Besser sterben

Wann und wie wir sterben, wissen wir nicht. Aber wir können beeinflussen, in welcher Stimmung wir das tun – indem wir am Ende nichts bereuen.

Im Kreis seiner Lieben flüstert der Sterbende ein paar bedeutungsvolle letzte Worte, schließt dann die Augen. Er verlässt die Welt voller Frieden im Gesicht, vielleicht sogar mit einem Lächeln, als spaziere er auf Zehenspitzen und Hand in Hand mit dem Tod davon. So geht Sterben – in vielen Filmen zumindest. In der Wirklichkeit serviert der Tod schon mal ein Kontrastprogramm: wochen- und monatelanges Hadern. Zweifel und Verzweiflung. Fragen, Sorgen, Ängste. Morphium, das die Schmerzen vertreibt, aber nie die…

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Verzweiflung. Fragen, Sorgen, Ängste. Morphium, das die Schmerzen vertreibt, aber nie die inneren Dämonen: Das Gefühl, der Welt noch etwas schuldig zu sein. Reue über das, was war und nicht war. Einsames Warten auf den Enkel oder die Tochter, die nicht kommen werden, weil man sich vor Jahren schon entzweit hat. Der Kampf um jeden Augenblick, weil man die Lieben nicht allein lassen will. Oder Schuldgefühle, die Familie so leiden zu lassen. Nach Happy End klingt das alles nicht.

„Jeder stirbt seinen eigenen Tod“, beobachtete die Hamburger Hospizmitarbeiterin und Palliativpflegekraft Sandra Engels bei vielen Sterbenden, „Menschen sterben oft so, wie sie gelebt haben.“ Eine Erkenntnis, die Psychologen und Sterbebegleiter gerne bestätigen – und die vor allem eines bedeutet: Wir haben nicht nur unser Leben in der Hand, sondern auch die Stimmung, in der wir uns daraus verabschieden. Der erste Schritt zum guten Ende besteht darin, sich genau das bewusstzumachen und öfter mal ans Sterben zu denken.

Das Leben vom Tod her verstehen

In den letzten Jahren kam der Tod bereits ein wenig aus der Tabuzone; über das Sterben zu sprechen verlor immer mehr seinen Schrecken. Noch vor zehn Jahren gaben 75 Prozent aller Männer und 63 Prozent aller Frauen in einer Studie der Universität Hohenheim an, die eigene Endlichkeit zu verdrängen – sogar bei den Befragten im Alter über 70 verweigerte sich jeder Zweite dem bloßen Gedanken. Nach einer aktuellen Studie jedoch setzen sich 83 Prozent aller Deutschen inzwischen mit dem Thema auseinander – unter den 18- bis 29-Jährigen sind es immerhin 72 Prozent. Eine kluge Wandlung: Denn obwohl mehr als jeder Zweite auf einen Herzinfarkt im Fernsehsessel hofft oder darauf, einfach tot umzufallen, scheidet nicht mal jeder Zwanzigste auf die Schnelle aus dem Leben – 95 Prozent aller Deutschen erleben einen bewussten Sterbeprozess, in dem man sein eigene Leben unter Umständen aus einer völlig anderen Perspektive erlebt – im Rückblick, in einer Bilanz. Und oftmals ziemlich schonungslos: „Alle emotionalen Päckchen und Pakete, die sich im Lauf des Lebens nach und nach angesammelt haben oder die unterdrückt wurden, brechen im Sterbeprozess noch einmal auf und können ihn behindern“, sagt Palliativschwester und Heilpraktikerin Dorothea Mihm. Eine Phase, die übrigens auch fast alle religiös angehauchten Sterbekonzepte der Welt beschreiben – unter anderem Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben. Der Tod ist danach eine Art Rückentwicklung, bei der auch die Schutzschichten, die wir um unsere Seele gewickelt haben, langsam abgetragen werden. „Im Sterbeprozess lässt sich nichts mehr unterdrücken oder unter den Teppich kehren“, sagt Mihm. Das, was wir jahrelang womöglich erfolgreich ausblendeten, stürmt nun ins Bewusstsein. Das Beste kommt zum Schluss? Nicht wirklich.

Eine wichtige Vorsorgemaßnahme fürs bessere Sterben ist daher ganz klar: dem Seelenblues frühzeitig vorbeugen. „Um gut zu sterben“, so Gian Domenico Borasio, Professor für Palliativmedizin an der Universität Lausanne, „empfiehlt es sich, so früh wie möglich das Leben vom Tod her zu verstehen.“ Das bedeutet auch, frühzeitig die Perspektive zu wechseln und möglichst schonungslos in die eigene Vergangenheit zu schauen, bevor das Leben mit einem Blick zurück in Zorn und Bedauern endet. Und im Kopf zu behalten, was wirklich zählt. Es sind vor allem Männer, die ihre Prioritätensetzung am Ende als falsch betrachten und bereuen, zu viel gearbeitet zu haben, bemerkte die australische Palliativschwester Bronnie Ware. Weitere Reuepunkte: sich zu wenig um Familie und Freunde gekümmert, immer gemacht zu haben, was andere erwarteten. Aus den Tretmühlen nicht einfach ausgestiegen zu sein, für falsche Ziele aufs eigene Glück verzichtet zu haben.

Auch die Berliner Psychotherapeutin Cornelia Sinz, die unter anderem Weiterbildungen zu den Themen Tod und Sterben anbietet, hält viel von Zwischenbilanzen: „Zum Beispiel kann man anlässlich der eigenen Geburtstage immer mal fragen: Was habe ich erreicht, wie sieht mein Leben eigentlich aus? Das hilft, realistischer auf seine eigene Biografie zu schauen.“ Halt­machen im Alltag, zurückblicken – und notfalls Kurskorrekturen vornehmen. Bevor es zu spät dafür ist. Sinz ermuntert Klienten bisweilen sogar, sich bis ins kleinste Detail vorzustellen, vom Arzt eine niederschmetternde Diagnose und damit das Todesurteil zu bekommen: „Die Reaktion auf diese Übung ist oft überraschend“, stellte sie fest. „Die Leute fühlen ihre Ängste sehr konkret, aber sie merken auch oft, dass ihnen plötzlich ganz andere Menschen und letzte Dinge wichtig sind, als sie dachten.“

Wer war ich im Leben – und wer wollte ich sein? Es sind diese zwei letzten wichtigen Fragen, die fast jeder sich im Angesicht des Todes stellt. Und die Antwort sollte einen gerade dann nicht erschrecken. Doch viele Sterbende verstehen erst im buchstäblich letzten Moment: Das war mein Leben. Es gibt keine zweite Chance und keine Möglichkeit mehr, zu tun, was man immer aufgeschoben hat für später.

Formeln wie „carpe diem“ und „Genieße jeden Augenblick“ machen sich zwar gut auf Postkarten, sind aber wenig alltagstauglich: Die Pflichten überrumpeln die Kür schon mal, und sich dazu noch ständig zum Genießen zu ermahnen erzeugt völlig unnötigen Druck. Keiner erwartet am Ende, alles gehabt zu haben – schon gar nicht, wenn er womöglich als junger Mensch sterben muss. Aber gemacht zu haben, was möglich war, und nicht völlig neben der eigenen Spur gelebt zu haben, verhindert das Gefühl der Torschlusspanik. Daniel Schäfer, Christof Müller-Busch und Andreas Frewer beschreiben in ihrem Plädoyer für eine „Ars moriendi nova“ eine vernünftige mentale Vorbereitung auf das Sterben für jedermann als eine Art Sättigung: „So spiegelt sich die Einstellung zum Leben insgesamt in der modernen Sterbekunst wider – nämlich einer Kunst, anstelle eines vielfältigen ‚Noch mehr‘ ein überzeugtes ‚Genug‘ zu setzen.“ Viele alte Menschen wollen gar nicht unbedingt länger leben, erfährt Joachim Dauber, Pflegedienstleiter im Hamburger Altenheim Haus Flottbek-Nienstedten, immer wieder. „Weil sie alles gemacht haben, was sie wollten und was für sie möglich war. Weil sie nicht das Gefühl haben, da könnte noch mehr kommen.“ Lebenssatt, aber nicht lebensmüde. Und relativ wunschlos glücklich.

Sterben ist der letzte große Abschied. Eine Generalprobe gibt es nicht. Wohl aber eine Folge kleiner Übungen, die einfach darin bestehen, bewusst loszulassen. Eigentlich Alltagsgeschäft, denn wir müssen uns ständig verabschieden – von Gedanken, Ideen, Träumen, Menschen. Von Dingen, die wir verschenken oder die uns verlorengehen. Ärger, Wut, Neid oder andere Quälgeister-Gefühle loszuwerden ist dagegen schon eine andere Hausnummer. Der Schlüssel dazu: Akzeptanz. Einigen Menschen, stellte Borasio fest, helfen Achtsamkeitsübungen, die alle Konzentration auf den Augenblick lenken, auch Meditation kann ein probates Mittel sein, seinen Frieden mit der Welt, dem eigenen Leben und auch dem eigenen Tod zu machen. Der Palliativexperte weiß von unheilbar Kranken an Beatmungsschläuchen, die ihren Zustand letztlich akzeptieren lernten – und ihre Lebensqualität vielleicht gerade aus dem Gefühl, ihren Frieden mit der eigenen Situation gemacht zu haben, als gut bezeichneten.

Und was ist mit dem Glauben als Ausstiegshilfe? Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war die Überzeugung, nach dem irdischen Dasein die zweite Heimat im Himmel zu finden, für alle Menschen gängige Heilslehre und ein echter Trost; vor allem im katholischen Glauben gab es verschiedene kleine Maßnahmen, die man dafür ergreifen konnte, berichtet der Hamburger Historikprofessor Norbert Fischer: „Man zündete Kerzen an oder stiftete etwas und wollte damit dafür sorgen, dass es einem auch nach dem Tode gut ginge. Man nahm den Menschen damit viel Angst vor dem Tod.“ Was das Sterben früher ebenfalls erleichterte: Es gehörte im Bewusstsein schon durch die hohe und frühe Sterblichkeit viel stärker zum Leben, war mit selbstverständlichen Ritualen verbunden. Fischer: „Heute geht es eher in Richtung selbstverwirklichtes Sterben – dafür gibt es keine festen Rituale, keinen klaren Rahmen mehr. Die Verunsicherung ist für viele Menschen dadurch größer.“ Dennoch vermag religiöser Glaube das Sterben zu erleichtern: 37 Prozent der befragten Krebspatienten mit starkem Glauben gaben an, trotz großer Schmerzen noch sehr viel Freude am Leben zu haben – was nur 8,1 Prozent der Ungläubigen von sich behaupteten.

Es gibt also durchaus Wege, sich das Sterben weniger schwer zu machen. Der beste und wirksamste: im Blickkontakt mit dem Tod zu leben, ihn nicht auszublenden.

„Der Tod“, konstatierte der österreichische Psychotherapeut Alfried Längle einmal, „könnte ein bisschen mehr Publicity vertragen.“ Zumindest die 700 Death Cafés, im Internet angekündigte Gesprächstreffen, die es mittlerweile in 17 Ländern gibt, nehmen den Werbeauftrag offenbar ernst: In lockeren Gesprächen, in netter Atmosphäre und bei Kaffee und Kuchen geht es dort um nichts anderes als den Tod. Kein schlechter Anfang für ein gutes Ende.

Literatur

  • Gian Domenico Borasio: Über das Sterben. Was wir wissen. Was wir tun können. Wie wir uns darauf einstellen. Dtv, München 2014

  • Dorothea Mihm, Annette Bopp: Die sieben Geheimnisse guten Sterbens. Kailash, München 2014

  • Daniel Schäfer, Christof Müller-Busch, Andreas Frewer: Perspektiven zum Sterben. Auf dem Weg zu einer Ars moriendi nova? Ohlsdorf – Zeitschrift für Trauerkultur, 121, II, 2013

  • Bronnie Ware: 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen. Goldmann, München 2015

Unter­richtsstoff: Der Tod

Sterben und alles, was damit zusammenhängt, ist ein Thema, das viele Menschen beiseitedrängen. Doch in einer amerikanischen Universität stehen Studenten Schlange, um sich in einem Seminar der Dozentin Norma Bowe mit Tod und Sterben zu beschäftigen

Frau Bowe, das Seminar über den Tod, das Sie seit 15 Jahren an der Kean University in New Jersey unterrichten, gehört zu den beliebtesten auf dem ganzen Campus. Die Wartezeit beträgt mehr als drei Jahre. Was zieht so viele Studenten in Ihren Kurs?

Für manche ist der Kurs Teil des Curriculums. Aber viele haben auch persönlich einen Verlust erlebt. Es kann auch um einen Tod gehen, der noch gar nicht eingetreten ist. Viele Studenten suchen einen Ort, an dem sie darüber sprechen können, was sie erwartet, wenn jemand stirbt; was sie sagen oder tun sollen; was passiert, wenn man trauert.

Exkursionen sind ein wichtiger Teil des Kurses. Was lernen die Studenten bei diesen Ausflügen?

Das sind ganz unterschiedliche Dinge, von pragmatischen Informationen über eine Beerdigung bis hin zur Frage, wie man sein Leben gestalten will. Im Bestattungsinstitut beispielsweise lernen die Studenten über die verschiedenen Behörden, die Beerdigungen regulieren, den Unterschied zwischen Leichenkonservierung, Erd- und Feuerbestattung. Ich lasse sie auch ihre eigene Beerdigung planen und sich einen Sarg oder eine Urne aussuchen. Das führt dann oft dazu, dass sie zu Hause mit ihren Eltern darüber reden und beginnen, Fragen zu stellen: „Was würdest du für deine Beerdigung wollen, Mom?“ Oder: „Was glaubst du, Dad, würde der Großvater wollen?“ Es öffnet also die Tür zu den schwierigen Gesprächen, die wir alle mit unseren Lieben führen sollten. Denn wenn man sie nicht führt, überlässt man es den Hinterbliebenen, herauszufinden, was man wohl gewollt hätte.

Sie gehen mit den Studierenden auch auf Friedhöfe.

Ja, ich schicke die Studenten dort auf eine Art Schnitzeljagd, bei der sie 25 Dinge entdecken müssen. Beispielsweise wahre Liebe. Wir spazieren über den Friedhof, lesen die Inschriften auf den Grabsteinen und erfahren so, welche Art von Leben die Leute geführt haben, wen oder was sie geliebt haben. Man sieht vielleicht das Grab einer Mutter, die schon vor 20 Jahren verstorben ist, und immer noch stehen frische Blumen dort.

Die Autopsie, der Sie mit den Studenten vom Anfang bis zum Ende beiwohnen, ist sicher weniger angenehm. Wie reagieren die Studenten darauf?

Die Person auf dem Tisch ist oft jung. Denn eine Autopsie findet nur statt, wenn ein Suizid, ein Tötungsdelikt, ein Autounfall oder verdächtige Umstände vorliegen. Die Studenten sehen die autopsierte Person und denken: „Das könnte ich sein.“ Das führt zu den ergiebigsten Diskussionen. Vor allem sehen die Studenten den Tod ganz nah.

Hat schon mal jemand im Nachhinein bedauert, der Autopsie beigewohnt zu haben?

Nein, in den 15 Jahren, die ich den Kurs nun gebe, habe ich das noch niemals erlebt. Praktisch alle Studenten verlassen die Autopsie mit mehr Dankbarkeit für das eigene Leben. Wir dürfen keinen Herzschlag, keinen Moment als selbstverständlich ansehen. Wir müssen ein gutes Leben führen, denn es wird irgendwann zu Ende sein. Das ist die Botschaft, die die Studenten in aller Regel mitnehmen.

In einem Blog haben Sie mal geschrieben: „Ich habe gelernt, mit dem Tod Freundschaft zu schließen, um leben zu können.“ Was meinen Sie damit?

Wenn man nicht begreift, dass man sterblich ist, dass man hier nicht ewig bleibt, wenn man das nicht wirklich erfasst, dann wird man das Potenzial seines Lebens nicht voll ausschöpfen. Ich habe wirklich das Gefühl: Weil ich weiß, dass ich vergänglich bin, dass der Tod jederzeit kommen kann, lebe ich anders. Ich bin dankbarer, ich gehe viele Dinge spielerischer an, ich schiebe nichts unnötig auf.

INTERVIEW: ANNETTE SCHÄFER

Norma Bowe ist Professorin an der pädagogischen Fakultät der Kean University in New Jersey. Mit ihrem Seminar Death in perspective erregte sie landesweit Aufmerksamkeit. Bowe bietet auch Trauerseminare für Leute in Pflegeberufen und andere Interessierte an. Im Rahmen der von ihr gegründeten Initiative Be The Change organisiert sie zudem gemeinnützige Projekte, zum Beispiel im Umweltschutz, in der Obdachlosen- und Drogenhilfe.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2016: Heimat finden