. Ein Telefonat mit seinem Vater endete unglücklich und verstörte ihn. In seiner WG traf er Katharina, in die er sich sofort verliebte. Doch am nächsten Tag war sie schon wieder weg. Der junge Mann schlief tagelang nicht mehr, trank viel Wodka und geriet schließlich mit den Nachbarn aneinander, die ihn zur Polizei brachten.

„Mit einer akuten Psychose in der Klapse

Heberer kam in die Psychiatrie. Die Diagnose lautete: schizoaffektive Störung – „schizo“ für die psycho­tischen Anteile seiner Erkrankung, „affektiv“ für die heftigen Gefühlsschwankungen zwischen depressiven und manischen Phasen. Wie oft er seither in der Psychiatrie war, hat Heberer vergessen. Aber „wie schrecklich es ist, mit einer akuten Psychose in der Klapse zu sitzen, das vergisst man nicht“, fügt er hinzu.

Menschen mit einer paranoiden Schizophrenie sind häufig übermäßig stark mit ihren Wahnüberzeugungen beschäftigt und richten fast ihr gesamtes Verhalten danach aus. Doch viele Denkverzerrungen, die bei ihnen ins Krankhafte gesteigert sind, sind in harmloserer Form weit verbreitet. So halten wir alle gerne an unseren Überzeugungen fest. Wir nehmen stärker solche Informationen wahr, die unsere bestehenden Überzeugungen bestätigen, als solche, die ihnen widersprechen. „Man liest ja auch lieber eine Zeitung, die der eigenen politischen Einstellung entspricht“, gibt Lincoln zu bedenken.

Auslöser: Stress

Verfolgungsgedanken sind ebenfalls nicht so ungewöhnlich: „Im Experiment haben wir gesunde Menschen Baustellenlärm ausgesetzt. Der Stress löst auch bei ihnen paranoide Gedanken aus“, berichtet Lincoln. Sogar Halluzinationen haben viele Menschen schon einmal in der einen oder anderen Form erlebt. Diese normalisierende Sicht auf die Krankheit wird den Patienten nahegebracht: Sie sind nicht verrückt, sondern haben Ereignisse übertrieben interpretiert. Diese Perspektive macht es für sie leichter, die eigene Sichtweise infrage zu stellen.

Wie viele Menschen, die an einer Psychose leiden, nimmt Christian Heberer seit vielen Jahren Medikamente. Ein Neuroleptikum gegen die psychotischen Symptome, ein anderes Mittel, um seine Emotionen zu regulieren. Jedes Mal, wenn er die Psychopharmaka abgesetzt hatte, landete er wieder in der Psychiatrie. Vor drei Jahren hat er sich entschlossen, zusätzlich eine kognitive Verhaltenstherapie zu machen. „Die Psychotherapie habe ich als Chance gesehen, hier ging es zum ersten Mal um etwas Wichtiges, hier ging es wirklich um mich.“ Nie zuvor hatte er jemandem etwas von seinen Wahnideen erzählt. „Allein schon über meine Paranoia zu sprechen hat wirklich geholfen.“

Die Dinge mal anders deuten

Tatsächlich geht es in der kognitiven Verhaltenstherapie für Psychosen darum, die Wahninhalte nicht nur zu thematisieren, sondern auch vorsichtig infrage zu stellen. Therapeuten bewegen sich auf einem schmalen Grat zwischen Akzeptanz und Zweifel: „Es geht darum, die Wahninhalte weder zu bestätigen noch abzulehnen“, erklärt die Psychologin Lincoln. Entsprechend vorsichtig müsse man formulieren. Etwa „Ich kann verstehen, dass Sie gestresst sind, wenn Sie denken, dass Sie verfolgt werden“ statt einem bestätigenden: „Es ist eine große Belastung für Sie, dass sie verfolgt werden.“

Christian Heberer sagt, dass er schon vor der Therapie oft Zweifel an seinen paranoiden Bewertungen hatte. Doch zugleich schämte er sich, darüber zu sprechen. Und vielleicht wollte er auch an seinem Wahn festhalten: „Wenn ich jemandem davon erzählt hätte und es hätte sich herausgestellt, dass das alles nur in meinem Kopf ist, dann wäre ja die Blase geplatzt.“

Herausfinden, was belastet

Seine Therapeutin ließ ihn eine Tabelle erstellen, um auf diese Weise an den wahnhaften Überzeugungen zu rütteln: Was würde geschehen, wenn er an seinen Wahnvorstellungen festhält? Was, wenn er sie aufgibt? Was also, wenn Heberer nicht mehr annehmen würde, die Geheimdienste hätten es auf ihn abgesehen? Vielleicht wäre er in Gefahr, weil er nicht mehr aufpassen würde. Andererseits hätte er weniger Angst und könnte freier leben. Für beide Optionen notierte er alle Vorteile und alle Nachteile. Die Botschaft dabei: Es ist nicht wichtig, ob er wirklich verfolgt wird oder es sich nur einbildet. Wichtig ist, herauszufinden, was ihn belastet.

„Meine Therapeutin hat versucht, mir zu vermitteln, dass verschiedene Interpretationen einer Situation möglich sind. Und dass ich in der Regel die paranoide Variante wähle.“ Mit der Zeit lernte Heberer, immer dann, wenn wahnhafte Gedanken aufkamen, nach alternativen Erklärungen zu suchen, statt den spontanen paranoiden Gedanken nachzugeben.

Katastrophisierende Gedanken überwinden

In einem nächsten Schritt ging es darum, welchen Einfluss seine Gedanken auch auf seine Gefühle haben. „Wenn ich an schöne Sachen denke, habe ich auch ein gutes Gefühl. Das war eine wichtige Erkenntnis. Denn auf diese Weise kann ich meine Gefühle steuern.“ Heberer lernte, sich selbst zu beobachten und sich bewusstzumachen: Welche Gedanken löst ein Ereignis in ihm aus? Und wie fühlt er sich dabei? „Ich habe viel über Gefühle gelernt. Wie viele verschiedene Gefühle es überhaupt gibt, das war mir neu.“ Das Therapieziel dabei: katastrophisierende Gedanken zu überwinden, um besser mit schwierigen, belastenden Situationen umzugehen.

Auch nach vielen Therapiestunden hat Heberer bis heute seine Verfolgungsideen nicht ganz aufgegeben: „Ja, es ist Paranoiakram, aber andererseits gibt es Mobbing doch wirklich“, gibt Heberer zu bedenken. Seine eigenen, längst vergessenen Erfahrungen mit Mobbing sind während der Therapie wieder hochgekommen. Als Jugendlicher war er beim Fußball der Kleinste und der Jüngste. „Ich war der Fußabtreter der ganzen Mannschaft.“ Weiter ging es bei der Bundeswehr, bei den Panzergrenadieren. Irgendwie hat Heberer damals dichtgemacht. „Man kapselt sich ein und kriegt nicht mehr richtig mit, was draußen passiert.“ Eine Schutzfunktion, die er nicht mehr abstellen konnte. „Ich bin nicht so wach wie andere Leute, das ist ein Problem. Ich übersehe ganz viele Dinge.“

Mit C. G. Jung fing es an

Psychosen spielten in der Psychotherapie schon immer eine besondere Rolle. Einer der Ersten, die versuchten, psychotische Patienten zu behandeln, war C. G. Jung. Der Schweizer Psychiater interessierte sich für das Symbolhafte im psychotischen Erleben und die große Ähnlichkeit zum Traum. Freud hingegen ging davon aus, dass Psychosen unheilbar seien. Doch von dieser Vorstellung rückten ab den 1940er Jahren gerade in den USA viele Psychoanalytiker ab. Sie versuchten stattdessen, die Absichten und Ziele der Kranken nachzuvollziehen.

Unter den Pionieren waren etwa Harry Stack Sullivan oder Frieda Fromm-Reichmann, deren einfühlsame Behandlungsmethode in dem Buch Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen von Joanne Greenberg beschrieben wird, einer ehemaligen Patientin von Fromm-Reichmann. In Großbritannien legte Melanie Klein 1956 neue Grundlagen für die psychoanalytische Behandlung von Psychosen vor, die sie als eine Regression auf ein kindliches Niveau betrachtete. In Deutschland entwickelte unter anderem der Frankfurter Psychiater und Psychoanalytiker Stavros Mentzos das psychodynamische Krankheitskonzept weiter. Studien fanden in diesem Bereich jedoch kaum statt, die Wirksamkeit psychodynamischer Psychosetherapien wurde nicht wissenschaftlich nachgewiesen.

Standardbehandlung mit Neuroleptika

Mit der Entdeckung der Neuroleptika Ende der 1950er Jahre schien plötzlich eine Methode gefunden worden zu sein, die eine schnelle und effektive Hilfe bei akuten Psychosen versprach. Die Forschung verlagerte sich auf die Pharmakologie, Psychosen gerieten aus dem Blickfeld der Psychotherapie. Inzwischen sind Neuroleptika zur Standardbehandlung geworden, doch auch ihre vielen Nachteile wurden offenkundig. Dazu gehören die teilweise erheblichen Nebenwirkungen. Viele Patienten sind nicht bereit, ihr Leben lang Tabletten zu nehmen. In der großangelegten CATIE-Studie in den USA beendeten mindestens zwei Drittel der Patienten vorzeitig die auf 18 Monate angelegte Behandlung mit Psychopharmaka. Und das vorzeitige Absetzen der Neuroleptika führt oft zu Rückfällen.

Mitte der 1990er Jahre wurden daher Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie speziell für Psychosen entwickelt – zunächst vor allem in Großbritannien, inzwischen auch in Deutschland.

Eine Methode ist das metakognitive Training, das am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf entstanden ist. Dabei wird in Gruppen das „Denken über das eigene Denken“ geübt. Patienten bekommen spielerische Aufgaben am Computer gestellt, die eher an ein Quiz erinnern. Auf einem Bild sehen sie zwei Striche, dazu die Frage: „Was könnte hier dargestellt sein? Ein Gesicht, ein Schaukelstuhl, ein Elefant?“ Mit jedem darauffolgenden Bild kommen weitere Striche dazu, und der Gegenstand nimmt langsam Form an. Erste Interpretationen müssen korrigiert werden.

„Doch die Patienten halten häufig trotz gegenteiliger Erkenntnisse an ihrer ersten Überzeugung fest“, sagt der Tübinger Psychologe Klaus Hesse. Mit den Aufgaben trainieren sie, flexibler in ihrer Bewertung zu werden.

Klarer denken – besser fühlen

An der Universitätsklinik Tübingen wird das metakognitive Gruppentraining durch acht Einzelstunden und Sitzungen mit Familienangehörigen ergänzt. Neben der kognitiven müsse auch die emotionale Verarbeitung in den Blick genommen werden, ebenso der Selbstwert, meint Hesse: „Es hilft nichts, jemanden von seinem Wahn abzubringen, wenn wir ihm nicht helfen, sich positiv zu fühlen und ein positives Selbstbild aufzubauen. Wir müssen ein alternatives Leben aufzeigen, jenseits der Krankheit.“ In Hamburg setzt Tania Lincoln deswegen in ihrer psychotherapeutischen Hochschulambulanz von vornherein auf die individualisierte kognitive Verhaltenstherapie als Einzeltherapie, die die Lebensgeschichte des Patienten miteinbezieht und auf die ganz persönlichen Wahnüberzeugungen eingeht.

Seit 2015 können auch die niedergelassenen Psychotherapeuten uneingeschränkt eine Therapie bei Psychosen über die Krankenkasse abrechnen. Dennoch bleibt sie weiterhin die Ausnahme. „Bei einem fairen Mix der verschiedenen Erkrankungen müssten eigentlich neun Prozent der Patienten bei den niedergelassenen Therapeuten Menschen mit einer Psychose sein“, rechnet Lincoln vor. „Tatsächlich ist aber nur ein Drittel davon in Behandlung.“

Kognitive Verhaltenstherapie wirkt

Gründe gibt es viele. Oft leiden die Betroffenen an großer Antriebsschwäche und scheitern bereits bei dem Versuch, einen freien Therapieplatz zu finden. Vor allem aber trauen sich Psychotherapeuten häufig nicht an diese schwierigen Patienten heran. Doch Tania Lincoln ist optimistisch: „Die jungen Therapeuten, die Psychotherapie bei Psychosen in der Ausbildung lernen, setzen das mehr und mehr auch in der Praxis ein.“ Auch Klaus Hesse sieht Fortschritte: „Viele Patienten haben bereits stationär gute Erfahrungen mit Psychotherapie gemacht und wollen das anschließend fortsetzen.“

Dass Psychotherapie bei Psychosen helfen kann, gilt inzwischen in der Forschung als nachgewiesen. Zuletzt erschien im Oktober 2018 eine systematische Übersichtsarbeit von der Münchner Psychologin Irene Bighelli und Kollegen, in der 53 Einzelstudien ausgewertet wurden. Dabei zeigte sich, dass kognitive Verhaltenstherapie im Vergleich zu einer psychiatrischen Standardbehandlung mit Medikamenten signifikant Symptome wie Wahn und Halluzinationen reduzieren kann. Auch die Lebensqualität der Patienten und ihre Alltagsbewältigung verbessern sich. Das britische National Institute for Health and Care Excellence stellte 2009 in einer Metastudie fest, dass diese Wirkung anhält. Die allgemeine Symptomatik blieb auch ein Jahr nach der Behandlung verbessert.

Tania Lincoln ist in verschiedenen Studien zu dem Ergebnis gekommen, dass sich vor allem Symptome wie Wahn, Halluzinationen und Denkstörungen verbesserten. Bei den sogenannten Negativsymptomen wie Antriebslosigkeit, sozialem Desinteresse oder Gefühlsleere zeigte die kognitive Verhaltenstherapie keine so eindeutige Wirkung.

Christian Heberer jedenfalls hat die Therapie geholfen. Sein Leben hat sich in den letzten drei Jahren verändert. Die paranoiden Gedanken sind zwar nicht verschwunden, aber er hat gelernt, besser mit ihnen umzugehen. Inzwischen hat er auch wieder einen Job. Im Grunde, meint Heberer, sei doch jeder auf der Suche nach seiner Rolle. „Ich habe meine gefunden. Es ist keine Hauptrolle. Aber eine, die zu mir passt.“

Christian Heberer ist keine Kunstfigur, doch er heißt in Wirklichkeit anders. Auch die Angaben zu seiner Person wurden verfremdet.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2019: Die Kraft des Atmens