Geschichten schreiben, um dem Schweigen zu entfliehen

Im Interview erzählt Schriftsteller Saša Stanišić über Krieg, Flucht, Fremdsein in der neuen Heimat und das Geschichtenschreiben als Bewältigungsform.

Der Schriftsteller Saša Stanišić steht beleuchtet vor einer mit Efeu bewachsenen Wand
Saša Stanišić schrieb einige spannende Bücher, darunter Vor dem Fest, Herkunft und Wolf. Der Autor ist unter anderem Träger des Deutschen Buchpreises. © Melina Mörsdorf für Psychologie Heute

Saša Stanišić steht vor dem Haus des ­Carlsen-Verlags in Hamburg und winkt. Drinnen im Foyer hängt eine Schaukel von der hohen Decke, an den Wänden laden die bunten Cover der Bücher zum Blättern ein. Bevor es an diesem Morgen losgeht mit dem Interview bietet der Schriftsteller erst einmal frische Franzbrötchen an, eine Spezialität der Stadt. Und erzählt dann gleich so anregend über sein Leben und die Literatur, dass man glatt vergisst, bei den süßen Teilchen zuzugreifen.

Der Autor, der viele Preise für…

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die Literatur, dass man glatt vergisst, bei den süßen Teilchen zuzugreifen.

Der Autor, der viele Preise für seine Werke erhalten hat, erweist sich auch im persönlichen Gespräch als großartiger Geschichtenerzähler. Schon als Kind unterhielt Saša Stanišić Eltern und Freunde mit den Abenteuern eines schwebenden Zauberers, bei dem alles schiefgeht. Nun erzählt er mir, bei welchem Buch er als Leser Gänsehaut bekam und warum sein kürzlich erschienener Jugendroman Wolf mit einem Gefühl der Schuld begann.

Auf der ersten Seite Ihres Debütromans Wie der Soldat das Grammofon repariert sagt der Opa zu seinem Enkel Aleksandar: „Die wertvollste Gabe ist die Erfindung, der größte Reichtum die Fantasie.“ Wie haben Sie selbst diese Gabe der Erfindung in sich entdeckt?

Ich verstehe das bis heute nicht als Gabe, sondern als Lust am Erzählen von Geschichten. Meine Lust entsprang der Liebe zur Literatur, die ich als Rezipient empfand. Dieses Gefühl beim Lesen wollte ich bei anderen erzeugen. Also schrieb ich schon als Kind Geschichten und Gedichte, und ich suchte auch sofort Publikum. Ich erzähle das deswegen, weil mir die Reaktionen damals wichtig waren. Ich habe nämlich Lob bekommen: „Mach doch weiter!“ „Es ist gut, was du machst.“ Damals habe ich gemerkt, dass Worte – und dann auch noch meine – eine Wirkung haben können.

Verraten Sie uns, wie eine solche frühe Geschichte von Ihnen aussah?

Gerne. Die Situation dazu ist auch ganz schön. Wir hatten zu Hause im Wohnzimmer, noch in Bosnien, ein Sofa, das man aufklappen konnte. Normalerweise sind da Laken und so etwas drin. Aber meine Eltern hatten das mit Büchern für mich gefüllt. Ich kam aus der Schule, habe mich sofort da hineingelegt und gelesen oder eben geschrieben.

Das klingt nach einem idealen Rückzugsort.

Ich war mitten im Wohnzimmer und trotzdem irgendwie versteckt. Damals las ich viele fantastische Geschichten und hatte dann die Idee, einen kleinen Zauberer zu erschaffen, ein tollpatschiges, schwebendes Wesen. Eines Abends erscheint der bei einem Jungen und sagt: „Sei gegrüßt, Meister der Langeweile. Sie haben mich geschickt, um dich zu holen. In unserem Land herrscht ein böser König und unterjocht uns durch Langeweile. Wir dürfen nicht spielen, wir dürfen nicht arbeiten, wir dürfen gar nichts machen. Du musst uns helfen.“

Und der Zauberer nimmt den Jungen mit in sein Zauberland, wo sie viele Abenteuer erleben. Egal was der Zauberer will, es passiert immer etwas anderes. Er will sich unsichtbar machen, aber wird riesig groß. Hunderte von Seiten habe ich in den leeren Terminkalender von meinem Vater geschrieben. Ich habe das nie veröffentlicht, aber meinen Eltern und Freunden daraus vorgelesen.

Wie alt waren Sie zu dieser Zeit etwa?

Ich glaube, ich war elf. Neulich habe ich darüber nachgedacht, weil mein Sohn gefragt hat: „Wann hast du eigentlich angefangen, Geschichten zu schreiben?“

In diesem Alter steht man ja an der Schwelle zur Pubertät. Welche Rolle hat das Schreiben für Ihre Selbstfindung gespielt?

Das ist eine gute Frage, weil das bei mir zweigeteilt ist. Der eine Teil der Selbstfindung findet noch in Bosnien statt, vor dem Krieg, und der zweite später in der Pubertät – in Deutschland. Es war aber eher das Lesen, das mich geprägt hat, als das Schreiben. Ich habe so viel Zeit mit den Büchern verbracht wie ein Kind in meinem Alter heute wahrscheinlich mit dem Smartphone und mit Computerspielen. Nicht viele Kinder schreiben Geschichten. Und wenn, dann sind es nicht solche Romane. In der Schule in Bosnien bin ich in die Literatur-AG eingetreten, da war ich schon zwölf, dreizehn. Alle wussten: Ach, das ist der mit den Geschichten. Schreiben war auch ein Distinktionsmerkmal.

Sie verließen Bosnien – zunächst mit Ihrer Mutter – 1992 als Kriegsflüchtling. Welchen Reim haben Sie sich auf die offizielle Geschichte gemacht, die ihre private Welt aus den Angeln gehoben hat?

In Jugoslawien gab es ja eine ganz starke Erzählung, bis in die 1980er Jahre hinein, was dieses Land für uns, die Bürger des Landes, sein soll, was es von uns erwartet und was es uns gibt. Es waren diese Erzählungen von Brüderschaft: Wir ziehen alle an einem Strang, wir sind klar positioniert zwischen den Blöcken, wir gehören nicht der Sowjetunion. All diese ideologischen, sozialistischen, staatsverordneten Inhalte kannten auch wir Kinder. Wir haben sie gelebt, als Pioniere zum Beispiel.

Als Kinder haben wir sie wahrscheinlich sogar noch weniger gefiltert, als ein Erwachsener es tun würde. Man hat gemerkt, dass uns diese ethnische und nationale und religiöse Trennung viel mehr mitnimmt und viel mehr überrascht als die Erwachsenen, weil wir allem meistens unkritisch und mit voller Breitseite ausgesetzt waren. Das hat sich auch widergespiegelt in dem, was ich geschrieben habe. Neben meinen fantastischen Geschichten gab es Gedichte und kürzere Erzählungen, in denen es meistens um Partisanen und den Volksbefreiungskampf ging…

So geschrieben, dass man sie direkt für die patriotische Erziehung in den Schulen hätte drucken lassen können?

Absolut [lacht]. Ich hatte wenig Zugang zu kritischen Medien und Auseinandersetzungen mit der jugoslawischen Geschichte. Für mich war das eine knallharte Siegesgeschichte, dass wir es im Zweiten Weltkrieg geschafft haben, gegen den übermächtigen Gegner aus Deutschland und auch Italien zu bestehen und dann dieses Land zu gründen. Erst später kam die Auseinandersetzung mit dem, was für mich als Kind unsichtbar gewesen war, mit Zensur und mit politischen Gefangenen oder mit der Tatsache, dass Menschen echte Aufstiegschancen nur dann hatten, wenn sie in der Partei waren.

Der Krieg als Thema kam dann später gleich in den ersten Geschichten vor, die ich nach der Flucht in Deutschland geschrieben habe. Und mit dem Krieg kamen Gefühle wie Ohnmacht und Angst in mein Erzählen. Ich beobachtete auch meine Familie mehr und nicht nur mich, beobachtete die anderen Flüchtlinge. Ihre Geschichten bewegten mich noch mehr als meine eigene. Ich war zu Beginn in Deutschland also mehr ein Autor, der Zuhörer war, als einer, der nur in sich hineinhört und daraus Geschichten bezieht.

Welche Auswirkungen hatte das auf Ihr Schreiben?

Vorher in Bosnien stand vor allem die Lust und Freude am Erfinden im Vordergrund. Als wir nach Deutschland kamen, ich war vierzehneinhalb, war das Schreiben notwendig geworden, um dem Alltag zu entkommen und das Geschehene zu verarbeiten. Dass ich zum Beispiel Tagebuch schrieb, hat mir geholfen, diese prekäre, extrem schwierige Zeit zu meistern und meine Gedanken zu sortieren.

Ich war in der Pubertät, und wir waren absolut arm. Das Leben, das wir vorher so selbstverständlich genossen hatten, auch mit den vielen Büchern, war von einem Tag auf den anderen vorbei. Das Schreiben und später auch wieder das Lesen wurden wirklich meine Inseln der Ruhe und Gelassenheit. Sie waren eine eigene Welt, in die ich mich bewusst begeben habe, um der Wirklichkeit für eine Weile zu entfliehen. Aber auch um mich in der Wirklichkeit zu orientieren.

Haben Sie in Deutschland einen mit dem bosnischen Sofa vergleichbaren Rückzugsort gefunden?

Ich glaube, ich habe noch nie darüber nachgedacht. Tatsächlich habe ich, wenn ich in Heidelberg geschrieben habe, immer Einsamkeit gesucht. Es gab zwei Orte: die Bücherei bei uns an der Schule in Heidelberg, die viele Ecken hatte, in denen keine Kinder waren. Dorthin habe ich mich oft zurückgezogen, um zu lesen. Zu Hause war einfach zu viel Stress. Und wir lebten am Anfang auch mit vielen anderen Menschen zusammen. Es war unmöglich für mich, in dem kleinen Raum Ruhe zu finden.

Und der zweite Ort war in den Weinbergen. Es gab da am Waldrand zwei Jägerstände. Dort oben habe ich mich hingesetzt und viel Zeit mit Büchern verbracht und dann auch mit dem Schreiben. Es ging ja um eine Art Geborgenheit, aber auch um diese Atmosphäre: Ich bin jetzt hier, nur für mich.

Wann kam bei Ihnen der Wunsch auf, Schriftsteller zu werden?

Schon als Jugendlicher in Jugoslawien habe ich darüber nachgedacht: Wie geht man das an? Wie macht man so ein Buch? Dann kam der Krieg und ich vergaß die Idee. Das Meistern des Alltags war mein einziger Wunsch. Die Ungewissheiten beseitigen: Können wir in Deutschland bleiben oder müssen wir zurück? Was ist mit dem Krieg? Unser Leben war ein kontinuierlicher Versuch, für Kontinuität zu sorgen, für ­Sicherheit, für Geld. In alldem habe ich mich ein bisschen verloren. Geblieben ist aber dieses Gefühl von Geborgenheit aus dem Schreiben heraus. Und dass ich immer noch fast alles für ein Publikum schrieb.

Ich habe schon die ersten Geschichten über den Krieg, über das Flüchtlingsein sofort meinem Lehrer gezeigt. Und der hat sie dann meiner Klasse zum Interpretieren mitgebracht, unter Pseudonym. Das fand ich toll und war wieder erfüllt von diesem alten Gefühl: Jetzt lesen sie meine Worte und machen sich Gedanken darüber.

Wie eine Lesung im kleinen Kreis.

Ja, genau. Während des Studiums habe ich dann gemerkt, dass von allen Dingen, die ich im Leben machte, das Lesen immer noch etwas war, das mir die größte Freude bereitete. Ich habe Slawistik studiert. Mit der russischen Literatur kannte ich mich vorher nicht aus, und sich das dann alles so anzueignen und zu lesen, Isaak Babel und die ganzen tollen Autoren, das hat etwas mit mir gemacht. Das war wieder so eine ähnliche Erfahrung wie in der Kindheit. Plötzlich kamen andere Welten und eine andere Literatur zu mir. Ich schrieb daraufhin wieder mehr. Es war, als hätten diese Autorinnen und Autoren etwas bei mir geölt, ein Rädchen, das ein bisschen verrostet war.

Welche Leseerlebnisse waren für Sie besonders wichtig?

Als ich Isaak Babel zum ersten Mal gelesen habe, hatte ich immer wieder Gänsehaut am ganzen Körper. Sein Roman Die Reiterarmee ist bis heute meine absolute Lieblingslektüre. Babel hat zusätzlich Tagebuch geführt, später wurde beides auch parallel veröffentlicht. In der Reiterarmee setzt er sich fiktiv mit seiner Zeit als Kriegsberichterstatter auseinander. Er tritt unter falschem Namen der damaligen kosakischen Armee bei. Er ist Jude, tut aber so, als sei er nicht jüdisch, und bleibt unerkannt. So muss er zusehen, wie sein Volk abgeschlachtet wird, und darf sich nicht verraten.

Er schreibt über all die Dinge, all die Begegnungen in seinem Tagebuch in einer unglaublichen Bildsprache. Und überträgt sie aber noch einmal als fiktionale Geschichten in Die Reiterarmee. Die beiden Bücher – den Roman und das Tagebuch – habe ich nebeneinander gelesen. Mich hat umgehauen, wie stilistisch eigen das war, wie intensiv, wie traurig. Welche Bilder er findet für den Schmerz, für die Verleugnung der eigenen Identität. In meinem Roman Vor dem Fest wird ein russischer Soldat gezwungen, ein Schwein zu erwürgen, bei Babel ist es eine Gans. Ich verweise in meinen Büchern oft auf ihn.

Ihr Debütroman von 2006, Wie der Soldat das Grammofon repariert, war ein Erfolg und landete direkt auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Wie haben Sie diesen Schritt in die Öffentlichkeit erlebt?

Das Buch wurde extrem biografisch gelesen: Ja, ja, der Flüchtling erzählt uns eine Geschichte. Dabei hatte ich nicht mehr als ein paar Details aus meinem Leben genommen, wo meine Mutter gearbeitet hat etwa. Der Rest ist weitgehend erfunden. Bei öffentlichen Auftritten wurde ich dennoch häufig eins zu eins mit Aleksandar, dem Protagonisten des Romans, gleichgesetzt. Und das Interessante dabei war: Die Vorurteile, die Klischees der Leute konnte ich erleben in der Art, wie sie über meinen Protagonisten gesprochen haben, von dem sie ja annahmen, das sei ich: Ah, bei euch isst man diese Menge an Pflaumen, das ist ja wie in einem Film von Kusturica!

Mit Herkunft gewannen Sie dann 2019 den Deutschen Buchpreis und 2022 war das Buch auch für den amerikanischen ­National Book Award for Translated Literature nominiert. In Herkunft, wie auch in anderen Ihrer Werke, gehen Sie sehr spielerisch mit Sprache um. Das Lesepublikum kann das Ende selbst mitbestimmen und sogar mit einer dementen Großmutter post mortem auf Drachenjagd gehen.

Ob es multiperspektivische Erzählungen sind oder choose your own adventure wie im Fall von Herkunft: Es gibt immer einen Anlass, warum ich das mache. Nur für das Spiel mache ich es nicht. In dem Fall der Großmutter: Dass sie tot ist, heißt ja nicht, dass die Geschichte von ihr als Mensch vorbei wäre. Ich schreibe weiter über sie, und während ich schreibe, verarbeite ich die Trauer und nehme Abschied.

Es gibt Wege und Mittel, einen Menschen in uns selbst leben zu lassen, in Erinnerungen oder eben in solchen Fiktionen. Man erschafft Geschichten, in denen die Figur so handelt, wie die echte Person im Leben wohl gehandelt hätte.

Sie durchbrechen das aber auch, indem Sie die Großmutter einmal sagen lassen: „Das Erzählen hält mich nicht am Leben, Saa! Du verwandelst Funken in Feuerodem. Du übertreibst!“

Meine Oma hätte mich auch gescholten, wenn sie noch am Leben gewesen wäre. Die Oma, die ich erschaffe, ist ihr Spiegelbild. Die echte hätte sogar gesagt: Nein, Saa, so rede ich nicht und will auch nicht so reden!

Die Großmutter in Herkunft sagt auch: „Eine gute Geschichte ist, wie früher unsere Drina war: nie stilles Rinnsal, sondern ungestüm und breit. Zuflüsse reichern sie an, sie brodelt und braust, tritt über die Ufer.“ Dieses Freiheitsliebende findet sich auch in Ihren Büchern.

Literatur, die mich beschäftigt, die ich gut finde, erzählt tatsächlich nicht nur eine chronologische Geschichte, sondern springt und mäandert. Das gilt auch für die Lebensgeschichten. Sie sind ein Mosaik an Begegnungen. Und ich weiß inzwischen aus meinem eigenen Leben, dass es nur bei höchstmöglicher Privilegiertheit möglich ist – auch dann nicht immer! –, das Leben so zu führen, wie man es gerne erzählen möchte.

Oder sich „geografische Wünsche“ zu erfüllen, wie Sie es auch einmal formulieren, die Orte, an denen man gerne sein und leben möchte.

Überhaupt dem Zufall nicht so viel zu überlassen. Das kannst du nur unter bestimmten Umständen, und diese Umstände sind sehr vielen Menschen, eigentlich den meisten, nicht gegeben. Deswegen sind die Geschichten, die mich interessieren, Geschichten von Menschen, die sich durchkämpfen müssen, die von unten kommen, die Außenseiter sind – wie auch in dem neuen Buch.

Ihr neues Jugendbuch Wolf spielt in einem Ferienlager für Schüler. Da gibt es den Jungen Jörg, der zum Außenseiter gemacht wird. Und den Erzähler Kemi, einen Mitschüler, der ihm nicht beisteht. Was hat Sie am Thema Mobbing literarisch gereizt?

Inhaltlich trage ich die Geschichte von Wolf schon lange mit mir herum. Die eigene Erfahrung als passiver Täter – also als jemand, der sich nicht beteiligt, aber auch nicht eingreift – habe ich aus meiner Schulzeit in Heidelberg mitgenommen. Ich beobachtete mehrmals Sticheleien und Gemeinheiten ­einem Mitschüler gegenüber, redete mir aber ein, das sei nicht so schlimm – ich hätte es besser wissen müssen. Immer mal wieder habe ich seitdem versucht, dieses Machtspiel, einem Mitschüler das Leben zur Hölle machen, aufzuschreiben. Nie mit Erfolg. Und das lag an der Perspektive. Ich habe immer versucht, entweder den Täter oder das Opfer als Erzähler zu generieren. Und das geht nicht.

Warum funktioniert das nicht?

Ganz egal wie viel ich recherchiert habe, ganz egal wie viel ich damals als Zeuge mitbekommen habe: Der Respekt vor dem, was das Opfer auszuhalten hat, und die gleichzeitige vollkommene Unwissenheit dessen, was in so jemandem wirklich vorgeht, macht es unmöglich, diese Geschichte so zu erzählen. Würde ich es versuchen, wäre es bestenfalls ein ungefähres Imitat. Das steht mir nicht zu. Deshalb habe ich dann die eigene Perspektive gewählt. Der einzig mögliche Zugang zu der Geschichte ist derjenige von damals, als stummer Zeuge.

Kemi, der Erzähler, ist eine Art passiver Täter und schämt sich dafür. Er greift nicht ein, obwohl er die Gelegenheit dazu hätte.

Und aus dieser Situation der Feigheit heraus bleibt ihm das Beobachten und Beschreiben. Mich hat es deswegen interessiert, weil ich weiß, dass die meisten Menschen, die mit Mobbing zu tun haben, sich weder aktiv beteiligen noch Opfer sind, sondern passive Zeugen, passive Täter. Ich adressiere sie in diesem Roman, so wie ich auch mein vergangenes Ich adressiere, das damals weggeschaut hat. Aus diesem Schuldgefühl heraus, das ich bis heute empfinde, und aus der Verantwortung, der ich mich nicht gestellt habe, ist dieses Buch wie ein Appell: Macht mehr, als Kemi macht! Macht mehr, als ich damals gemacht habe!

Sie behandeln in Ihrem Roman das Thema Sprache auf mehreren Ebenen. Sie zeigen auf der einen Seite Sprachlosigkeit als eine Form der Ohnmacht und andererseits Sprache als Machtinstrument, das verletzt, aber auch starkmachen kann. Wenn Jörg nicht schweigen würde, würde man ihn auch nicht so leicht zum Opfer machen.

Das ist mir wirklich ein Anliegen gewesen. Eines der Symptome einer Mobbingerfahrung ist, dass man sich zurückzieht und schweigsamer wird. Man hat vielleicht auch versucht, etwas gegen die Übergriffe zu unternehmen, das nicht geholfen hat, irgendwann hat man jedenfalls wohl das Gefühl: Alles, was man sagen könnte, würde es noch schlimmer machen. Das ist eine Art Selbstzensur aus Angst vor noch mehr Angriffen. Man wehrt sich nicht, man ist schweigsamer und wird dadurch oft noch auffälliger. Im Fall von Wolf gebe ich dem Opfer eine andere Sprache – ich gebe ihm das Zeichnen als sein Talent, seine Gabe. Jörg kann es wirklich gut.

„Jörg zieht Kunst durch“, wie Sie schreiben.

In das Schweigen kannst du nicht fliehen, das war meine These. In das Schweigen kannst du dich zurückziehen, aber das bedeutet nicht, dass du dadurch weniger gesehen wirst. In das Zeichnen kannst du dich zurückziehen. Das ist Jörgs coping mechanism, seine Bewältigungsstrategie. Aber es hilft ihm nur bedingt. Er ist nicht Opfer, weil er sich wie ein Opfer benimmt, sondern er ist Opfer, weil er zu einem Opfer instrumentalisiert wird. Er ist Opfer, weil sie ihn als Opfer brauchen.

Jörg, der seine Pausen „allein mit seinem Brot“ verbringt, macht im Roman aber auch eine Entwicklung durch. Sie selbst schreiben ja nicht nur für Erwachsene und Jugendliche, sondern auch Bücher für kleinere Kinder. Wie kann Literatur Kinder starkmachen?

Eine Geschichte zu lesen und zu verstehen bedarf Geduld und Einfühlungsgabe. Man muss sich in andere Menschen versetzen können und auch zwischen den Zeilen lesen. Und das wiederum hilft, sich auch in sich selbst versetzen zu können und zwischen den Zeilen des eigenen Handelns zu lesen. In Geschichten werden Alternativen zum Handeln gezeigt, andere Lebensentwürfe beschrieben. Beim Lesen lernt man Umstände des Heranwachsens in ihrer Vielfalt kennen. Man sieht anderen beim Agieren zu, hat also Distanz und zugleich empfindet man Nähe zu den Figuren.

Da sind wir wieder bei der Gabe der Erfindung. Warum ist es nicht mit dem Vorlesen getan, was können eigene Geschichten ermöglichen?

Ich habe neulich mit einer Gruppe von Kindern gearbeitet, zehn, elf Jahre alt. Ich stellte die Aufgabe, einen Text darüber zu schreiben, was auf dem eigenen Schulweg passiert. Die Kinder hatten zwei Wochen Zeit für diese Aufgabe.

Und ein Junge hat eine Geschichte geschrieben, in der auf jeder Kreuzung extreme Dinge passieren. Drachen kommen vor, irgendwelche Monster. Ich fand es richtig gut. Später habe ich erfahren, dass dieser Junge extreme Ängste hat, zur Schule zu gehen. Er schafft es nicht allein. Es muss ihn immer ein Erwachsener hinbringen. Hinzu kommt, dass er schon ganz früh am Morgen in die Schule kommen muss, weil seine Eltern beide arbeiten. Die bringen ihn also hin und dann muss er über eine Stunde warten. Es gibt diese Frühbetreuung an der Schule und dort ist er der Einzige. In dem Text, den dieses Kind geschrieben hat, wird es ständig angegriffen, es ist immer wieder in Gefahr. Der Junge hat im Grunde seine Ängste in eine Fantasie verlagert, in Monster und in Straßen, die vor seinen Augen verschwinden.

Ich finde so etwas super wertvoll. Dass du den Mut hast, deine Angst zu beschreiben. Du gibst ihr ein Gesicht. Sie ist dann eine verschwundene Straße, ein Drache. Das kann Literatur.

Das Porträt

In unserer Serie sprachen zuletzt:

Charles Lewinsky über das Grundbedürfnis, kein Niemand zu sein (Heft 5/2023)

Milena Michiko Flaar über das beredte Innenleben stiller Menschen (Heft 1/2023)

Gabriele von Arnim über die Zeit, als sie ihren Mann pflegte (Heft 9/2022)

Sascha Mamczak über Science-Fiction und den sense of wonder (Heft 6/2022)

psychologie-heute.de/einzelhefte

Saša Stanišić, 1978 in Viegrad geboren, studierte in Heidelberg Slawistik und Deutsch als Fremdsprache sowie am Deutschen Literatur­institut Leipzig literarisches Schreiben. Heute lebt er in Hamburg. Stanišić debütierte 2006 mit seinem Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert. Für Vor dem Fest erhielt er 2014 den Preis der Leipziger Buchmesse und für ­Herkunft 2019 den Deutschen Buchpreis. ­Zuletzt erschien sein Jugendroman Wolf.

Leseprobe

Es ist so: Mit Jörg will so gut wie niemand etwas zu tun haben. Jörg verbringt seine Pausen allein mit seinem Brot. Mit Jörg verabredet sich niemand nach der Schule. Und wenn wir in Gruppen arbeiten, teilen die Lehrer Jörg schon mal vorsorglich zu Leuten ein, von denen sie wissen, dass sie ihn in Ruhe lassen.

Jörg ist halt so einer, kennt jeder. Einer, der anders ist, und bitte versteh mich nicht falsch! Natürlich sind wir alle anders, bla bla. Sogar die, die absichtlich einander ähnlich sein wollen, sich ähnlich anziehen, dieselbe Musik mögen, bescheuerte Teamsportarten trainieren, so was. Auch die sind, jeder für sich, anders, also eigen.

Jörg ist wie alle eigen und wie alle anders, er wird aber von den anderen nochmal andersiger gemacht, verstehst du? Sorry, mir fallen nur erfundene Wörter ein.

Weil, auch wenn du komplett doof wärest oder komplett helle oder was auch immer: Das müsste ja niemanden interessieren. Es gibt aber immer welche, die es interessiert. Nicht aus Neugier. Aus Stressgier. Deine Eltern sind arm? Opfer. Sind Bonzen, die eine Schuhfabrik geerbt haben? Opfer. (Wobei der Arme, sind wir mal ehrlich, eher die Arschkarte zieht.) All das wäre aber okay, du wärst okay, bis jemand ein Problem daraus macht. Aus dir etwas Schlechtes macht. Dir Schlechtes will.

Von Saša Stanišić: Wolf. Mit Bildern von Regina Kehn. Carlsen 2023

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2023: Hast du ein Problem und willst es nicht haben, dann hast du schon zwei