Wer bei Amazon das Stichwort „Ordnung“ in die Büchersuche eingibt, bekommt eine ganze Reihe von Ratgebern angeboten, die unser Leben verändern, uns glücklich machen und uns einen Effizienzvorsprung bescheren sollen. Unordnung, so scheint es, ist ein Problem, das vielen zu schaffen macht. Sie gilt als Arbeits- und Erfolgshemmnis, irgendwie schmuddelig, fast unmoralisch. Sechs von zehn Menschen denken schlecht von Personen, die unordentlich oder unorganisiert sind. Sieben von zehn haben eine ausgesprochen…
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schlecht von Personen, die unordentlich oder unorganisiert sind. Sieben von zehn haben eine ausgesprochen positive Einstellung ordnungsliebenden Mitmenschen gegenüber. Zwei Drittel schließlich empfinden Schuld oder Scham wegen der eigenen Schludrigkeit. Das erfuhren der Managementexperte Eric Abrahamson von der Columbia University in New York und der Journalist David Freedman, als sie für ihr Buch Das perfekte Chaos. Warum unordentliche Menschen glücklicher und effizienter sind 260 Personen befragten.
Warum löst Unordnung diese Empfindungen aus? Delphine Dion von der ESSEC Business School und ihre Koautorinnen nennen in einer Veröffentlichung zwei Gründe: Der erste ist echter oder vermeintlicher sozialer Druck. Das heißt, wir fürchten, einen schlechten Eindruck zu machen. Der zweite Grund sind eigene „Glaubenssysteme“. Sprich: Wir fühlen uns nicht wohl in einer unordentlichen Umgebung, weil wir sie mit Stress und einer schlechteren Lebensqualität verbinden. Eine Ursache, so die französischen Wissenschaftlerinnen, sind Bilder des idealen Heims in den Medien und der Werbung.
Unordnung hat ein schlechtes Image, und das führt dazu, dass wir – auch wenn wir nicht zu den ordentlichsten Menschen gehören – uns immer und immer wieder um Struktur und Ordnung in unseren Schubladen, auf unseren Schreibtischen, in unseren Kleiderschränken bemühen. Dass wir es damit nicht übertreiben sollten, zeigt die Forschung zum Thema. Verschiedene Forscher haben die positiven Seiten eines unordentlichen Lebens beleuchtet und fünf gute Gründe für das Chaos gefunden.
1. Unordnung macht kreativ
„Picasso liebte die Unordnung, ja das Chaos, und duldete nicht, dass man daran rührte“, schrieb der Kulturpsychologe Ernst Eduard Boesch. Er sprach von dessen Neigung, „in Abfällen nach irgendwie Nutzen Versprechendem zu suchen, das er dann entweder achtlos in seinen Ateliers herumliegen ließ oder zu fantastischen Skulpturen zusammenbastelte.“ Auch das Zuhause der österreichischen Dichterin Friederike Mayröcker „schaut eigentlich aus wie eine Messiewohnung. Es ist alles übervoll mit Papiermaterialien“, so Klaus Kastberger, Leiter des Literaturhauses Graz, im Deutschlandfunk. Tatsächlich empfanden einige der Befragten in der französischen Studie Unordnung gerade bei kreativen Aktivitäten als hilfreich.
Dass es einen Zusammenhang zwischen Unordnung und Kreativität gibt, konnte die Psychologin Kathleen Vohs von der University of Minnesota bestätigen. Zusammen mit ihren Mitarbeitern untersuchte sie in mehreren Experimenten, wie unterschiedliche Umgebungen sich auf die Teilnehmer auswirkten. Das Ergebnis: Wer in einem Raum arbeitete, in dem Bücher und Papiere willkürlich verstreut waren, erwies sich laut verschiedenen Tests im Vergleich zu Personen in aufgeräumten Büros als kreativer und Neuem gegenüber aufgeschlossener, also unkonventioneller.
Warum Unordnung die Kreativität fördern kann, erklärt Eric Abrahamson so: Sie bringe Dinge zusammen, die normalerweise säuberlich getrennt seien. Das heißt, im Chaos prallen Gegenstände, Informationen und Ideen aufeinander, die in ganz unterschiedliche Kategorien gehören, und dadurch kann Neues entstehen. Vohs und ihre Kollegen argumentieren ähnlich: „Unordentliche Umgebungen scheinen einen Bruch mit Traditionen zu inspirieren, was neue Erkenntnisse hervorbringen kann.“
2. Unordnung ist manchmal effizienter
„Ordnung, Ordnung, liebe sie. Sie erspart dir Zeit und Müh“, heißt es. Auf den ersten Blick macht Ordnung das Leben einfacher. Allerdings vergisst man dabei gerne die „Zeit und Müh“, die erforderlich sind, um sie herzustellen und aufrechtzuerhalten. Dinge penibel nach Kategorien einzusortieren ist Zeitverschwendung, das sieht selbst die japanische Aufräumexpertin und Bestsellerautorin Marie Kondo so. Sie hält nichts davon, Geld für Aufbewahrungssysteme auszugeben, weil diese nur eine Illusion von Ordentlichkeit schafften. Wenn sie unnütze Dinge enthielten, seien auch diese Behältnisse nur Gerümpel. Deshalb ist ihr Anliegen, dass wir uns von möglichst vielen Dingen trennen, die wir nicht brauchen beziehungsweise die uns keine Freude bereiten.
Unter bestimmten Bedingungen ist es von Vorteil, Dinge nicht zu ordnen. Wer Arbeitslektüre in einem großen Stapel oder in einem Hängeordnerschrank unterbringt, indem er das jeweils Neueste oder zuletzt Gelesene einfach obendrauf oder ganz vorn ablegt, handelt am effizientesten. Das zeigt die Forschung. Zwar muss man dann manchmal länger suchen. Bei vielem, das man nie wieder benötigt, spart man sich jedoch das Einsortieren. Der britische Wirtschaftswissenschaftler Tim Harford spricht denn auch von einer „ungeprüften Annahme, dass ein Büro, wenn es durchrationalisiert aussieht, dadurch auch produktiver ist“. Er fährt fort: „Die Evidenz deutet auf das Gegenteil hin.“
In seinem aktuellen Buch Messy.The Power of Disorder to Transform Our Lives (frei übersetzt: „Durcheinander. Wie Unordnung unser Leben verwandeln kann“) erwähnt Harford unter anderem Forschungsarbeiten des Kognitionspsychologen Steve Whittaker von der University of California, Santa Cruz. Dieser hat sogenannte „Stapler“ (pilers) mit „Einordnern“ (filers) verglichen und festgestellt, dass Erstere auf einen höheren Anteil ihrer Dokumente zugreifen und sich zudem eher von Überflüssigem trennen. Anlässlich des Umzugs einer Forschungsabteilung fand Whittaker heraus, dass Stapler 71 Prozent ihres ohnehin geringeren Papierkrams mitnahmen, Einordner jedoch 80 Prozent. Gleichzeitig fanden es fast die Hälfte der Stapler, aber weniger als zehn Prozent der Einordner einfach, ihr Archiv zu bereinigen. Solange man es nicht übertreibt mit dem Aufstapeln, meint der Forscher, sind Papiere auf diese Weise besser zugänglich als in Ordnern und Archiven.
Wer stapelt, erspart sich auch ein kompliziertes Ordnungssystem. Delphine Dion und ihre Kolleginnen haben 25 Personen aus Paris und Umgebung ausführlich zum Zustand ihrer Wohnungen und zum Thema Ordnung beziehungsweise Unordnung interviewt. Die Befragung ergab, was jeder weiß: Es ist unmöglich, perfekt Ordnung zu halten – und nicht nur aus Zeitgründen. Denn man kann Bücher oder Lebensmittel nach verschiedenen Kategorien und Unterkategorien sortieren, was dazu führt, dass man das eine System verletzt, wenn man ein anderes beachtet. Gehören die Filzstifte der Tochter zu den Schulsachen, den Malsachen oder in die Schublade mit Stiften aller Art? Wenn man später etwas Bestimmtes braucht, muss man sich erinnern, welcher Gruppe man es zugeordnet hat, oder doch Zeit in das Suchen an verschiedenen Orten investieren.
Im Zeitalter der Digitalisierung verbirgt sich ein Teil der Unordnung auf dem PC. Der E-Mail-Eingang beispielsweise scheint bei vielen überzuquellen. Doch gerade hier ist Sortieren überflüssig. Das ergab eine weitere Studie von Steve Whittaker. Es ist effizienter, den Computer bei Bedarf nach einer bestimmten E-Mail suchen zu lassen (das kann er gut), als komplizierte Ordnersysteme zu kreieren. Probanden, die Letzteres taten, benötigten zum Auffinden einer bestimmten E-Mail durchschnittlich eine Minute, die Suche-Funktion schaffte es in 17 Sekunden.
Benjamin Franklin war einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten sowie, um Wikipedia zu zitieren, „Drucker, Verleger, Schriftsteller, Naturwissenschaftler, Erfinder und Staatsmann“. In seiner Autobiografie gesteht er: „Ich fand es extrem schwierig, Ordnung herzustellen, im Hinblick auf feste Plätze für Dinge, Papiere etc.“ Dank seines „herausragend guten Gedächtnisses“ verspürte er zwar kaum Unannehmlichkeiten. Trotzdem bemühte er sich um Ordnung, denn sein schlechtes Gewissen quälte ihn. Er machte jedoch „kaum Fortschritte“ und beklagte „häufige Rückfälle“, sodass er schließlich resigniert feststellt: „In Wahrheit erwies ich mich in Bezug auf Ordnung als unverbesserlich.“ Dabei hat er nur getan, was der Produktivitätsexperte Merlin Mann empfiehlt, und zwar, vereinfacht gesagt, lieber zu tun als zu sortieren. Schon der Schriftsteller Jean Paul meinte vor zirka zwei Jahrhunderten: „Tätige Leute (halten) weniger Ordnung als müßige.“
Was aber tun, wenn sich viel Papier und viele Dinge angesammelt haben? Eric Abrahamson schlägt folgende Lösung vor: „Eine große Unordnung auf einmal zu beseitigen ist effizienter, als sie zu vermeiden, indem man wiederholt kleine Schritte unternimmt.“ Oder drastischer ausgedrückt: „Manchmal ist es besser, alles, was in deiner Garage ist, herauszuholen und anzuzünden.“ Was Abrahamson damit sagen will, ist: Alles zu sortieren und aufzubewahren kostet eine Menge Zeit und Geld, die man durch das pauschale Entsorgen spart. Einer der von Whittaker befragten Stapler befolgt offenbar dieselbe Regel. „Ich hatte schließlich ein vielschichtiges System, wie ich Papiere aufstapelte, und wenn ich manche Dinge immer wieder heranzog, befanden sie sich tendenziell weiter oben“, sagte er und fuhr fort: „Also ging ich dazu über, in regelmäßigen Abständen die untere Hälfte wegzuwerfen.“ Schon Kurt Tucholsky wusste: „Die Basis jeder gesunden Ordnung ist ein großer Papierkorb.“
3. Unordnung hilft beim Denken
Warum uns ein unordentlicher Schreibtisch oder ein ebensolches Büro oft keineswegs überfordern, erklärt Tim Harford so: „Sie sind voller Hinweise auf aktuelle Muster unseres Tuns, und diese Hinweise können uns helfen, effektiv zu arbeiten.“ Weil zum Beispiel der Bericht, den wir am Vortag gelesen haben, oben auf dem Stapel liegt und die Checkliste, die wir immer wieder bemühen, links in der Schreibtischunterlage steckt. Was sich wo befindet, kann uns als Gedächtnisstütze dienen: Daran haben wir gestern gearbeitet, das müssen wir als Nächstes erledigen. Umgekehrt, so Harford, „übermittelt ein aufgeräumter Schreibtisch überhaupt keine Informationen“. Etwas Ähnliches drückt ein Zitat aus, das – vielleicht fälschlicherweise – Albert Einstein zugeschrieben wird: „Wenn ein unordentlicher Schreibtisch einen unordentlichen Geist repräsentiert, was sagt dann ein leerer Schreibtisch über den Menschen, der ihn benutzt, aus?“
Während sie in Bristol für Hewlett Packard Labs arbeitete, untersuchte die Psychologin Alison Kidd, wie zwölf Wissensarbeiter in mehreren Firmen und mit Aufgaben in unterschiedlichen Bereichen (Design, Werbung, Recht, Finanzen, Rundfunk, Forschung) mit Informationen umgingen. „Viele Wissensarbeiter“, schreibt sie in einer Veröffentlichung, „haben extrem unordentliche Schreibtische und Fußböden, und trotzdem beeinträchtigt es sie ernsthaft, wenn jemand etwas an diesem scheinbaren ,Kuddelmuddel‘ ändert.“ Der Grund, so fand sie heraus: Die Schreibtische dienen als räumliche „Warteschleifen“ für aktuelle Inputs und Ideen, von denen die Betreffenden noch nicht wissen, ob und wie sie sich als nützlich erweisen können. Entsprechend lassen diese Materialien sich auch noch nicht kategorisieren. Die Anordnung kann jedoch helfen, Gedankengänge herzustellen, oder auch Zusammenhänge repräsentieren. Kidd spricht von einem „prä-linguistischen Stadium des Denkens“. Etwas, das irgendwo abgeheftet ist, nützt da wenig. Der Kognitionspsychologe Jay Brand hält daher nichts davon, am Ende eines Tages die Schreibtische ordentlich leerzuräumen, denn damit entfernt man alle Gedächtnisstützen und Denkhilfen. Was dabei geschieht, hält Brand für „Umgebungslobotomie“.
4. Unordnung ist ein Zeichen von Autonomie
Es leuchtet ein, dass bei der Produktion von Computerchips kein Tohuwabohu herrschen sollte und dass zum Beispiel Familienfotos oder ungespülte Kaffeebecher dort fehl am Platz sind. Inzwischen haben rigorose Ordnungsvorgaben jedoch auch in anderen Büros unter der Bezeichnung clean desk policy Einzug gehalten. Den Verfechtern sind nicht nur Papierstapel und Ähnliches ein Dorn im Auge, sondern auch jegliche Art von persönlichen Gegenständen. Sicher können Andenken, Grünpflanzen oder Wasserflaschen nicht als Denkhilfen dienen. Also weg damit? Nicht so schnell! Craig Knight und Alexander Haslam von der University of Exeter haben gezeigt, dass Menschen in einem Büro, das mit Bildern und Pflanzen dekoriert war, mehr leisteten als in einem kahlen Raum. Noch produktiver waren sie, wenn sie diese Dinge selbst arrangieren durften. Ebenso verhielt es sich mit dem Wohlbefinden: Es war am niedrigsten in undekorierten Büros und am höchsten, wenn die Betreffenden die Kontrolle über die Gestaltung hatten. Die Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von psychologischen Bedürfnissen, die populäre Ansätze des Büroraummanagements übersehen würden. Unordnung am Arbeitsplatz kann also auch ein Ausdruck von Autonomie sein. Wenn man Mitarbeiter gängelt, indem man ihnen eine bestimmte Ordnung aufzwingt, geben sie nicht ihr Bestes.
Zu Unordnung als Zeichen von Unabhängigkeit passt, dass wir mit zunehmendem Alter, zunehmender Bildung und zunehmendem Einkommen weniger Wert auf einen tadellosen Eindruck legen. Das lässt sich aus einer repräsentativen Umfrage einer Personalvermittlungsfirma unter amerikanischen Arbeitnehmern schließen. So bezeichneten 60 Prozent der 18- bis 24-Jährigen ihren Arbeitsplatz als aufgeräumt, aber nur 36 Prozent der 55- bis 64-Jährigen. Von denen, die 35 00 Dollar oder weniger im Jahr verdienten, beschrieben sich 66 Prozent als neat freaks (pingelig, Putzteufel). Bei denen, die mehr als 75 00 Dollar verdienten, waren es nur elf Prozent.
5. Unordnung zwingt uns aufzupassen
Der inzwischen verstorbene niederländische Verkehrsplaner Hans Monderman hatte etwas gegen Verkehrsschilder und gestaltete zum Beispiel Kreuzungen so, dass Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer den vorhandenen Platz gemeinsam benutzen sollten. „Auf einem Eislaufplatz fahren alle Leute, wie sie wollen, sie achten nur aufeinander. Wir zeichnen dort auch keine Bahnen für verschiedene Geschwindigkeiten und stellen keine Verkehrsschilder auf“, sagte er. Gerade dass die Situation unklar ist, macht den Verkehr sicherer, denn alle müssen aufpassen und sich verständigen. Wie sich zeigte, passieren dann seltener Unfälle, und es gibt weniger Staus. Wie aufmerksam die Verkehrsteilnehmer tatsächlich sind, demonstrierte Monderman verschiedenen Journalisten mit seinem Lieblingstrick: Ohne auf den Verkehr zu achten, marschierte er rückwärts auf einen Platz – und niemand hupte, niemand bremste abrupt. Autos, Fahrräder und Fußgänger wichen aus und bewegten sich um ihn herum.
Allerdings gibt es Situationen, in denen Unordnung nicht angebracht ist. Auch Monderman wollte seine Prinzipien nicht flächendeckend anwenden. Vereinfacht gesagt, unterschied er zwei Welten: erstens die des Verkehrs, wie Autobahnen, auf denen wir uns, Regeln folgend, mit hoher Geschwindigkeit fortbewegen. Zweitens soziale Welten in manchen Stadtbereichen, in denen Menschen in der ihnen eigenen Geschwindigkeit interagieren und sich mit Signalen und Blickkontakten verständigen können.
Wenn Unordnung, zum Beispiel auf einem Schreibtisch, individuelle Denkvorgänge abbildet und unterstützt, bedeutet dies umgekehrt, dass sie überall dort nichts zu suchen hat, wo wir ein System gemeinsam mit anderen Menschen nutzen, etwa in einer Bibliothek. Niemand möchte, dass im Kühlregal des Supermarkts Käse, Wurst, Fertigsalate und so weiter wild durcheinandergewürfelt sind.
Wenn wir als Chefs normgerechtes Verhalten fördern wollen, sind geordnete Abläufe ebenfalls eher zu empfehlen als Spontaneität. Die Mitarbeiter einer Bank beispielsweise sollten beim Umgang mit Geld lieber nicht zu viel Kreativität entwickeln. In vielen Fällen dürfen wir uns jedoch entspannen. Ob bei Unordnung zu Hause oder im Job: Wie die Forschung zeigt, ist unser schlechtes Gewissen oft unbegründet.
„Ordnung ist etwas Künstliches. Das Natürliche ist das Chaos“, schrieb schon der österreichische Dramatiker Arthur Schnitzler in seinem Stück Das weite Land. Und Tim Harford schließt aus den Recherchen zu seinem Buch: „Wirkliche Kreativität, Begeisterung und Menschlichkeit finden sich in den unordentlichen Teilen des Lebens, nicht in den aufgeräumten.“
Eine Literaturliste zu diesem Thema finden Sie im Internet unter www.psychologie-heute.de/literatur
Anleitung zum Schlampigsein
Gute Ratschläge für Menschen, die gerne etwas lockerer wären
„Machen Sie sich nicht zu viele Sorgen wegen des Durcheinanders in Ihrem Zuhause. Wir haben heutzutage mit Karriere, Kindern oder beidem mehr um die Ohren als je zuvor. Wenn da die Wohnung ein wenig chaotisch aussieht, dann schadet das niemandem.“ Beruhigende Worte. Sie kommen von Eric Abrahamson, Professor für Management an der Columbia Business School und dem Wissenschaftsjournalisten David H. Freedman. Beide haben ein Buch über Das perfekte Chaos verfasst.
Wie bringt man seinen inneren Antreiber zum Schweigen?
Einfach mal lockerlassen, über die Unordnung in der Wohnung, auf dem Schreibtisch, in den Schränken hinwegsehen – das ist ein attraktiver Gedanke. Nur, wie bringt man seinen inneren Antreiber zum Schweigen, der die Unordnung gar nicht gut findet? Meist hat dieser Antreiber einen Verbündeten in der Außenwelt, meinen die Autoren. „Ordnungsdrachen“ und „Putzteufel“ in unserer Umwelt setzen uns unter Druck: Kommentare der Mutter oder Schwiegermutter, nervende Bemerkungen des Partners (meist der Partnerin) sowie Erinnerungen an frühere Zeiten, wo Unordnung strikt sanktioniert wurde („Wenn du dein Zimmer nicht aufräumst, kannst du das Fußballspielen vergessen!“), verursachen ein permanent schlechtes Gewissen. Und das wiederum lässt uns unter Umständen Spätschichten einlegen, um Ordnung und Sauberkeit wiederherzustellen.
Wobei: „Ordnung und Sauberkeit sind zwei verschiedene Paar Schuhe“, führen Abrahamson und Freedman aus. „Ein keimfeier Fußboden, über den keimfreie Gegenstände verstreut sind, ist nicht ordentlich, aber sauber, während ein völlig aufgeräumtes Zimmer, dessen Fußboden nie gewischt wird, nicht als sauber bezeichnet werden kann.“ Die Erkenntnis, dass unordentlich nicht automatisch mit unsauber gleichzusetzen ist, ist für kleine und große Chaoten schon mal entlastend.
Überhaupt sollten wir uns nicht verrückt machen lassen, meinen die beiden Autoren. Und haben ein paar durchaus ernst gemeinte Ratschläge für diejenigen bereit, die unter ihrem Ordnungszwang leiden:
Ordnung im Schlafzimmer? Muss doch nicht sein. Tagsüber sind wir nicht dort, nachts schlafen wir und sehen nichts. Und ein Fremder dringt in diesen Raum auch nicht vor. „Ein Bett zu machen ist wie einen Schuh zuzubinden, nachdem man ihn ausgezogen hat“, unken Abrahamson und Freedman.
Bei vielen Menschen steigt das schlechte Gewissen sofort extrem an, wenn sie an ihre Garage (oder ihren Keller) denken: Vollgemüllt mit all dem Zeug, von dem man denkt, dass man es noch mal brauchen könnte, ist oft kein Durchkommen mehr. All diesen „Messies“, die sich selbst oder den Partner mit der ständigen Aufforderung nerven: „Da gehört mal richtig ausgemistet!“, stellen die Autoren die provozierende Frage: „Brauchen Sie wirklich eine Garage, die so sauber ist, dass ihre Familie Angst haben muss, sie durch Benutzung zu verunreinigen?“
An Ratschlägen, wie man Ordnung organisiert, fehlt es nicht. Einer davon lautet: Sich jeden Abend eine Viertelstunde fürs Aufräumen freizuhalten. Das kann klappen. Eine Zeitlang. Wenn dann doch wieder der alte Schlendrian einkehrt, sollten wir das nicht allzu tragisch nehmen, meinen Abrahamson und Freedman: „Wenn Sie Probleme damit haben, sich die Zeit zum Aufräumen zu nehmen, dann kann das daran liegen, dass wichtigere Dinge in Ihrem Leben vor sich gehen.“
Unsere Persönlichkeit drückt sich eher in Unordnung als in Ordnung aus
Die meisten Menschen sind radikal, wenn es um Ordnung geht. Sie verfahren oft nach dem Motto „Ganz oder gar nicht“. Das Chaos soll vollkommen aus der Welt geschafft werden. Die Gefahr dabei ist, dass Dinge weggeworfen werden, die man später schmerzlich vermisst. Bei solchen Aufräumaktionen wird oft vergessen, dass sich unsere Persönlichkeit stärker in unserer Unordnung als in unserer Ordnung ausdrückt, sagen die Autoren und geben zu bedenken: „Wenn wir uns also gnadenlos von dem befreien, was sich um uns herum auf natürliche Weise angesammelt hat, und alles Übrige auch noch akribisch sortieren, dann räumen wir in gewissem Sinne unsere Identität auf.“
Anna Roming
Literatur: Eric Abrahamson, David H. Freedman: Das perfekte Chaos. Warum unordentliche Menschen glücklicher und effizienter sind. Econ, Berlin 2007
Literatur
Bücher:
Tim Harford, Messy The Power of Disorder to Transform Our Lives. Riverhead Books, New York 2016
Eric Abrahamson, David H. Freedman, Das perfekte Chaos: Warum unordentliche Menschen glücklicher und effizienter sind. Econ Verlag, Berlin 2007
Wichtige Artikel:
Delphine Dion, Ouidade Sabri, Valérie Guillard/Home Sweet Messy Home: Managing Symbolic Pollution/Journal of Consumer Research/41/2014/565-589/10.1086/676922
Kathleen D. Vohs, Joseph P. Redden, Ryan Rahinel/ Physical Order Produces Healthy Choices, Generosity, and Conventionality, Whereas Disorder Produces Creativity/Psychological Science/24(9)/2013/1860-1867/10.1177/0956797613480186
Boyoun (Grace) Chae, (Juliet) Zhu/Environmental Disorder Leads to Self-Regulatory Failure/Journal of Consumer Research/40/2014/1203-1218/10.1086/674547
Daniel D. Sleator, Robert E. Tarjan/Amortized efficiency of list update and paging rules/ Communications of the ACM/28(2)/1985/202-208/10.1145/2786.2793
Steve Whittaker, Julia Hirschberg/The character, value and management of personal paper archives/ACM Transactions on Computer-Human Interaction/8(2)/2001/150-170/ 10.1145/376929.376932
Steve Whittaker, Tara Matthews, Julian Cerruti, Hernan Badenes, John Tang/Am I wasting my time organizing email? A study of email refinding/CHI '11 Proceedings of the SIGCHI Conference on Human Factors in Computing Systems/2011/3449-3458/10.1145/1978942.1979457
Alison Kidd/The Marks are on the Knowledge Worker/CHI '94 Proceedings of the SIGCHI Conference on Human Factors in Computing Systems/1994/186-191/10.1145/191666.191740
Craig Knight, S. Alexander Haslam/The Relative Merits of Lean, Enriched, and Empowered Offices: An Experimental Examination of the Impact of Workspace Management Strategies on Well-Being and Productivity/Journal of Experimental Psychology: Applied/16(2)/2010/158-172/10.1037/a0019292
Tralee Pearce/Good news: Living with messiness has its benefits/The Globe and Mail/ 2013 www.theglobeandmail.com/life/relationships... (Interview mit Eric Abrahamson)
Brian Christian, Tom Griffiths/File that under ‘M’ for messy/The Guardian/2016 www.theguardian.com/lifeandstyle/2016...
Tom Vanderbilt/The Traffic Guru/Wilson Quaterly/2008 archive.wilsonquarterly.com/essays/traffic-guru (Artikel über Hans Monderman)