Übung macht den Meister! Wirklich?

Je intensiver ein Musiker probt, desto besser spielt er. Doch wenn jemand wie besessen übt, ist gerade dies ein Ausdruck seines Talents.

Es gibt einen berühmten Satz von John B. Watson, dem Begründer des Behaviorismus: „Gebt mir ein Dutzend gesunder Säuglinge, die in guter Verfassung sind, und meine eigene spezifische Welt, in der ich sie heranziehen kann, und ich garantiere, dass ich jeden beliebigen nehmen und ihn trainieren kann, jede Art von Spezialist zu werden – Arzt, Rechtsanwalt, Künstler, reicher Kaufmann und sogar Bettler und Dieb, unabhängig von seinen Talenten, Neigungen, Tendenzen, Fähigkeiten, Berufungen und der Rasse seiner…

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Talenten, Neigungen, Tendenzen, Fähigkeiten, Berufungen und der Rasse seiner Vorfahren.“

Anders Ericsson, der schwedische Psychologe, der an der Florida State University lehrt, geht sogar noch weiter. Er behauptet: Mit genügend Übung kann es praktisch jedes Kind zum Weltklassemusiker, Schachgroßmeister oder Spitzensportler bringen. Besonderer Begabung bedürfe es nicht: „Die Entwicklung von Eliteleistungen bei Kindern lässt sich ohne Rückgriff auf einzigartiges Talent, eine genetische Ausstattung erklären, abgesehen von der angeborenen Körpergröße“, schreibt er.

Ericssons Prunkstück ist eine Studie, die er vor zwei Jahrzehnten mit jungen Violinespielern der Hochschule der Künste Berlin machte. Er wollte wissen, wie viele Stunden unterschiedlich gute Eleven an ihrem Instrument geübt hatten, bevor sie 18 wurden. Die vergleichsweise schlechteste Gruppe bestand aus zukünftigen Musiklehrern. Sie hatten im Schnitt 3500 Stunden geübt. Die nächste Gruppe bildeten angehende Berufsmusiker, die von ihren Professoren für ganz gut gehalten wurden. Sie brachten es auf 5300 Stunden. Die Besten aber, bei denen die Professoren eine internationale Karriere erwarteten, hatten nicht weniger als 7400 einsame Stunden mit ihrem Instrument verbracht. Wer mit sechs Jahren anfängt, muss die ganze Jugend hindurch jeden Tag fast zwei Stunden Griffe und Melodien trainieren, um auf so viel Übungszeit zu kommen.

Weitere Untersuchungen von Ericsson und anderen lieferten ähnliche Ergebnisse. Jahrelanges Üben scheint auf ganz verschiedenen Feldern gefragt – egal ob Mediziner Röntgenbilder deuten, Chirurgen operieren, Schriftsteller Bücher verfassen, Maler Bilder auf die Leinwand zaubern oder Scrabblemeister aus zufällig gezogenen Buchstaben Wörter bilden. Letztere pauken sich mithilfe von speziellen Lexika 90 00 gültige Vokabeln ins Gehirn. Selbst ein gebildeter Durchschnittsbürger beherrscht nur einen Bruchteil davon. Es stört dabei wenig, dass die Scrabblecracks viele der Wörter zwar buchstabieren können, aber keine Ahnung haben, was sie bedeuten.

Aus solchen Studien zog Ericsson einen Schluss, der seiner Meinung nach für alle Felder gilt: ­„Meisterschaft ist ohne zehn Jahre gezielter Übung nicht zu erreichen.“ Das bedeutet laut Ericsson, Übungen zu absolvieren, die eigens entwickelt ­wurden, um das Leistungsniveau des Eleven zu ­verbessern. Es geht also etwa um das Trainieren von anspruchsvollen Etüden, nicht um Musizieren aus purem Spaß.

Richtig bekannt wurde Ericssons These durch den Bestseller Überflieger des amerikanischen Journalisten Malcolm Gladwell. Nach seiner Lesart hat Ericsson bewiesen: Wenn ein Musiker erst einmal an einer Spitzenmusikschule angenommen ist, kommt es nur noch darauf an, „wie hart er oder sie arbeitet. Das ist alles.“ Wie viel Übung es zum wahren Meister braucht, weiß Gladwell auch: „Zehntausend Stunden ist die magische Zahl“ – nicht nur in der Musik.

Gladwell erzählt beispielsweise die Geschichte des Microsoft-Gründers Bill Gates. Der besuchte in den sechziger Jahren eine der wenigen Schulen, die bereits einen Computer hatten. Später stahl er sich regelmäßig nachts in den Rechnerraum einer Universität und programmierte vier Stunden lang. Auch Bill Joy, Gründer der Softwareschmiede Sun Microsystems, hatte früh Gelegenheit, das Programmieren zu üben. Ist das wirklich schon das ganze Geheimnis ihres Erfolgs? Das Fachblatt Nature ­meldete in seiner Rezension Zweifel an: „Vermutlich hatten Gates und Joy Klassenkameraden, die ähnliche Mengen an Zeit vor Computern verbrachten, aber nie Milliardäre wurden.“

Ericsson hat sich von Gladwells Zehntausend-Stunden-Regel distanziert – allerdings erst nach fünf Jahren.

Die Begabten üben, die anderen steigen aus

Nun bestreitet niemand, dass zukünftige Meister viel üben müssen. Aber gibt wirklich allein Übung den Ausschlag? Es könnte ja auch schlicht so sein: Wer am meisten Talent hat, übt am meisten. Dann wäre das Talent das Entscheidende und das viele Üben nur eine Folgeerscheinung. Wer dagegen kein Talent hat, steigt aus. Robert Sternberg von der Cornell University erinnert Ericsson: „Wir hören auf, etwas zu machen, was wir nicht gut machen und wofür wir uns nicht belohnt fühlen.“

Vielleicht am gründlichsten wurde die Frage Talent oder Übung am Beispiel des Schachs untersucht. Schachspieler bieten Forschern den Vorteil, dass eine praktische Kennzahl, errechnet aus den Matchverläufen, den Grad ihrer Meisterschaft anzeigt.

Schachgroßmeister gelten oft als Intelligenzbestien. Tatsächlich sind exzellente Schachspieler im Schnitt intelligenter als der Rest der Bevölkerung. Besonders klar zeigt sich das bei schachspielenden Kindern. In einer britischen Studie von Merim Bilalic´ lagen die 23 Jungen, die regelmäßig an Schachturnieren teilnahmen, mit einem Durchschnitts-IQ von 133 im Bereich der Hochbegabung.

Ob man es mit bescheidenen Geisteskräften allein durch Üben zum Schachgroßmeister bringen kann, ist daher fraglich. Trotzdem bestreitet niemand, dass das Büffeln von Stellungen und das Nachspielen berühmter Partien beim Aufstieg im königlichen Spiel das Wichtigste sind. Doch das ist nicht alles, wie eine Studie von Fernand Gobet von der University of Liverpool belegt. Auf den ersten Blick legt sie nahe, dass Schach reine Übungssache ist. Gute Spieler hatten im Schnitt 3200 Stunden geübt, sehr gute 5700 und internationale Meister 10 00. Doch auf den zweiten Blick zeigt sich die wirkliche Dramatik: Ein Spieler brauchte gerade einmal 700 Übungsstunden bis zum Großmeisterstatus. Ein anderer musste dagegen über 16 00 Stunden üben – 22-mal so lange! Er hat es immerhin doch noch geschafft, aber das muss nicht so sein, glaubt David Hambrick von der Michigan State University: „Einige Menschen mit ganz normalen Fähigkeiten bringen es möglicherweise nie zur Meisterschaft, ganz egal wie viel Übung sie ansammeln.“

Ein Lehrstück liefern die Polgár-Schwestern – eigentlich ein Paradebeispiel aller, die glauben, dass es einzig und allein aufs Üben ankommt. Dieser Meinung war auch ihr Vater, der ungarische Pädagoge László Polgár. So trainierte er ab den 1970er Jahren seine drei Töchter von klein auf im Schach. Und scheinbar behielt er recht. Seine Tochter Judit gilt bis heute als die beste Schachspielerin aller Zeiten. Auch ihre beiden Schwestern wurden Spitzenspielerinnen.

Trotzdem beweist ihre Geschichte, dass Üben allein nicht reicht, argumentiert Robert Howard von der University of New South Wales nach einer detaillierten Analyse. Zum einen brachten die Töchter wahrscheinlich eine hohe Intelligenz mit. Zum anderen erhielten zwar alle das gleiche Training, trotzdem schaffte es nur eine in die Top Ten. Die beiden anderen wurden exzellente Spielerinnen, aber sie waren nicht besser als Kolleginnen mit sehr viel weniger Übungsstunden.

Und selbst Judit Polgár hat nach Howards Berechnungen keinen solchen Vorsprung vor der Konkurrenz wie Magnus Carlsen, der männliche Schachweltmeister seit 2013. Er wurde schon mit 13 Jahren Großmeister. Dabei fing er erst mit acht an und übte eher unregelmäßig, wenn nicht gerade ein Turnier bevorstand. Für ihn zumindest gilt Ericssons Zehnjahresregel nicht.

Gute Noten: Nur vier Prozent beruhen auf Lerneifer

Schach ist keine Ausnahme. Im vergangenen Jahr fasste David Hambrick alle einschlägigen Studien in einer sogenannten Metaanalyse zusammen. Im Schach ließen sich gerade mal 26 Prozent der Ausnahmeerfolge aufs Üben zurückführen, in anderen Gebieten sogar noch weniger. Im Sport sind es 18 Prozent. Noten im Studium lassen sich sogar nur zu vier Prozent durch Lerneifer erklären, berufliche Leistungen von Programmierern, Piloten und Versicherungsagenten zu weniger als einem Prozent.

Selbst bei Musikern, die natürlich viel geigen oder Klavier spielen müssen, erklärt Übung nur einen bescheidenen Teil des Erfolgs – 21 Prozent laut der Metaanalyse von Hambrick. Die Lebensläufe einiger berühmter Komponisten legen den gleichen Schluss nahe. Sie wurden musikalisch nicht mehr gefördert als ihre Geschwister und übten nicht mehr. Doch sie waren ihnen musikalisch bald überlegen.

Das weckt Zweifel an Ericssons These, dass selbst musikalische Wunderkinder ihre grandiosen Leistungen einfach früher Förderung verdanken, so wie vielleicht Mozart, der schon mit vier von seinem Vater Leopold ans Klavier gesetzt wurde. Obendrein gibt es Gegenbeispiele. Joanne Ruthsatz hat acht Wunderkinder untersucht, die in Musik, Kunst oder Mathematik mit Ausnahmeleistungen glänzten. Nicht alle hatten den IQ von Hochbegabten, die meisten aber schon. Sie verfügten über ein besseres Arbeitsgedächtnis als 99 Prozent der Menschheit, die meisten waren in diesem Bereich sogar besser als 99,9 Prozent. Das erklärt zumindest ein Stück weit, warum einer der kleinen Tastenkünstler schon mit zwei Jahren Stücke von DVDs mit klassischer Musik am Klavier der Familie nachspielen konnte.

Auch erwachsene Musikmeister haben ein exzellent gutes Kurzzeitgedächtnis. Ericsson hat argumentiert, das komme nur vom vielen Üben. Aber die Zahl der absolvierten Übungsstunden bestimmt nicht, was das Arbeitsgedächtnis leistet, wie Studien zeigen.

Wirklich einmalige Leistungen kann man selbst bei einer gewissen Begabung durch Üben nicht erreichen, glaubt der Kreativitätsforscher Dean Simonton von der University of California. Expertiseforscher wie Ericsson haben sich seiner Meinung nach auf Disziplinen spezialisiert, in denen es um „exakt reproduzierbare Verhaltensweisen“ geht. Letztlich haut eben auch der beste Pianist genau auf die Tasten, die der Komponist vorgibt. Aber wie schafft jemand ­eine große Komposition? Natürlich gibt es erlernbare Regeln fürs Komponieren. Aber allein mit denen wird man kein Mozart.

Auch unter Wissenschaftlern sind die originellsten Köpfe laut Simontons Studien selten diejenigen, die all ihre Kraft in eine kleine Spezialdisziplin ­stecken. Tatsächlich tummeln sich die größten Wissenschaftler eher auf verschiedenen Feldern und ­verstehen somit von keinem besonders viel. Doch sie werden nicht zu Fachidioten und kommen auf Ideen, die Superspezialisten niemals hätten.

Vom fleißigen Üben halten manche großen Geister ohnehin nicht viel. Dass Einstein ein schlechter Schüler gewesen sei, ist zwar ein Mythos, aber ­besonderen Lerneifer zeigte er auch nicht. Einer seiner Universitätsprofessoren nannte ihn einen „faulen Hund“. Was hätte Einstein auch büffeln sollen, um einige Jahre später auf die Relativitätstheorie zu kommen? Andererseits hätte er die Relativitätstheorie nicht ersinnen können, wenn er sich nicht ein ­ordentliches Maß an physikalischem Wissen angeeignet hätte.

Es braucht eben beides: Talent und Übung. Davon sind auch fast alle Beteiligten an einer Debatte in der Zeitschrift ­Intelligence überzeugt. Phillip Ackerman vom ­Georgia Institute of Technology nennt es einfach ­„töricht“, nur eines von beiden für wichtig zu halten. Einer hat mit seinem Extremstandpunkt allerdings keine Probleme: Ericsson. Nach Lektüre der Aufsätze seiner Kritiker ist er „zunehmend überzeugt“, dass sein Ansatz der überlegene ist.

Literatur

  • Acquiring expertise: Ability, practice, and other influences. Intelligence, 45, 2014, 1–124

  • K. Anders Ericsson, Paul Ward: Capturing the naturally occurring superior performance of experts in the laboratory. Toward a science of expert and exceptional performance. Current Directions in Psychological Science, 16/6, 2007, 346–350, DOI: 10.1111/j.1467-8721.2007.00533.x

  • Brooke N. Macnamara, David Z. Hambrick, Frederick L. Oswald: Deliberate practice and performance in music, games, sports, education, and professions. A meta-analysis. Psychological Science, 2014, 25/8, 1608–1618, DOI: 10.1177/0956797614535810

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2015: Zum Glück allein