Nachdem ihr Mann gestorben war, nahm sich Lisa Maaßen* noch einen Tag und eine Nacht lang Zeit, an seinem Bett zu sitzen und Totenwache zu halten, gemeinsam mit engen Freundinnen und Freunden. Sie berührte ihn, sprach mit ihm, ließ noch einmal die gemeinsamen Jahre Revue passieren. Die Tango-Hochzeitsreise nach Buenos Aires, die Sommer am See, die vielen Stunden, in denen sie leidenschaftlich über Architekturentwürfe diskutiert hatten. Sie erzählte von magischen Momenten und von Situationen, in denen er sie…
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Momenten und von Situationen, in denen er sie auf die Palme gebracht hatte. Von dem gemeinsamen Büro, in dem sie fortan mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern allein sein würde. Sie klagte: „Du hast dich einfach aus dem Staub gemacht. Wie soll ich denn jetzt weiterleben?“ Mit ihm zu sprechen, als sei er noch da, als könne er sie im Schlaf hören, tat der 50-jährigen Architektin gut. „Es fühlte sich so an, als sei er in einem Zwischenreich zwischen Leben und Tod. Diese Phase zu durchleben war für mich ganz wichtig.“ Dann wünschte sie ihm eine gute Reise.
Der Bestatter ermunterte sie, Kleider auszusuchen und sie ihm anzuziehen. Sie half mit, ihn in den Sarg zu legen, ließ ihn in der Kapelle noch einmal für einen Nachmittag aufbahren und lud Freundinnen und Freunde dahin ein. Zum Schluss legte sie ihm den Rucksack, den er überallhin mitgenommen hatte, in den Sarg. Gemeinsam mit dem Bestatter verschlossen sie ihn dann: „Es war ganz wichtig für mich, dass ich auch selbst eine Schraube daran festgezogen habe. Nur so konnte ich begreifen, dass er wirklich tot ist.“ Nach der Beerdigung feierten sie ein Fest mit Musik, Tanz, Geschichten und vielen Fotos. „Ich wollte keinen traurigen Leichenschmaus in einer Gaststätte, bei dem alle betreten vor sich hinschauen. Ich wollte ein Fest, bei dem geweint und gelacht wird.“ Rückblickend glaubt Lisa Maaßen, dass diese Rituale sie gerettet haben. Jedes einzelne war wichtig für sie: die Totenwache, den Sarg zuzuschrauben, ihren Mann gemeinsam mit allen, die ihm nahestanden, zu würdigen, sein Leben zu feiern und ihm posthum eine Liebeserklärung zu schreiben. Als besonders heilsam empfand sie es, nicht nur traditionellen Bräuchen zu folgen, sondern sie abzuwandeln und eigene zu entwickeln.
Übergang mit Zäsur
Alle Kulturen dieser Welt kennen Riten des Übergangs. Sie haben eine uralte Geschichte. „Rituale ziehen eine Grenze zwischen Vorher und Nachher, stiften eine Zäsur, gliedern die Zeit, wo sonst nur unmerkliche, fließende Übergänge wären. Sie trennen das alte Jahr vom neuen, Schuld von Unschuld, Recht von Unrecht, Kindheit von Erwachsensein, das Leben vom Tod“, schreibt die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger in ihrem Buch Rituale. In allen Gesellschaften helfen Rituale, die Schwellen im Lebenszyklus zu überschreiten, sei es bei der Geburt, in der Pubertät, beim Eintritt ins Erwachsenenleben, dem Beginn des Berufslebens, der Elternschaft, einer beruflichen Neuorientierung, bei Umzügen, Verlusten oder dem Tod.
In Phasen von Abschied, Trauer und Neubeginn geben Rituale Stabilität und Orientierung. „Sie sind in Krisenzeiten hilfreich und wichtig, weil sie feste Elemente haben und mitten in der Unsicherheit Gewissheit vermitteln und Struktur geben“, sagt der Psychotherapeut und Wirtschaftspsychologe Elmar Teutsch. Er setzt als Business-coach im Institut für Psychologie und Wirtschaft Telos auf die Kraft von Ritualen. Auch wenn die klassisch-religiösen Bräuche an Bedeutung verlören und von vielen als angestaubt und nicht mehr zeitgemäß erlebt würden, gebe es doch ein intuitives Wissen, dass Rituale wichtig sind, Sicherheit und Schutz bieten und Kraft für einen Neuanfang geben.
Selbst wenn sie sich von den überlieferten Formen lösen und modern interpretiert werden, sind die Übergangsbräuche und -rituale nicht beliebig:
Rituale haben einen festgelegten Ablauf. Dieses Muster ermöglicht Wiederholung und schafft einen sicheren Rahmen
Rituale arbeiten mit Symbolen (Briefen, Fotos, Steinen, Bildern) und symbolischen Handlungen wie eine Schwelle überschreiten, etwas verbrennen, vergraben, ein neues Symbol wählen
Ein Ritual hat ein bestimmtes Thema oder eine führende Metapher. Zum Beispiel: zurückfinden in den Alltag nach einer langen Krankheit; in eine neue berufliche Identität hineinwachsen; Trauer um einen geliebten Menschen bewältigen
Rituale sind emotional und sprechen mehrere Sinne an – sehen, riechen, fühlen, hören, sich rhythmisch bewegen. Alle Sinne sind ausgerichtet auf das Thema, um das es geht
Viele Rituale werden in einer Gruppe zelebriert. Wichtige Menschen, die das Ritual unterstützen, bezeugen und bekräftigen die Veränderung, um die es geht.
Elmar Teutsch ist wichtig, dass Rituale niemals verschrieben, sondern nur gemeinsam entwickelt werden können. Für Trauernde sei es beispielsweise hilfreich, ein Trauertagebuch zu führen. Er würde jedoch Klientinnen und Klienten, die einen Verlust erlitten haben, dies niemals auftragen. Stattdessen nennt er ihnen einige Beispiele, wie andere ihre Trauer bewältigen, und fragt dann: „Was könnte Ihnen am ehesten helfen?“ Oft kämen sie dadurch auf eigene Ideen. Zum Beispiel: täglich eine Kerze anzuzünden, sich an die guten gemeinsamen Momente zu erinnern, die Kerze bewusst zu löschen, sie am nächsten Tag wieder anzuzünden und das Ritual so oft zu wiederholen, bis die Kerze ganz heruntergebrannt ist oder es sich so anfühlt, als sei es jetzt gut.
Es heißt nicht umsonst Tauerarbeit
„Wir können Trauer nicht überspringen. Nicht umsonst sprechen wir von Trauerarbeit. Sie ist schmerzhaft, aber erst wenn wir alle Phasen durchlebt und durchlitten haben, entsteht innerlich Raum für den Neubeginn. Dabei helfen Rituale sehr“, sagt Elmar Teutsch. Welches Ritual stimmig ist, hängt auch davon ab, in welcher Trauerphase sich jemand befindet. „Sind wir noch vollkommen fassungslos, schockiert oder von heftigen Gefühlen überflutet, braucht es ein anderes Ritual, als wenn wir den Verlust weitgehend verarbeitet haben“ schreibt die Psychologin Marascha Daniela Heisig in ihrem Buch Sinn finden in der Natur. Heilsame Rituale für Lebensübergänge. Für manche Menschen sei es hilfreich, einen Baum oder Samen zu pflanzen. „Zu sehen, wie etwas Neues, Lebendiges wächst, kann Mut und Kraft geben.“
Dass Rituale trösten können und besonders bei Trauer hilfreich sind, konnten Michael Norton und Francisca Gino von der Harvard Business School in einer Studie zeigen. Sie baten 240 Menschen, über eine schmerzliche Erfahrung – den Tod eines geliebten Menschen oder das Ende einer wichtigen Beziehung – zu schreiben. Die Hälfte der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurde darüber hinaus gebeten, über ein Ritual zu schreiben, das ihnen damals geholfen habe. Eine Teilnehmerin berichtete zum Beispiel: „Ich wasche jede Woche sein Auto, so wie er es bis zu seinem Tod gemacht hat.“ Jemand anderes offenbarte nach einer Trennung: „Ich habe alle Fotos gesammelt, die wir in der Zeit unserer Beziehung aufgenommen haben. Ich habe sie in kleine Stücke gerissen, auch die, die ich wirklich mochte, und habe sie in dem Park verbrannt, in dem wir uns zum ersten Mal geküsst haben.“ Das Ergebnis: Personen, die ein Ritual gepflegt hatten – ob öffentlich oder privat, religiös oder weltlich –, hatten rückblickend das Gefühl, ihren Kummer schneller bewältigt und weniger Kontrollverlust erlebt zu haben.
Nach Ansicht des US-amerikanischen Hypnotherapeuten Stephen G. Gilligan stellen Rituale die vielleicht älteste Form der Psychotherapie dar. Sie sind heilsam und stärkend in allen Formen von Krisen. In solchen Zeiten, da unsere Identität fragil wird, kann sich die innere Welt in einem Ritual erweitern und neu ordnen. Es müsse deshalb gut und intensiv vorbereitet werden, damit es wirkt. Zur Vorbereitung gehört, zu klären, was genau in welcher Form verabschiedet werden soll, welche Gegenstände und welches Element dabei unterstützen kann. Elmar Teutsch arbeitet in seinen Seminargruppen regelmäßig mit Feuerritualen und macht immer wieder die Erfahrung, wie befreiend die Teilnehmer es finden, einen Zettel, auf dem etwas Belastendes steht, von dem sie sich trennen möchten, feierlich zu verbrennen.
Heilsames Element Feuer
Eine Betriebswirtin entschied sich für solch ein Feuerritual, um den Wechsel in ein neues Unternehmen bewusst zu gestalten. Zwischen dem letzten Arbeitstag bei der alten Firma und dem ersten Tag im neuen Unternehmen lagen nur sechs Tage. Diese Zeit wollte sie nutzen, um sich innerlich vorzubereiten. Sie zog sich in ein Häuschen im Wald zurück. „Ich war im letzten Jahr in meinem alten Job sehr frustriert und habe viele Kränkungen erfahren, die wollte ich nicht mitnehmen.“ Auf Waldspaziergängen ließ sie die letzten Jahre Revue passieren. Dann fertigte sie zwei Listen an: eine mit den guten, stärkenden Erfahrungen und eine mit dem, was sie gestört und verletzt hatte. Jeden Punkt von der Negativliste schrieb sie auf kleine Zettel. Sie machte ein großes Feuer im Garten, setzte sich davor, warf die Zettel nach und nach ins Feuer und schaute zu, wie sie verbrannten. Danach fühlte sie sich befreit und bereit für den Neuanfang.
Rituale in der Natur werden von jeher als besonders kraftvoll erlebt. Die Rhythmen der Natur spiegeln die Rhythmen der Lebensphasen wider. Im Zyklus von Erblühen, Wachsen, Vergehen und Sterben zeigt sich das Grundmuster des Lebens. In alten Zeiten zogen sich Menschen in wichtigen Übergangssituationen zum Fasten in die Natur zurück, um Stille und Mut zu finden und Lebensthemen zu klären. Kleine Rituale – wie etwas einen Fluss oder Wildbach hinuntertreiben lassen – knüpfen an dieses alte Wissen an. Auch schädliche Überzeugungen und alte Glaubenssätze, die nicht mehr passen, ließen sich mit Ritualen im Wald entkräften und verwandeln, meint Marascha Daniela Heisig. Sie regt dazu an, eine alte Überzeugung, zum Beispiel: „Ich bin nicht liebenswert“, in einen Stock zu sprechen, alle Gefühle, Bilder, Erinnerungen und Verletzungen zu fühlen, die mit der Überzeugung verbunden sind, und den Stock, wenn es an der Zeit ist, mit viel Energie zu zerbrechen und anschließend gedanklich etwas Neues, Konstruktives einzuladen.
Jugendliche brauchen Riten
Wenn der bewusste Übergang in eine neue Lebensphase fehlt, kann eine Lücke im seelischen Erleben entstehen, davon ist Heisig überzeugt. Gerade Jugendlichen fehlten heute Rituale im Übergang zum Erwachsenwerden. Sie möchten sich beweisen, Grenzen austesten und überschreiten, über sich hinauswachsen. In indigenen Kulturen gingen junge Erwachsene drei Tage auf Visionssuche, legten ihre alte Identität ab, mussten Mut und Stärke beweisen, kehrten mit einem Initiationsritus in die Gemeinschaft zurück und bekamen Aufgaben übertragen. Fehlen stärkende Rituale für Grenzerfahrungen jenseits von Drogenexperimenten, S-Bahn-Surfen oder derlei Mutproben, bleibe ein Teil der jungen Menschen in einer alten Lebensphase stecken. Auch die Ablösung vom Elternhaus und der spätere Einstieg in den Beruf bräuchten ein Übergangsritual. Manchen hilft es, Symbole für die alte und neue Identität zu finden oder herzustellen – Briefe, Fotos, Schmuck, Kunstgegenstände, Fundstücke aus der Natur – und diese Symbole für das Alte feierlich in der Erde zu vergraben oder sich mit einer kleinen Rede von ihnen zu verabschieden.
Um welchen Übergang es auch geht, das Prinzip ist immer gleich: Das Alte wird gewürdigt, mit einer symbolischen Handlung verabschiedet und das Neue begrüßt. Nicht nur der Einstieg ins Berufsleben, auch der Ausstieg aus ihm lässt sich so unterstützen. Die Beraterin Cornelia Schinzilarz hat dazu eine Ritualkarte mit einem Schild entworfen, auf dem in verschiedenen Sprachen „Ausgang“ steht. Sie empfiehlt, die Karte mit auf einen Spaziergang zu nehmen, innerlich mit dem Wort zu spielen, sich umzuschauen, sich inspirieren zu lassen, sich die verschiedenen Ein- und Ausgänge während des eigenen Arbeitsweges zu vergegenwärtigen, um dann mithilfe von Imagination den attraktivsten Ausgang zu finden. „Ich kann zum letzten Mal durch meine Bürotür gehen oder durch das Fabriktor und bin dann im Ruhestand“, erklärt sie.
Die Unterlagen schreddern
Eine Kundin fand durch die Ritualkarte heraus, dass ihr Ausgang die kleine Allee war, in die sie nach dem Aussteigen aus der Tram immer einbog. „Das Fantasieren über Ausgänge macht viel Spaß und hilft, das Weggehen zu gestalten. Das Ankommen auf der anderen Seite fühlt sich dann anders an.“ Elmar Teutsch lässt seine Klienten aus Bildern von Türen eine auswählen, die ihnen attraktiv erscheint, und fantasieren, was sich hinter dieser Tür verbirgt. „Da kommen oft ganz andere Antworten, als wenn man fragt: Was wollen Sie die nächsten zehn Jahre machen?“
Wer mit Türbildern nichts anfangen kann oder die Vorstellung, etwas unter einem Baum zu vergraben, zu esoterisch findet, hat vielleicht Freude daran, die alten Unterlagen bei lauter Musik zu schreddern. Auch das kann ein Übergangsritual sein. Entscheidend ist, eine Form zu finden, die zu einem passt und sich gut anfühlt, dann eine Reihenfolge für den Ablauf festzulegen und das Ritual ernst zu nehmen. So kann ein Ritual trösten und inspirieren, Orientierung geben und Kraft, ermutigen und erheitern – sowie innerlich bereit machen für etwas Neues.
* Name von der Redaktion geändert
1. Der Zweck des Rituals
Wozu soll das Ritual dienen? Soll etwas gewürdigt, verabschiedet oder begrüßt werden? Soll etwas Erreichtes gefeiert oder etwas Bestehendes erneuert werden? Was soll danach anders sein? Um welches zentrale Thema soll es in dem Ritual gehen?
2. Eine transformierende Handlung finden
Welche Handlung passt zu Ihrer Absicht? Welches Element (Erde, Feuer, Wasser, Luft) wählen Sie?
3. Ein Symbol aussuchen
Welche Symbole aus der Natur oder andere Gegenstände erscheinen Ihnen passend? Auch Worte, Gedichte, Kraftsätze haben Symbolcharakter.
4. Ort und Zeit
Was ist ein guter Ort für Ihr Ritual? Soll es ein bekannter oder unbekannter Ort sein? Nahe an Ihrem Zuhause oder eher abgeschieden? Wie lange soll das Ritual dauern?
5. Wer soll dabei sein?
Wer außer Ihnen selbst soll am Ritual teilnehmen? Welche Rolle sollen die anderen übernehmen? Aktiv mitmachen oder einfach nur dabei sein und unterstützen?
6. Selbstverantwortung übernehmen
Wenn Sie ein einschneidendes Thema mit einem Ritual bearbeiten wollen, fragen Sie sich, ob Sie mit den aufwühlenden Gefühlen allein klarkommen oder das Ritual lieber von einer erfahrenen Person begleiten oder vor- und nachbereiten lassen möchten.
Literatur
Marascha Daniela Heisig: Sinn finden in der Natur. Heilsame Rituale für Lebensübergänge. Patmos, Ostfildern 2013
Cornelia Schinzilarz und Charlotte Friedli: Rituale für Veränderungsprozesse. Beltz, Weinheim 2018
Barbara Stollberg-Rillinger: Rituale (2. Auflage). Campus, Frankfurt 2019
Michael I. Norton und Francesca Gino: Rituals Alleviate Grieving for Loved Ones, Lovers, and Lotteries. Journal of Experimental Psychology: General, 143/1, 266–272. DOI: 10.1037/a0031772