Was wir in Buchhandlungen wirklich suchen

Die Suche nach Büchern ist immer auch eine Einladung zum Ankommen bei uns selbst. Über die Psychologie der Buchhandlung.

Ein Buchgeschäft mit vielen Büchern in Regalen und auf Holztischen
Buchhandlungen laden dazu ein, keine bewusste Wahl zu treffen, sondern sich von einem Buch ergreifen zu lassen. © Pablo Banzer Schmitt

Ein unwirtlicher Tag. Es regnet unablässig, Windböen wirbeln das Laub auf, und kalte Luft setzt sich im Gesicht fest. Höchste Zeit, einen Unterschlupf zu finden. Da tut sich plötzlich ein Ort auf, der Geborgenheit verspricht. Wer eine Buchhandlung betritt, klinkt sich aus der Welt aus und hofft insgeheim, dass dieser Zustand anhält, dass eine Rückkehr in den fordernden Alltag nicht nö­tig sein wird.

Doch Vorsicht! Buchhandlungen unterscheiden sich stark voneinander. Da gibt es die weitläufigen Läden der…

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unterscheiden sich stark voneinander. Da gibt es die weitläufigen Läden der Filialisten, die selten Charme versprühen. Im Eingangsbereich locken sie mit Stapeln voll reduzierter, austauschbarer Ware, dem sogenannten modernen Antiquariat. Gleich dahinter lauert Krimskrams, Geschenkartikel, die den Non-Book-Bereich ausmachen und für einen schnellen Umsatz sorgen.

Solche Kaufhäuser des Buches, die vor allem die gängigen Bestseller unter die Leute bringen wollen, sprechen die Buchliebhaberinnen und -liebhaber nur bedingt an. Anders jene überschaubaren Geschäfte, die sofort das Gefühl vermitteln, man zähle zu den langjährigen Stammkunden – selbst wenn man nie zuvor einen Fuß in dieses Paradies der Bücher gesetzt hat. Ein Kopfnicken der Buchhändlerin an der Kasse, die klug genug ist, die Eintretenden in Ruhe ankommen zu lassen und sie nicht mit einem „Kann ich Ihnen helfen?“ zu überfallen – und schon richtet man sich ein.

Ein Gefühl von Zugehörigkeit stellt sich ein

Buchhandlungen wollen anfangs sorgsam mit Blicken erkundet werden, und so sind sie auch angelegt. Da vorne ein Tisch mit Neuerscheinungen, die Titel so angeordnet, dass ungewöhnliche Cover ins Auge springen. Daneben vielleicht eine Drehsäule mit kleinformatigen Kochbüchern, und hinten an der Wand stehen die leicht wiederzuerkennenden Buchreihen wie Zinnsoldaten nebeneinander: die gelben Reclam-Hefte, die handlichen Manesse-Klassiker der Weltliteratur oder die „Naturkunden“ von Matthes & Seitz, die einem unterschätzte Fauna und Flora, Esel oder Brennnessel zum Beispiel nahebringen.

Ein paar Minuten braucht es nur, bis sich ein Zugehörigkeitsgefühl einstellt. Was draußen ist, zählt nicht mehr. Behutsam tastet man sich vor, nimmt die ersten Bücher in die Hand, studiert ihre Klappentexte, lässt sich von einer Ecke in die nächste treiben und stößt auf gänzlich unvertraute Romane oder Sachbücher, die zu besitzen plötzlich zur unaufschiebbaren Angelegenheit wird. Ein Sessel, ein altmodisches Sofa – jede Sitzgelegenheit wird freudig begrüßt, gilt es doch, sich in den einen oder anderen Titel zu vertiefen, um zu sehen, ob der Inhalt mit dem einladenden Umschlag mithalten kann. Vielleicht gibt es sogar eine Tasse Kaffee dazu, um sich wie zu Hause zu fühlen.

Zwischen Ordnung und Chaos

Buchhandlungen wollen, wie die Verlegerin Inge Feltrinelli schrieb, zuerst die „Kunden verführen“, ihnen unaufdringlich zeigen, dass das Leben nicht nur aus Notwendigkeiten besteht, dass es vielmehr seinen Reiz daraus zieht, sich von Neuem ansprechen zu lassen, das – natürlich – aus Büchern stammt. Wie sie das tun, dafür gibt es keine Norm. Mal ist es ein akkurates Ordnungssystem, das uns zielsicher von den Krimis zu den Biografien führt. Mal macht ein heilloses Durcheinander den Zauber aus: schiefe Büchertürme, auf denen Druckfrisches und Angestaubtes eine selbstverständliche Allianz eingehen.

Das gedämpfte Licht, das Parkett, die Sitznische, das Ineinandergreifen der braunen Regalwände – alles ist ausgerichtet, um die Menschen in Einklang zu bringen mit der magischen Aura des Ortes. Hektische Einkäufe lassen sich andernorts erledigen. Hier geht es um den Moment freudiger Anspannung, hier geht es, wie die Autorin Caroline Lamarche, Kundin der Brüsseler Buchhandlung Tropismes, schrieb, darum, auf den „Liebesruf der Bücher“ zu warten, keine bewusste Wahl zu treffen, sondern sich ergreifen zu lassen.

Von der Einsamkeit des Blätterns hin zum ruhigen Austausch

Irgendwann freilich heißt es, die Einsamkeit des stillen Blätterns hinter sich zu lassen und das Gespräch zu suchen – mit der im besten Fall unaufdringlichen Buchhändlerin, dem dezenten Buchhändler. Denn wer neugierig auf Literatur ist, will sich darüber austauschen, will seine Eindrücke teilen und eine Gemeinschaft der Lesenden bilden. So werden Buchhandlungen zu Stätten eines anregenden Austausches. Laut geht es dabei nicht zu, allenfalls in den Kinderbuchabteilungen herrscht ein Lärmen.

Sich ein Stündchen in einer Buchhandlung aufzuhalten, sie dann heiteren und zugleich schweren Herzens mit einem Stoß Lesestoff zu verlassen, das wappnet für die Herausforderungen vor der Tür, für Nieselregen, Eiseskälte oder Autolärm. Und an manchen Abenden verwandeln sich diese Orte, wo alles so zueinander passt, in Lesebühnen. Wenige Handgriffe genügen, um Tische zu verschieben, Stuhlreihen aufzubauen und aus einem Laden eine kleine Lesebühne zu machen.

Dann treten Autorinnen und Autoren auf, lesen aus ihren Werken, nippen an dem obligatorischen Wasserglas und kommen mit den Gästen ins Gespräch. Keine Performance, kein Event, nein, die intime Erfahrung vorgetragener Texte und das Kennenlernen derjenigen, die sie geschrieben haben. Am nächsten Morgen kehrt die alte Ordnung wieder zurück, lockt die Buchhandlung aufs Neue mit ihrem Sortiment und spricht eine Einladung zur Einkehr aus.

Prof. Dr. Rainer Moritz leitet seit 2005 das Literaturhaus Hamburg. Er ist Literaturkritiker, Essayist, Vizepräsident der Marcel-Proust-Gesellschaft und Autor zahlreicher Bücher, darunter zuletzt der bei Kampa erschienene Roman Das Schloss der Erinnerungen.

Quellen

Petra Hartlieb: Meine wundervolle Buchhandlung. DuMont, Köln 2014

Dirk Kruse (Hg.): Meine wunderbare Buchhandlung. Ars vivendi, Cadolzburg 2010

Rainer Moritz: Leseparadiese. Eine Liebeserklärung an die Buchhandlung. Sanssouci, München 2019

Torsten Woywod: In 60 Buchhandlungen durch Europa. Meine Reise zu den schönsten Bücher­orten unseres Kontinents. Eden, Hamburg 2016

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2023: Schüchtern glücklich sein