Es mag auf den ersten Blick erstaunen: Lebenskrisen sind dialektische Prozesse. Wenn sie über uns kommen, bringen sie mit dem Leid fast immer auch eine neue, unbekannte Freude.
„Ich schaue aus dem Fenster und staune, als hätte ich noch nie Sonne und Wolken gesehen“, schrieb der Künstler und Regisseur Christoph Schlingensief in seinem 2009 erschienenen Krebstagebuch mit dem Titel: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein. Noch im nüchternsten Nützlichkeitsmenschen ist dieser Sinn für das Schöne…
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gar nicht sein. Noch im nüchternsten Nützlichkeitsmenschen ist dieser Sinn für das Schöne angelegt. Selbst wer meinte, ein Leben lang keinen inneren Zugang zu Dingen der Ästhetik gehabt zu haben, dem wird eine Lebenskrise zuverlässig die Tür dorthin öffnen.
Wir müssen keine Ästhetikexperten sein, um die Segnungen der Kunst am eigenen Leib zu erfahren. Denn wir alle können Kunst – ebenso wie die Natur – wenn schon nicht unbedingt ästhetisch, so doch immer psychologisch decodieren. Dazu braucht man nur offene Augen und die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen.
Natur neu erleben
Es ist eine alte und gültige Weisheit, dass der Garten ein ziemlich guter Arzt ist und dass der Aufenthalt im Grünen der Erholung und Regeneration dient. Dem berüchtigten Satz, „frische Luft“ sei gesund, hat man vielleicht schon öfter misstraut, aber tatsächlich, zumal in der Krise, zeigt sich die Natur als wahrer Kraftspender. Der amerikanische Journalist und Umweltaktivist Richard Louv hat in seinem Buch Das Prinzip Natur auf zahlreiche wissenschaftliche Studien verwiesen, die das belegen. Es geht jedoch nicht so sehr um den wohltuenden Effekt des „grünen Materials“ auf unseren Körper, sondern vor allem auf unser Gemüt. Gerade in Lebenskrisen entwickeln viele Menschen einen neuen Sinn für Gefühlslagen, die etwa Landschaften auslösen können, für Abend- oder Morgenstimmungen in einem Mittelgebirge, an einer Flussniederung oder in einer Moorlandschaft.
Tatsächlich sind wir in der Lage, in der Natur Stimmungen auszumachen, die für uns emotional und „romantisch“ aufgeladen sind. Wir können in ihr ästhetische Strukturmerkmale und Ordnungsprinzipien entdecken, die wir als harmonisch (und zugleich harmonisierend) empfinden. Mit etwas Übung erfassen wir das Typische, das Eigentümliche einer natürlichen Form – und ziehen einen ästhetischen Genuss daraus. Aber dafür muss man einen bestimmten Blick einüben: „Es ist ein verbreiteter Irrtum, zu meinen, man brauche nur an einen schönen Ort zu reisen, um der ,Natur‘ nahe zu sein und ihre Kräfte und Tröstungen zu kosten“, schrieb Hermann Hesse. „Es ist ja klar, dass dem (…) Großstädter die Kühle und Reinheit der Luft am Meer oder in den Bergen wohltun muss. Er fühlt sich frischer, atmet tiefer, schläft besser und kehrt dankbar heim im Glauben, er habe die ,Natur‘ nun so recht genossen und in sich gesogen. Er weiß nicht, dass er nur das Flüchtigste, Unwesentlichste davon aufgenommen und verstanden hat, dass er das Beste unentdeckt am Wege liegen ließ.“
Aber was hält Hesse für das „Beste“? Es gehe darum, sagt er, „das Charakteristische“ einer Landschaft zu erfassen. „Die Natur wirft sich einem so wenig vor die Füße wie Kultur und Kunst, und sie fordert gerade vom ungeschulten Stadtmenschen unendliche Hingabe, ehe sie sich entschleiert …“ Es spricht alles dafür, dass uns Lebenskrisen dieser Hingabe näherbringen.
Natur plus Kunst = romantische Landschaftsmalerei
Den wohltuenden Effekt, den die Natur auf die gepeinigte Seele hat, übt aber nicht nur der sensibilisierte Blick auf die unverstellte Landschaft aus, sondern auch jener, wenn sie künstlerisch gestaltet und gerahmt an den Wänden der großen Kunstmuseen hängt. Das Stillleben im Kleinen, das Landschaftspanorama im Großen – sie haben beide eine heilsame Wirkung. Eine Galerie oder ein Kunstmuseum ist deshalb nicht nur ein Ort, an dem unser Bildungshunger Nahrung findet, sondern auch Heilung und Harmonisierung unserer Innenwelt möglich wird.
Wie und warum wirkt die „schöne Kunst“? Besonders die Landschaftsmaler des 19. Jahrhunderts hatten eine Meisterschaft darin entwickelt, Gefühle in ihren Betrachtern zu wecken. Jef Rademakers, Besitzer einer der größten Gemäldesammlungen romantischer Landschaften weltweit, schreibt: „Die Landschaft sollte vor allem ein Gefühl zum Ausdruck bringen und hervorrufen: das Gefühl des Malers und die Emotion des Betrachters. Um dieses Ziel zu erreichen, war im Grunde jedes Mittel erlaubt.“ Er weist damit indirekt auch schon auf den Komplex hin, der der Romantik bald nachfolgte, den Kitsch der röhrenden Hirsche und klappernden Mühlen am rauschenden Bach. Kitsch entstand als eine mindere Form der Kunst, die Gefühle auslösen sollte, auch um den Preis jener süßlich-klebrigen Geschmacklosigkeit, die ihm innewohnt. Aber selbst im Kitsch geht es noch um die unbestreitbare Qualität von Landschaftsbildern, in ihren Betrachtern Gefühle auszulösen.
Was geschieht genau, wenn wir Kunstwerke betrachten? Mit den neuronalen Wirkungen, die von visuellen Wahrnehmungen ausgelöst werden, hat sich der aus Wien stammende Neurologe und Nobelpreisträger Eric Kandel in seinem Buch Das Zeitalter der Erkenntnis beschäftigt. „Mittlerweile wissen wir“, schreibt er, „dass der Anblick eines geliebten Bildes, genauso wie der Anblick eines geliebten Menschen, nicht nur den orbitofrontalen Cortex aktiviert, der auf Schönheit reagiert, sondern auch die dopaminergen Neuronen an der Hirnbasis, wenn eine Belohnung zu erwarten ist.“ Kunst erlaube uns, eine „Vielzahl verschiedener Erfahrungen und Emotionen in unserer Fantasie zu erforschen und zu erproben“. Der Kunstphilosoph Denis Dutton geht noch einen Schritt weiter. In seinem Buch The art instinct. Beauty, pleasure and human evolution schreibt er, Kunst bedeute uns so viel, „weil sie uns beschenkt mit einigen der tiefgreifendsten, emotional bewegendsten Erfahrungen, die Menschen zugänglich sind“.
Es scheint, als würden wir in der romantischen Landschaft etwas wiedererkennen, was uns wärmt, als ob da etwas in uns eine schlummernde Erinnerung an einen vertrauten Ort geweckt habe. Ist Erkennen immer nur ein Lust bereitendes Wiedererkennen eines eigenen früheren Zustands, wie es schon Aristoteles formuliert hat? Gerade bei Naturstimmungen in der Kunst scheinen wir uns so berühren zu lassen, weil wir glauben, die Welt dort auf der Leinwand zu kennen und sie oder zumindest Teile von ihr schon einmal selbst gesehen oder erfahren zu haben.
Die Auseinandersetzung mit Kunst führt uns immer an unsere eigenen Lebensthemen, Kunst spiegelt unsere biografischen und seelischen Grunderfahrungen. Man hat daher oft angenommen, jeder Mensch sähe in einem Gemälde etwas anderes, da wir Kunstwerke wie überhaupt Bilder stets vor ganz individuell einzigartigen Erfahrungen wahrnähmen. Jedoch ist nur der Einstieg, der erste Zugang zu einem Kunstwerk ganz individuell. „Jeder kommt aus einer anderen biografischen Ecke mit einem Kunstwerk in Kontakt, ausgestattet mit ganz eigenen psychischen Erfahrungen und Reaktionsweisen auf die äußere Welt“, sagt Sonja Pöppel, Kunsttherapeutin aus Köln, „wer sich aber wirklich länger, also mindestens über eine gewisse Zeitspanne hinweg auf ein Kunstwerk einlässt, wird am Ende alle seelischen Erfahrungen erleben können, die in einem Kunstwerk angelegt sind, also auch jene, die in einem ersten Zugang noch nicht zugänglich waren.“
Ein x-beliebiges Gemälde: Es mag sein, dass es dem einen auf das erste Besehen „traurig“ erscheint, von einem anderen dagegen als „heiter“, ja „euphorieauslösend“ empfunden wird. Wie das? Beide Stimmungen, alle Stimmungen sind in diesem Gemälde angelegt. Allerdings überträgt sich zunächst nur jene Stimmung, die wir am besten kennen. Wir blicken so auf dieses Gemälde, wie wir das immer machen, wie wir gelernt haben, unsere Welt zu sehen. Was meine Psyche unterdrückt, blende ich zunächst aus, aber alles andere drängt irgendwann nach diesem Primäreindruck genauso in meine Wahrnehmung– wie bei anderen Betrachtern auch. Bald steigen in uns auch die anderen, uns eher fernliegenden Erfahrungen auf, mit einem heilsamen Effekt: Was uns fehlt, finden wir im Kunstwerk. In einem Kunstwerk sind tatsächlich alle Emotionserfahrungen angelegt– und es finden immer auch diejenigen von ihnen den Weg zum Betrachter, die ihm vielleicht am fernsten liegen.
Das „Diagramm der Seele“
Kunsterleben ist immer ein Wechselspiel, ein reziproker Prozess zwischen Kunstobjekt und Betrachter. Wir lesen nicht nur heraus, was in einem Kunstwerk steckt. Am Ende erkennen wir nicht so sehr die Kunst, sondern sie vielmehr uns. Sie bringt unsere innere Welt in Bewegung, belebt untergegangene, verschüttete „gute“ Gefühle genauso wie die angstvollen, verstörenden – und macht uns diese schließlich „klar“, wenn wir sie im Sprechen über das Kunsterleben an die Oberfläche unseres Bewusstseins bringen. Der Psychologe und Begründer der „morphologischen Psychologie“ Wilhelm Salber spricht in diesem Zusammenhang von einem „kunstanalogen“ Funktionieren des Seelischen. Kunst und Seelisches legten sich gegenseitig aus. Kunstwerke sind daher geeignete Instrumente, um seelische Strukturen sichtbar zu machen. „Die Kunst ist ein Diagramm unserer Seele“, schreibt Hartmut von Hentig in seinen Schriften zur ästhetischen Pädagogik. „Sie erfindet die Chiffren, mit denen die Tiefenpsychologie sie selbst deutet. Die Geschichte von Ödipus war vor Freud. Die Tiefenpsychologie ist so alt wie die Kunst.“
Die Möglichkeiten, über die Auseinandersetzung mit Kunst an Konflikte und Probleme in unserem Unterbewusstsein zu gelangen, macht sich vor allem die rezeptive Kunsttherapie zunutze. Ihr Ziel ist, über den Kontakt mit Kunstwerken in ihren Patienten neue Handlungs- und Verhaltensweisen in Gang zu setzen. Dabei geht es nicht allein um die „Stimmungsaufhellung“ durch passende Ästhetik. Es wird auch auf Bilder zurückgegriffen, die überhaupt nicht als „schön“ im klassischen Sinne gelten. Das ist etwa bei Bildern der Fall, die Klienten in Kunsttherapien anziehen, weil sie eine starke Aversion fühlen, etwa bei einem verzerrten Kopf von Francis Bacon. Hier wird das Bild zum Impulsgeber, der das eigene Problem greifbar und bewusstmacht, um es bewältigen zu können. „Das Kunstwerk wird in diesem Sinn zu einem fördernden Selbstobjekt und tritt mit dem Selbst in Beziehung. Es unterstützt die Entfaltungs- und Entlastungsmöglichkeiten des Selbst“, schreibt Georg Franzen, Psychologe und Herausgeber des Buches Kunst und seelische Gesundheit.
Ebenso geht es in der Kunsttherapie darum, an eigene verborgene Resilienzressourcen zu gelangen. Birgit Naphausen, Psychologin und Therapeutin am Forum für analytische und klinische Kunsttherapie in München, erklärt: „In der rezeptiven Kunsttherapie nutzen wir eine positive Bildwirkung, indem wir das Wie und das Was bewusstmachen: Wie wirkt das Bild auf mich, und was assoziiere ich damit? Indem der Klient diesen Fragen nachgeht, können für ihn solche mit dem Bild verknüpften positiven Erfahrungen ins Bewusstsein gerückt werden, die ihm (noch) nicht oder nicht mehr verfügbar sind und seine Befindlichkeit positiv beeinflussen. Er kann sich an heilsame Handlungsoptionen erinnern oder neue Handlungsstrategien entwickeln, die er aktiv in seiner Lebensgestaltung verwirklichen kann.“
Naphausen erklärt die Wirkungsweisen in der therapeutischen Arbeit am Fall eines 42-jährigen Mannes, der an Depressionen leidet. Der Mann wird aufgefordert, in einer Galerie oder einem Museum auf dasjenige Bild zuzugehen, das ihn intuitiv anspricht. Er wählt ein Landschaftsbild am Meer aus. „Er erlebt die Wirkung des Bildes als befreiend, weit, leicht und unbeschwert. Während er das Bild betrachtet, erinnert er sich an die Ostsee, die er von Ferienaufenthalten in seiner Kindheit kennt. Am schönsten, so erzählt er, war es damals für ihn, am Ufer zu spielen. Er erinnert sich, dass er in diesen Situationen ganz entspannt und tief versunken in das Spiel war. Auf die Frage, ob er diese Erlebnisse auch nach seiner Kindheit wieder erlebt hat, berichtet er, dass immer, wenn er in der Natur unterwegs ist, sich nach einiger Zeit etwas Wohltuendes einstellt. Mit dem Gehen und dem ziellosen Schauen fielen mehr und mehr Anspannung und Sorgen. Er fühle sich wie ein Teil der Natur, mit ihr verbunden und geborgen.“
Auf die Frage der Therapeutin, wann er dieses Naturerleben das letzte Mal so genossen habe, bemerkt er bald, es sei viel zu lange her. „Nun begann er zu überlegen“, sagt Birgit Naphausen, „wie er diese so wichtige und wirkungsvolle Naturerfahrung für seine Gesundheit in seinem Leben wieder aktivieren könnte. Ein Landschaftsbild wurde für ihn der Schlüssel zu seinem Wissen um eine heilsame Ressource – mit der Möglichkeit, sich diese im aktuellen Leben verfügbar zu machen.“ Für Menschen in Krisen werden über die Kunstresonanz eigene Erfahrungen wieder zugänglich, die sie als Ressourcen der Resilienz erschließen können. Über den Bildimpuls zu den eigenen Ressourcen zu finden, das ist der Weg, der auch heilt: Gerade das gestaltete, komponierte Kunstwerk, in das vom Künstler eine bestimmte Ordnung gelegt wird, wirkt auf unsere innere Unordnung; wie bei einem Mandala wirkt das Organisierte organisierend.
Für Sonja Pöppel, die zurzeit an einer Dissertation über „rezeptive Kunsttherapie“ arbeitet, ist ein Kunstwerk immer ein Medium zur Bewusstseinswerdung und dann auch zur Selbstheilung. In ihrer Arbeit über die sogenannte rezeptive Kunsttherapie untersucht sie, wie sich für ihre Patienten die heilende Kraft nutzen lässt, die von Kunstwerken ausgehen kann. Was dabei als Therapieerfolg angesehen wird, hängt, wie sie schreibt, vom eigenen Therapiebegriff ab: „Es gibt Vertreter von rezeptiv-kunsttherapeutischen Ansätzen, die davon ausgehen, dass sich ihre Patienten mit ihren eigenen Problemlagen in den Werken von Künstlern wiederfinden und darüber erst in der Lage sind, Dinge zu verbalisieren, die vorher nicht möglich gewesen wären. Und es gibt Vertreter rezeptiv-kunsttherapeutischer Ansätze, die einen Erfolg darin sehen, dass sie ihre Klienten über die Auseinandersetzung mit Kunstwerken zu eigenen bildnerischen Gestaltungsprozessen anregen und damit ihre Kreativität fördern.“
Krisen machen uns zum Künstler
Krisen sensibilisieren uns nicht nur für das Schöne, sondern bringen auch unser eigenes kreatives Potenzial zur Entfaltung. Menschen werden gerade in Krisenzeiten selbst zu Künstlern, Poeten, Schriftstellern. Dies macht sich vor allem die kreative Kunsttherapie zunutze. Was genau hilft oder heilt, wenn jemand kreativ wird? Künstlerische Kreativität ist immer eine Form des Gefühlsausdrucks. Vor allem bedrückende Seelenlagen werden durch den freien künstlerischen Ausdruck ausagiert. Das eigene seelische Problem ist nun ausgedrückt, es liegt vor uns, zum Kunstwerk verwandelt. Das Kunstwerk, das dabei entsteht, ganz egal wie und ob es „gelungen“ ist, wird zu einer Art Spiegelbild der Seele.
In einem nächsten Schritt können diese Formen des Krisenumgangs therapeutisch betrachtet werden, um dann daraus Veränderungen anzuregen. Aber auch schon der unmittelbare kreative Akt wird als heilsam erlebt. Menschen erfahren darin so etwas wie eine innere Klärung und Lösung ihrer Anspannungen, eine Art innere Katharsis wie beim Weinen oder Lachen. Wenn das kreative Ventil geöffnet wird, lässt der innere Druck nach, die innere Unordnung legt sich, eine Befriedung der Seele tritt ein.
Nicht nur hilft es oft, die eigene Kreativität bei der Bewältigung von Lebenskrisen zu entfalten, mitunter setzen die Krisen selbst diese Kreativität erst frei. Diese Denkfigur der Reziprozität stammt aus der Kunsttherapie, sie findet sich jedoch auch auf einer ganz anderen Ebene, nämlich in kulturgeschichtlichen Betrachtungen. Der große österreichische Kulturhistoriker Egon Friedell hat von 1927 bis 1931 eine mehrbändige Kulturgeschichte der Neuzeit geschrieben. Zu Beginn dieser Schrift ging er der Frage nach, was die Epoche, die man heute die Neuzeit nennt, also jene Zeit, die seit der Renaissance den Weg in unsere Moderne weist, nach vielen „dunklen“ Jahrhunderten in Gang gesetzt hat. Seine Antwort: eine Krise. Genauer: eine Krankheit. Für ihn steht am Anfang der Entwicklung zur Neuzeit die Pest, die im 14. Jahrhundert Europa heimsuchte. „Dass nämlich Krankheit etwas Produktives ist“, führt er aus, „diese scheinbar paradoxe Erklärung müssen wir an die Spitze unserer Untersuchungen stellen.“
Auch in der Geschichte dürften „Erschütterungen des bisherigen Gleichgewichts durchaus nicht immer unter die verderblichen Erscheinungen gerechnet werden“. Vielmehr sei offensichtlich, so Friedell weiter, „dass jede fruchtbare Neuerung, jede wohltätige Neubildung sich nur auf dem Umwege eines ,Umsturzes‘ zu vollziehen vermag, einer Disgregation der Teile und Verschiebung des bisherigen Kräfteparallelogramms.“
Das Phänomen der Krankheit sei mit dem Geheimnis des Werdens eng verknüpft – das ist Friedells originelle wie weitreichende Beobachtung. Aber nicht nur was die Kulturgeschichte ganzer Gesellschaften angeht, nein, er sieht dieselben Prozesse auch bei jedem einzelnen Menschen am Werk: „Der kranke Organismus ist unruhiger und darum lernbegieriger, empfindlicher und darum lernfähiger; ungarantierter und darum wachsamer, scharfsinniger, hellhöriger; in dauernder Gewohnheit und Nachbarschaft der Gefahr lebend und darum kühner, unbedenklicher, unternehmender; näher der Schwelle der jenseitigen Seelenzustände und darum unkörperlicher, transzendenter, vergeistigter.“
Es gibt viele, viele prominente Beispiele in der Geschichte der Kunst, der Literatur, der Philosophie: Leiden, Krankheit, Krisen – sie setzen stets auch etwas Produktives in Gang, eine neue, ungeahnte Fülle von Ideen und Ausdrucksformen. Franz Schubert, Vincent van Gogh oder Frida Kahlo – ohne ihr Leiden sind sie überhaupt nicht verständlich, wären ihre Werke kaum so intensiv, so dramatisch. Van Goghs Blick auf Arles etwa von 1889 ist wohl eines der eindrucksvollsten Beispiele der Kunstgeschichte, wie aus Leiden Schönheit wird.
Auf diesem Ölgemälde ist das südfranzösische Arles aus der Ferne zu sehen, ein idyllischer Ort, gelegen an einem Berghang mit hübschen Häuschen, einer Kirche, davor fette Felder, eine äußerlich von Glück beschienene Szenerie – aber alles in ein kühles Blaugrün getaucht. Der Blick des Betrachters muss erst seinen Weg durch krüppelige Weiden hindurch finden, die das Städtchen verstellen und die van Gogh in den Vordergrund gesetzt hat wie eine undurchdringbare Grenze zwischen sich und dem Ort, den er sich als Wahlheimat aussuchte – und in dem er doch nie wirklich heimisch wurde. Das Leiden macht empfänglicher für das Schöne – und bringt es zugleich hervor. Menschen therapieren sich durch Kunst, weil ihr Leid einen Ausdruck findet – und sie finden in ihr eine große seelische Widerstandskraft. Kunst ist eine Resilienzressource.
Wie lässt sich die Ressource Kunst nutzbar machen? Durch Rezeption – oder doch besser durch eigenes Dichten, Philosophieren, Den-Pinsel-Schwingen? Diesen Unterschied von aktiver, kreativer und passiver, rezeptiver Kunsterfahrung gibt es eigentlich gar nicht. Denn auch beim bloßen Schauen und Betrachten gibt es einen großen kreativen Anteil. Denn auch „bloße“ Rezeption bedeutet eine aktive Auseinandersetzung, sie löst innere Suchprozesse aus und erfordert eigene Konstruktionsleistungen. So gesehen ist bereits das intensive Betrachten eines Kunstwerks ein schöpferischer Akt.
Vergehen und Werden
Für Menschen in Krisen ist das Werden und Vergehen ein zentrales Thema. Es wird in der Betrachtung der Natur, vor allem aber auch in der Kunst wiedergefunden. In der sensiblen Seelenlage, in die uns eine Lebenskrise versetzt, erleben wir das Gefühl von Abschied, Trennung oder der Gefährdung all dessen, was uns lieb und teuer ist. Das erklärt, warum bei Menschen in Krisenphasen einerseits ein Sinn für das Schöne geweckt wird, dieses andererseits immer auch mit einer gewissen Wehmut erlebt wird. Denn das, was da als Schönes entdeckt und erschlossen wurde, will festgehalten werden. Und man weiß doch nur zu genau, dass es vergänglich ist und wir es irgendwann wieder hergeben müssen.
Eine Krise wird nicht kleiner durch die Entdeckung der Schönheit – oder das Entstehen eines tieferen Empfindungsvermögens. Aber es entsteht eine Art Gegenpol, eine Gegenkraft, eine Gleichzeitigkeit von zwei Zuständen, die dem Schmerz ein positives, ein erhabenes Gefühl zugesellt. Krisen lassen uns einen Schritt zurücktreten, eine andere Perspektive einnehmen. Und immerzu ist es am Ende der veränderte Blick, dem auf einmal etwas auffällt, was er so nie gesehen hat. Leiden bringt Erkenntnisse, Tiefe im Fühlen, aber es befördert nicht nur die traurigen, „schwarzen“ Gefühle, sondern die Gefühle insgesamt, es erhöht gleichsam unsere Resonanzfähigkeit – und wohl deshalb werden wir trotz aller Ohnmacht gerade in der Krise zu einem unerwarteten Genuss fähig.
Literatur
Denis Dutton: The art instinct. Beauty, pleasure, and human evolution. Bloomsbury, New York 2009
Georg Franzen (Hg.): Kunst und seelische Gesundheit. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin 2009
Eric Kandel: Das Zeitalter der Erkenntnis. Siedler, München 2012
Sonja Pöppel: Das therapeutische Potenzial von Kunstrezeption. Geplante Dissertation, Universität zu Köln 2014
Wilhelm Salber: Morphologie des seelischen Geschehens. Bouvier, Köln 2009
Martin Schuster: Wodurch Bilder wirken. Psychologie der Kunst. Dumont, Köln 2007 (5. Auflage)
Was macht Kunst mit uns?
In ihrem Buch Art as therapy beschreiben die Autoren Alain de Botton und John Armstrong sieben Funktionen, die Kunst erfüllen kann – oder soll:
- Kunst erinnert uns an all das, was wichtig im Leben, aber auch sehr flüchtig ist: Schönheit, große Momente, tiefe Gefühle, archetypische Situationen. Vermeers Bild Frau in Blau, einen Brief lesend zeigt die Konzentration und Absorption, in die wir versinken können, wenn wir an einen nicht anwesenden Menschen denken.
- Kunst lehrt uns zu hoffen: Ein heiteres oder auch ein erhabenes Kunstwerk zu betrachten, während die eigene Lebenssituation gerade nicht heiter ist, bedeutet, der Hoffnung Nahrung zu geben – auf andere Welten, auf Schönheit, Sorglosigkeit, Transzendenz. Ein Stilmittel dabei ist die „strategische Übertreibung“ des Guten, etwa in idealisierten Bildern.
- Kunst nimmt unsere Sorge ernst – und bringt sie zugleich in eine Perspektive. Künstler sublimieren selbst in Schreckensbildern die Erfahrungen von Schmerz, Verlust oder Angst – und transzendieren sie, stellvertretend für den Betrachter. Viele von Caspar David Friedrichs Naturbildern (etwa Das Eismeer) relativieren und neutralisieren die Alltagssorgen durch die Darstellung der ambivalenten Erhabenheit einer grausamen Welt.
- Kunst hilft, eine innere Balance wiederzufinden. Wenn uns Gefühle aufwühlen und quälen, wenn uns etwas im Leben schmerzlich fehlt – dann können uns Kunstwerke durch ihre Aura, ihre Ruhe wieder ins Gleichgewicht bringen, und sei es nur für die Dauer des Betrachtens.
- Kunst ermöglicht uns Selbsteinsicht. Sie hält uns einen Spiegel vor, sie lehrt uns, die blinden Flecken in der Selbstwahrnehmung zu überwinden. Im Kunstwerk erkennen wir Züge, die wir an uns selbst übersehen oder verleugnet haben.
- Kunst lässt uns wachsen. Sie kann verstören, ja sogar ärgern oder provozieren. Aber sie lässt uns selten gleichgültig. Kunst fordert uns heraus, reizt uns zu Urteilen, zu Widerspruch und Auseinandersetzung. Damit weitet sie unseren Blick, versetzt uns in heilsame Unruhe.
- Durch Kunst lernen wir wieder, die Dinge und Menschen um uns herum wertzuschätzen. Wir sind oft blind geworden für Selbstverständliches, also auch für das Schöne und Hilfreiche. Kunst lehrt uns, wieder genauer hinzusehen, die Gewohnheiten des Sehens zu durchbrechen – und Dankbarkeit empfinden zu können.
Alain de Botton, John Armstrong: Art as therapy. Phaidon 2013