Warum macht der Mensch Kunst?

Menschen malen, dichten, singen seit Jahrtausenden. Woher kommt der innere Drang, sich auf kreative Weise auszudrücken?

©

Wer jemals durch die dunkle Höhle von Lascaux ging und die faszinierend detailreichen, fast 20 000 Jahre alten Zeichnungen betrachtete, erlebte sehr unmittelbar das tiefe menschliche Bedürfnis nach künstlerischem Ausdruck – und das schon zu Zeiten, als Kunstwerke noch nicht signiert, verkauft und zu exorbitanten Preisen am Markt gehandelt wurden, sondern einfach nur an einer Höhlenwand prangten. Seit dieser Zeit nehmen Künstler selbst existenzielle Nöte in Kauf, nur um kreativ arbeiten zu können.

Was treibt…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

nur um kreativ arbeiten zu können.

Was treibt Menschen seit Tausenden Jahren dazu an, zu malen, zu dichten, zu singen, obwohl sie mit anderen Tätigkeiten oft mehr Anerkennung bekommen und mehr Geld verdienen könnten? Psychologen, Kulturanthropologen, Evolutionsbiologen und Neurowissenschaftler sind dieser Frage auf der Spur und versuchen herauszufinden, warum Menschen in allen Kulturen Dinge ästhetisch gestalten, innere Erlebnisse zum Ausdruck bringen und selbst Flüchtiges wie Musik produzieren.

Erste Aufschlüsse bringt ein Blick weit weg von Galerien und Konzertsälen – in die Welt der Biologie. Dort scheint die Existenz von Kunst auf den ersten Blick ein Paradox. Denn sie hat anders als etwa Jagd, Kampf, Acker- oder Hausbau keinen unmittelbaren lebenspraktischen Sinn – weder für das Publikum noch für die Künstler selbst. Man kann problemlos steinalt werden, ohne jemals im Leben ein Kunstwerk gesehen oder produziert zu haben. Im Gegenteil: Kunstwerke zu schaffen kostet Zeit und Energie, die dann für die überlebenswichtigen Tätigkeiten nicht zur Verfügung steht.

Kunst liefert sexuelle Vorteile

Schon Steinzeitmenschen, die Tonklumpen zu hübschen Figuren kneteten, Höhlenwände bemalten oder Schmuckstücke herstellten, hatten weniger Zeit, um sich um Nahrung, Sicherheit oder den Nachwuchs zu kümmern. Dennoch hat unser Gehirn über Jahrtausende hinweg diese Fähigkeit entwickelt, und aus der Sicht von Evolutionsbiologen bildet sich eine so komplexe Fähigkeit nur heraus, wenn sie einen handfesten Nutzen bietet, sprich einen klaren Selektionsvorteil.

Schon Darwin vermutete, dass das Singen ursprünglich auch beim Menschen der Balz diente. Denn es half, die eigenen Gefühle auszudrücken, sie anderen mitzuteilen, bei potenziellen Partnern ähnliche Gefühle auszulösen und attraktiver zu wirken als die Konkurrenz. So betrachtet liefert Kunst also einen sexuellen Vorteil. Weil dieser Trick im Laufe der Evolution gut funktionierte, konnte sich die grundlegende Fähigkeit zum Singen bis hin zur virtuosen Opernarie weiterentwickeln.

Der israelische Zoologe und Soziobiologe Amotz Zahavi entdeckte in den 1970er Jahren zudem das „Handicap-Prinzip“, das besagt, dass die extravagante Zurschaustellung von auf den ersten Blick unnützen Dingen, die eigentlich die Fitness reduzieren, in Wirklichkeit Leistungsfähigkeit demonstriert. Beispiel: der prächtige, im Unterholz jedoch unpraktische Pfauenschwanz. Je aufwendiger solche Demonstrationen von Vitalität, umso überzeugender wirkt das auf potenzielle Partner. Und beim Menschen funktioniert der ästhetische Fitnessindikator auch ohne Federn. Wer Figuren schnitzen, singen oder tanzen konnte, zeigte dem Umfeld: Ich habe Energie und Ressourcen genug, um mich diesen Tätigkeiten zu widmen. Im Grund eine Imponiergeste, die die eigene Attraktivität und damit die Chance erhöhte, die eigenen Gene weiterzubringen.

Kreatives Gemeinschaftserlebnis

Thomas Junker ist Biologiehistoriker an der Universität Tübingen. Wie viele Evolutionsbiologen ist er überzeugt, dass sich ein komplexes Verhaltensmerkmal nur entwickeln und erhalten kann, wenn sein Nutzen die Kosten an Zeit und Energie überwiegt: „Die Fähigkeit, ein Kunstwerk herzustellen, und die Bereitschaft, es als solches anzuerkennen und wertzuschätzen, sind geistige Vorgänge, die nur von einer entsprechend differenzierten Architektur und Funktionalität des Gehirns geleistet werden können. Menschen und andere Tiere demonstrieren außergewöhnliche Fähigkeiten, weil sie werben müssen.“ Dies gelte eben auch für Kunst. Außergewöhnlichkeit, Verschwendung und Luxus, die in der Produktion von Kunst zum Ausdruck kommen, stellen demnach die genetischen Qualitäten des Produzenten unter Beweis. Das dürfte im Laufe der Evolution ein wichtiger Antrieb gewesen sein.

Man sollte sich allerdings nicht nur auf Wettbewerbsvorteile bei der Balz konzentrieren. Neben dem individuellen Statusgewinn erfüllt das Produzieren von Kunst nämlich auch sozialpsychologische Funktionen, etwa die Verständigung über Wünsche und Ziele einer Gemeinschaft: „Wenn eine Gruppe sich möglicher Gemeinsamkeiten versichern will, wird die Kunst aktiviert“, betont Junker. Gleichzeitig dienten Tänze, Gesänge oder Körperbemalungen der Abgrenzung von anderen Gruppen. Kunst half also auch, das Leben in der Gruppe zu verbessern, der ein Künstler angehörte. „Mit der Kunst ist immer schon ein Gemeinschaftserlebnis verbunden. Sie erleichtert die Identifikation der Individuen mit den Werten und Zielen der Gemeinschaft und stabilisiert so das soziale Zusammenleben.“ Naheliegend also, dass Künstler, die das vermochten und entsprechend Anerkennung und Wertschätzung in der Gruppe bekamen, zu weiterem Schaffen motiviert wurden.

Was aber passiert nun eigentlich genau im Gehirn eines kreativen Individuums, und könnten die Vorgänge dort die Leidenschaft von Künstlern mit erklären? Der eigenen Erfahrung und damit auch der rationalen Erklärung erschließen sich die neuronalen Abläufe im kreativen Gehirn ja nicht. Ein Künstler kann zwar beschreiben, wie er sich bei der Arbeit fühlt, aber nicht, was seine Neuronen in dem Moment tun. Hier kommt die Hirnforschung ins Spiel. Allerdings ist Kreativität ein schwer fassbarer Untersuchungsgegenstand, denn sie entsteht aus einem komplexen Zusammenspiel mehrerer Hirnareale ohne zentrale Steuerung, was Untersuchungen und Rückschlüsse aus neuronalen Aktivitäten ausgesprochen schwierig macht.

Wann ist jemand ein Künstler?

Der britische Neurobiologe Semir Zeki gründete am University College London und der Universität Berkeley sogar ein Institut für Neuroästhetik, weil er überzeugt ist: „Die Kunst gehorcht wie Religion oder Moral den Gesetzen des Gehirns. Und man muss die neuronalen Gesetze verstehen, denen das künstlerische Schaffen unterliegt.“ Vor allem die enorme Fähigkeit des Gehirns zur Abstraktion und Konzeptbildung, die in der Kunst zum Ausdruck komme, könne durch die Neuroforschung erklärt werden. Allerdings konzentriert sich Zeki hauptsächlich auf die Wahrnehmung und Verarbeitung von Kunst im menschlichen Gehirn, also die Frage, wie es ein Kunstwerk als solches erkennt, interpretiert und Konzepte von Kunst bildet.

Zunehmend versuchen Wissenschaftler aber auch zu verstehen, was sich in den Hirnzellen tut, wenn ein Mensch Kunst hervorbringt. Man weiß inzwischen, dass Kreativität und Kunstproduktion nicht auf ein exklusives Areal beschränkt sind. Mehrere Bereiche sind dafür zuständig, unter anderem solche für visuelle Wahrnehmung, Motorik oder räumliches Denken. Das ist übrigens auch ein Grund dafür, dass das Gehirn von Künstlern erstaunlich resistent ist gegen Schäden: „Ausgeprägte künstlerische Fähigkeiten können selbst bei schweren neurodegenerativen Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson noch bis in späte Stadien des Krankheitsverlaufs erhalten bleiben“, berichtet Martin Dresler vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München.

Nach bestimmten Hirnschäden können sich in Einzelfällen sogar bis dahin unbekannte künstlerische Aktivitäten überhaupt erstmals zeigen. Das passiert vor allem dann, wenn Teile insbesondere der linken Hirnhälfte in Mitleidenschaft gezogen wurden, die etwas stärker für rationale und detailbezogene Aufgaben zuständig ist. Die intakt gebliebenen kreativen Areale können sich dann umso besser entfalten, vermuten Experten. So kommt es manchmal nach Hirnverletzungen zu einem erstaunlichen Kunstschaffen von Patienten, die zuvor nie besonders kreativ waren.

Schwieriger Forschungsgegenstand

Wie sieht es nun mit der Motivation für Kunst aus? Hier wird die Sache deutlich komplizierter. Reto Weiler, Neurobiologe an der Universität Oldenburg und Rektor des Hanse-Wissenschaftskollegs, verdeutlicht das: „Es gibt keine klaren Kriterien für die Abgrenzung zwischen Künstlern und Nichtkünstlern. Wann ist jemand ein Künstler, und wann ist eine Person einfach nur kreativ?“ Da diese Entscheidung letztlich in einem gesellschaftlichen Prozess erfolge, spielten hier viele Faktoren eine Rolle. „Ein trivialer Fakt ist aber, dass es dafür in jedem Fall eine Auseinandersetzung mehrerer Personen mit dem Werk braucht. Kunst entsteht nur durch den Dialog mindestens zweier Gehirne. Damit grenzen die neurobiologischen Regeln der Wahrnehmung den Bereich der künstlerischen Auseinandersetzung auf beiden Seiten ein. Die Anerkennung eines Werkes als Kunst setzt voraus, dass durch das Werk ein Ausleuchten des metaphorischen Raumes gelingt und dieses Ausleuchten einer wissenschaftlichen Begriffsbildung vorauseilt, einfach gesagt: die Ahnung vor der Gewissheit.“

Da solche Prozesse aber nur schwer oder überhaupt nicht von der Wissenschaft bearbeitet werden könnten, sei es aus Sicht der Neuroforschung letztlich sinnvoller, sich auf Kreativität im Allgemeinen zu beschränken und ihre neuronalen Grundlagen zu erforschen. Und selbst das ist nicht einfach. Denn bei Studien, die versuchen, neurobiologische Daten in Zusammenhang mit Kreativität zu bringen, sei es problematisch, dass man keinen kausalen Zusammenhang nachweisen könne, sondern meistens nur einen korrelativen, räumt Weiler ein. „Inwiefern zum Beispiel eine Vergrößerung eines bestimmten Hirnareals kausal eine gesteigerte Kreativität dokumentieren kann, oder ob sich das Areal aufgrund der kreativen Tätigkeit vergrößert hat, ist meist nicht entscheidbar.“

Da bei kreativen Vorgängen die Wahrnehmung neben motorischen Fähigkeiten eine wichtige Rolle spiele, könnten hier bestimmte Leistungen zum Tragen kommen, wie zum Beispiel ein ausgeprägtes Bildgedächtnis oder Synästhesien, sie müssten das aber nicht. „Gleiches gilt für die Belohnungssysteme im Gehirn. Deren Aktivität ist mit einer Vielzahl von Tätigkeiten verbunden und natürlich auch mit kreativer Tätigkeit. Es gibt aber kein System, das ausschließlich bei kreativer Tätigkeit reagiert.“

Improvisieren geht anders

Eine Forschergruppe um Charles J. Limb, seinerzeit an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, fand dennoch einen Weg, sich dem schöpferischen Gehirn zu nähern. Die Wissenschaftler ließen Jazzpianisten improvisieren, was ein hohes Maß an Kreativität verlangt. Dabei beobachteten die Forscher mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie, dass sich in den Gehirnen der besonders erfahrenen Improvisationskünstler veränderte Aktivitätsmuster im präfrontalen Kortex zeigten: Die Aktivität sank in Bereichen, die unter anderem an der bewussten Planung und Problemlösung, also höheren kognitiven Funktionen zum rationalen zielgerichteten Bearbeiten von Aufgaben beteiligt sind.

Gleichzeitig wurde die Aktivität in Bereichen gesteigert, die intern motiviertes Verhalten und unter anderem auch die Selbstwahrnehmung organisieren. Diese Veränderungen befreien den Musiker ein Stück weit von bewusster Kontrolle und ermöglichen so, unbewusste und spontane Ideen hervorzubringen, also auf einem hohen Level kreativ zu sein.

Auch ein schwedisch-portugiesisches Forscherteam wies 2014 bei einem Experiment mit 39 professionellen Pianisten nach, dass Musiker mit der meisten Erfahrung im freien Improvisieren eine deutlich niedrigere Aktivität in bestimmten Hirnbereichen zeigen. „Wir beobachteten während des Improvisierens einen klaren Zusammenhang zwischen Improvisationserfahrung und einer verringerten Aktivität in verschiedenen kortikalen Bereichen der rechten Hemisphäre“, erklärt Studienleiterin Ana Luisa Pinho vom Karolinska-Institut in Stockholm.

Berufskreative ticken anders

Zudem wiesen bei diesen Musikern während des Improvisierens bestimmte neuronale Netzwerke, die kreative Prozesse ermöglichen, etwa präfrontale, prämotorische und motorische Areale des Frontalhirns, eine höhere Aktivität auf. Das spiegelt nach Ansicht der Forscher den effizienteren Austausch von Informationen zwischen assoziativen Netzwerken, die wichtig für musikalische Kreativität sind. Wer über Jahre hinweg hochkreativ ist, „tickt“ also offenbar anders als nichtkreative Menschen. Wobei auch hier durchaus offen bleibt, was Ursache und was Wirkung ist.

Dieser Mechanismus könnte erklären, warum sich Künstler in Aktion so wohl- und entrückt von der gewohnten Alltagswelt fühlen. Sowohl die beobachtete Automatisierung als auch die reduzierte kognitive Kontrolle bei gleichzeitig erhöhter Interaktion zwischen anderen Arealen seien sehr interessant, so Pinho, da in der Forschung schon seit längerem „ein subjektives Gefühl von automatisiertem Handeln und psychologischem Flow-Erleben bei improvisierenden Künstlern“ diskutiert werde. Passend dazu zeigten in den letzten Jahren EEG-Aufnahmen eine erhöhte Produktion von Alphawellen bei Probanden, die hochkreative Aufgaben ausführen (im Vergleich zu weniger kreativen Aufgaben). Und auch kreative Persönlichkeiten zeigen im Vergleich zu weniger kreativen Persönlichkeiten mehr Alphawellen beim kreativen Aufgabenlösen. Diese Wellen sind ansonsten typisch für den angenehmen Zustand entspannter Wachheit. Auch das kann ein Anreiz sein.

Auf der Suche nach der Motivation für künstlerisch-kreatives Arbeiten dürfte es lohnend sein, solche Spuren weiterzuverfolgen. Die Forschungsergebnisse zeigen bislang zumindest: Den einen alleinigen Grund für das menschliche Kunstschaffen gibt es nicht. Stattdessen muss man sich das Ganze wie ein buntes Mosaik aus (neuro)biologischen, sozialen und psychologischen Gründen, Anreizen und Motiven vorstellen – ein Mosaik, das unser Dasein ungemein bereichert und die Welt jeden Tag mehr zu einem interessanten Ort macht.

Literatur

Ana Luisa Pinho u. a.: Connecting to create: Expertise in musical improvisation is associated with increased functional connectivity between premotor and prefrontal areas. The Journal of Neuroscience 34, 18, 2014, 6156-6163

Christa Sütterlin (Hg.): Art as behaviour. An ethological approach to visual art, music and architecture. BIS, Oldenburg 2014

Thomas Junker: Die Evolution der Phantasie: Wie der Mensch zum Künstler wurde. Hirzel, Stuttgart 2013

Karin Herrmann: Neuroästhetik: Perspektiven auf ein interdisziplinäres Forschungsgebiet. Kassel University Press 2011

Semir Zeki: Glanz und Elend des Gehirns. Neurobiologie von Kunst, Musik und Literatur. Reinhardt, München 2010

Martin Dresler (Hg.): Neuroästhetik. Kunst-Gehirn-Wissenschaft. Seemann, Leipzig 2009

Illustration im Stil einer Höhlenmalerei zeigt einen Mann, der mit dem Bogen ein Tier jagt
Kunstwerke zu schaffen ist mühsam, macht laut Forschung aber attraktiv

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2017: Beziehungsfähig!