In der Abfertigungshalle von Terminal 5 am Flughafen London Heathrow steht der Autor dieses Textes und möchte nach Hause. Auf einmal entdeckt er jemanden aus dem rechten Augenwinkel. Ein bekanntes Gesicht. Das ist doch …! Tatsächlich: Henry Birtles, den die englische Presse The Racing Poet nennt, weil er seit Jahren Sonette über Pferderennen verfasst (die dann in Ascot vorgetragen werden, um die Queen zu erheitern). Henry ist aber nicht nur ein Dichter, sondern auch ein alter Bekannter. Man hat sich vor…
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zu erheitern). Henry ist aber nicht nur ein Dichter, sondern auch ein alter Bekannter. Man hat sich vor vielen Jahren im Urlaub kennengelernt. Aber jetzt: Mensch! Du hier! Wie läuft’s? Was machen die Kinder? Und vor allem: Was für ein Zufall!
Und als man bald darauf in der Holzklasse Platz nimmt, schüttelt man noch immer den Kopf. Dass einem so was passiert – auf dem größten Flughafen Europas. Die Chancen dafür stehen … ach. So kleine Zahlen gibt’s eigentlich gar nicht. Ein Wink des Schicksals. Man tippt ins Smartphone: „Nächste Woche: Brief an Henry schreiben. Zumindest: E-Mail“.
Zufälle begegnen uns überall. Wir bezeichnen damit, wie der australische Philosoph Laurence Browne schreibt, das „bemerkenswerte Zusammentreffen von Ereignissen“. Manchmal fühlt sich solch ein Zusammentreffen besonders bedeutsam an. Man holpert unvermutet in ein Schlagloch auf der ansonsten makellos asphaltierten Autobahn des Lebens – und die Fahrt ändert ihren Kurs. Das kann doch kein Zufall sein!
Gibt es Zufälle wirklich?
Natürlich gibt es Wissenschaftler, die über solche Gedanken nur milde lächeln. Sie sind Kinder der Aufklärung, des Rationalismus. Sie haben sich darauf verständigt, dass alles den Gesetzen von Ursache und Wirkung folgt. Die Welt erscheint ihnen als Gesamtheit aller Kausalketten. Das bekannteste dazugehörige Gedankenexperiment ist etwas mehr als 200 Jahre alt (und damit älter als die moderne Psychologie).
Der Franzose Pierre-Simon Laplace äußerte damals die Annahme, dass eine extrem intelligente Lebensform nur sämtliche Naturgesetze und gegenwärtigen Zustände der Welt kennen müsse, um alles berechnen zu können, was vor uns liegt. „Nichts wäre für sie ungewiss, Zukunft und Vergangenheit lägen klar vor ihren Augen.“ Für diesen „laplaceschen Dämon“ gäbe es keine Zufälle. Dass wir dennoch von ihnen sprechen, wäre demnach nur ein Mangel an Einsicht.
Aber vielleicht liegen die Dinge auch anders, sobald handelnde Menschen beteiligt sind. Zumindest sobald man uns so etwas wie einen freien Willen zugesteht. Aus Gewissheiten werden Wahrscheinlichkeiten. Doch auch diese lassen sich messen und berechnen, weshalb ein Psychologiestudium heute zu nicht unerheblichen Teilen um die Gesetze der Statistik kreist. Viele der methodisch geschulten Psychologen lehnen es ab, hinter Zufällen so etwas wie einen tieferen Sinn zu vermuten. Leute, die das dennoch tun, „verstehen einfach nicht, dass Zufälle notwendigerweise geschehen, selbst wenn nichts als Glück und Wahrscheinlichkeit am Werk sind. Zufälle benötigen keine weiteren Erklärungen“, schreibt etwa der Psychologe Keith E. Stanovich von der University of Toronto in seinem Lehrbuch How to Think Straight About Psychology.
Es kommt darauf an, wie wir Erlebtes interpretieren
Umso erstaunlicher wirkt es, dass eine der umfangreichsten Sammlungen von Zufallsgeschichten ausgerechnet von einem Mathematiker initiiert wurde. Die Website understandinguncertainty.org des Risikoforschers David Spiegelhalter von der University of Cambridge hat bislang nach eigenen Angaben rund 4500 Zufallsanekdoten gehortet. Deren wissenschaftliche Auswertung steht zwar noch aus. Spiegelhalter hat sich jedoch schon seinen Reim auf die Schilderungen gemacht: „Das wirklich Verblüffende an all dem ist nicht so sehr, dass es geschieht, sondern dass wir es überhaupt bemerken.“ Was uns der Zahlenkönig aus Cambridge damit sagen möchte: Zufälle sind keine Frage der Physik oder der Mathematik. Sondern eine Frage der Psychologie, unserer Interpretation des Erlebten, unserer persönlichen Perspektive auf die Welt, die uns umgibt.
Manche Erklärungen gehen jedoch weiter: Was, wenn eine höhere Macht hinter all dem stünde? So lässt Shakespeare seinen Hamlet argwöhnen: „Es gibt mehr Ding im Himmel und auf Erden, als eure Schulweisheit sich träumt.“ Und der junge Dänenprinz weiß, wovon er spricht: Wenige Szenen zuvor ist ihm der Geist seines verblichenen Vaters erschienen. Aber gibt es sie wirklich, die Löcher in der Kuscheldecke der Kausalität?
„Vielleicht schon“, sagten sich Ende der 1970er Jahre einige Forscher an der amerikanischen Eliteuniversität Princeton. In den Laboren purzeln Murmeln rasselnd durch ein kompliziertes System von Hindernissen, Pendel schwingen majestätisch hinter Glasscheiben. Die Forscher bitten ihre Probanden, die Ergebnisse dieser Zufallsmaschinen mit purer Willenskraft zu beeinflussen. Sollte es tatsächlich eine unentdeckte Verbindung zwischen der Welt der Gedanken und der Welt der Materie geben? Die Sonderabteilung Princeton Engineering Anomalies Research (PEAR) produzierte über viele Jahre riesige Datenmengen. Und immer wieder glaubten die Forscher, dabei winzige Effekte entdeckt zu haben, kleinste Abweichungen von dem, was die Statistik des Zufalls vorhergesagt hatte. Hatten die Gedanken der Versuchspersonen tatsächlich einen Einfluss auf die Zufallsmaschinen gehabt?
Manche Zufälle muten unheimlich an
Die meisten Kollegen der PEAR-Forscher reagierten skeptisch. Mehrere Universitäten versuchten, die Ergebnisse durch eigene Experimente zu replizieren – jedoch ohne Erfolg. 2007 wurde die Abteilung schließlich dichtgemacht. In seinem Buch Der Zufall, das Universum und du schreibt der promovierte Quantenphysiker Florian Aigner dazu: „Manche Leute atmeten auf, weil sie das Labor als Schande für die Universität Princeton empfunden hatten.“
Dennoch kann man kaum bestreiten, dass manche Zufälle unheimlich anmuten. Wie die Geschichte der DC-6, die am 10. September 1961 den irischen Flughafen Shannon Richtung Amerika verlässt. An Bord ist eine Delegation der Bonner Landwirtschaftskammer. Ein Platz jedoch bleibt leer: Wolfgang Graf Berghe von Trips hat die Reise abgesagt, weil er lieber beim Großen Preis von Italien antreten möchte. Dort hat er zum ersten Mal die Chance, Formel-1-Weltmeister zu werden. Ein schicksalhafter Zufall! Denn die DC-6 verunglückt kurz nach dem Start, keiner der Passagiere überlebt.
Doch die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Auch auf der Rennstrecke von Monza kommt es zu einem Unfall: In der zweiten Runde überschlägt sich von Trips mit seinem Ferrari, der Wagen wird ins Publikum geschleudert und reißt 15 Menschen in den Tod. Von Trips bricht sich das Genick und stirbt noch am Unfallort. War es Vorsehung? Oder Gott? Jedenfalls scheint es rückblickend, als habe eine übermenschliche rätselhafte Instanz an diesem Septembertag des Jahres 1961 für den Grafen ein sicheres Ticket ins Jenseits gebucht.
Zusammenhänge erkennen, die bisher verborgen waren
Nicht weniger rätselhaft sind Ereignisse, in denen ein inneres psychisches Ereignis einem äußeren Ereignis unmittelbar vorangeht oder zeitlich mit ihm zusammenfällt. Man summt ein lange vergessenes Lied vor sich hin. Eine Minute später erklingt derselbe Song im Radio. Eine Frau sitzt im Büro und wird plötzlich von einer seltsamen Unruhe heimgesucht. Sie unterbricht ihre Arbeit und fährt nach Hause, wo sie auf dem Küchenboden ihren Ehemann findet. Er hat wenige Minuten zuvor einen Herzinfarkt erlitten. Sie ruft den Notarzt, der Mann wird gerettet. Wäre sie erst nach Feierabend zurückgekommen, er hätte die Sache nicht überlebt.
Für diese Art von Zufällen hat Carl Gustav Jung einen besonderen Begriff geprägt. Er spricht von einer „Synchronizität“: Innen- und Außenwelt treten scheinbar in einen Dialog. Jungs wohl berühmteste Geschichte dazu handelt von einer seiner Therapiesitzungen. Eine Patientin berichtet gerade von einem Traum, in dem ihr ein goldener Skarabäus (Glückskäfer) geschenkt wird. Im selben Moment hört Jung hinter sich ein Klopfen am Fenster; ein großes Insekt ist offenbar gegen die Scheibe geflogen. Jung öffnet das Fenster, fängt den Käfer und zeigt ihn der Patientin. Es handelt sich um einen Blatthornkäfer, einen nahen Verwandten des Scarabaeus sacer. Jung berichtet, dass die bis dahin schwierige Behandlung der Patientin durch diese Synchronizität „zum ersten Mal richtig in Fluss kam“.
Wie Jung anhand vieler solcher Anekdoten beschreibt, geht das Erfahren von Synchronizität mit einem besonderen Erleben einher. Wir fühlen uns überwältigt von einer übernatürlichen, manchmal göttlichen Kraft, die Jung „das Numinose“ nennt. Oftmals komme uns dabei eine „blitzartige Einsicht“ – wir erkennen auf einmal Zusammenhänge, die uns bis dahin verborgen waren.
Die Anzahl der Zufälle beeinflussen
In seinem Buch Connecting with Coincidence hat sich zuletzt der amerikanische Psychiater Bernard Beitman von der University of Virginia wieder intensiv mit dem Phänomen der Synchronizität befasst. Beitman hat unter anderem herausgefunden, dass Menschen eine stark unterschiedliche Empfänglichkeit für das Erleben und Erkennen glücklicher oder schicksalhafter Zufälle besitzen. Zur Messung hat er sogar einen eigenen Fragebogen entwickelt, den Weird Coincidence Survey. (Möchten Sie ihn ausprobieren? Einen Selbsttest finden Sie auf Seite 31)
Beitman ist überzeugt: Man kann Zufälle gezielt für sich nutzen und in eine Art Rückenwind des Lebens verwandeln. Berufsberater arbeiten schon seit einigen Jahren erfolgreich mit einem Ansatz namens planned happenstance, der davon ausgeht, dass jede gelungene Karriere letztlich von günstigen Zufällen befeuert wird. Sie raten dazu, die Zahl solcher Zufälle systematisch zu erhöhen und zusätzlich die eigene Aufmerksamkeit für das Erkennen solcher Situationen zu schärfen (siehe auch Heft 5/2015: Den Traumjob finden – zufällig!). Der britische Psychologe Richard Wiseman ist gar der Meinung, dass 80 Prozent aller glücklichen Zufälle, die uns begegnen, weniger von äußeren Wahrscheinlichkeiten abhängen – sondern eher von unserer Fähigkeit, solche Gelegenheiten überhaupt zu erkennen (siehe Heft 4/2012: „Zufälle treten nicht in Serie auf“).
Beitman argumentiert ähnlich: Manche Zufälle liefern uns genau das, was wir in unserer momentanen Lebenssituation brauchen. Das Jobangebot, auf das wir so lange gewartet haben. Den Menschen, der uns dabei hilft, ein Projekt zu einem guten Abschluss zu bringen. „Wer Zufälle ignoriert“, so Beitman, „wird nicht in der Lage sein, sein maximales Potenzial auszuschöpfen.“ Sein einfacher Rat: Wir sollten lernen, mit offenen Augen systematisch nach solchen Rückenwindsituationen Ausschau zu halten. Je stärker wir das täten, desto häufiger würden uns günstige Zufälle auch tatsächlich begegnen.
Zufallstagebücher können sortieren helfen
Beitman arbeitet aber nicht nur als Forscher, sondern auch als Psychotherapeut. In diesem Zusammenhang hält er eine erhöhte Empfänglichkeit für Zufälle gar für „essenziell“. Aus einem einfachen Grund: Wer darauf achte, wie verblüffend oft seine inneren Gedanken in der äußeren Welt ein Echo fänden, der erhöhe dadurch automatisch die Aufmerksamkeit für das eigene Denken und Erleben. Man werde sich seiner eigenen – womöglich schädlichen – Muster bewusst und habe dadurch die Chance, neue Wege zu gehen. „Jungianer sehen den größten Wert von Synchronizität darin, dass sie uns hilft, im psychologischen Sinne zu wachsen und wirklich wir selbst zu werden“, schreibt Beitman.
Ganz praktisch empfiehlt er, eine Art Zufallstagebuch zu führen. Mit etwas Abstand falle es uns leichter, einen tieferen Sinn hinter unseren Erlebnissen zu entdecken. Statt sich nur einen Moment lang kopfschüttelnd zu wundern und danach weiterzumachen wie bisher, könne Synchronizität auf diese Weise zur klugen Ratgeberin werden.
Bleibt die Frage, ob Zufälle tatsächlich immer als Grundlage für wichtige Entscheidungen taugen. An dieser Stelle bleibt Beitman skeptisch. Viele Lebenshilfebücher hätten den Zufall zuletzt als „Manifestation eines wohlwollenden Universums“ vermarktet. Tatsächlich führe der blinde Glaube an jeden zufälligen Fingerzeig aber zu nachgerade „dümmlichen Abweichungen von einem vernünftigen Kurs“. Beitman berichtet etwa den Fall einer Klientin. Sie hatte sich unsterblich in einen Mann verliebt – nur weil dessen Mutter zufällig denselben Vornamen hatte wie ihre Schwester und sein Vater denselben wie ihr Bruder. Für sie gab es keinen Zweifel: Dieser Mann war für sie bestimmt! Ob seine Persönlichkeit zu ihr passte? Diese Frage hatte sie sich nie gestellt. Die Beziehung hielt zu ihrer Verblüffung nicht besonders lange.
Sein ganzes Leben auf Zufälle aufzubauen sei „generell keine besonders gute Idee“, bemerkt Beitman. „Wir nutzen Zufälle dann am besten, wenn wir sie als Helfer für fällige Entscheidungen verstehen – ihnen aber die Entscheidungen nicht komplett überlassen.“
Wie empfänglich bin ich für die Macht des Zufalls?
Das soll ein Fragebogen untersuchen, den der Psychiater Bernard Beitman entworfen hat. Wie häufig treffen die folgenden Aussagen auf Sie zu? Schreiben Sie hinter jede der folgenden Aussagen den entsprechenden Wert: 1 = nie; 2 = selten; 3 = gelegentlich; 4 = häufig; 5 = sehr häufig.
1 Nachdem mir ein besonderer Zufall begegnet ist, analysiere ich, was dieses Erlebnis bedeutet. _
2 Meine Karriere wurde davon beeinflusst, dass ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. _
3 Ich begegne Menschen, die später auf ungeplante Art und Weise meine Karriere befördern. _
4 Ich erlebe starke Emotionen oder körperliche Empfindungen – und eine Person, die ich liebe, erlebt gleichzeitig dasselbe, obwohl sie sich an einem ganz anderen Ort befindet. _
5 Ich brauche etwas, und meine Wünsche werden ohne mein Zutun erfüllt. _
6 Ich begegne zufällig einem Freund an einem Ort, an dem ich ihn nicht erwartet habe. _
7 Ich denke an eine Frage – und bekomme die Antwort durch eine äußere Quelle (Radio, Fernsehen, Gespräche), ohne die Frage jemals laut gestellt zu haben.
8 Ich denke an eine Idee – und sie begegnet mir im Radio, im Fernsehen oder im Internet. _
9 Ich denke daran, eine Person anzurufen – und im selben Moment klingelt das Telefon, und genau diese Person ist am anderen Ende der Leitung. _
10 Ich denke an jemanden – und genau diese Person begegnet mir oder stattet mir einen Überraschungs-besuch ab. _
11 Besondere Zufälle bestimmen meine Aus- und Fortbildung. _
12 Wenn das Telefon klingelt, weiß ich instinktiv, wer mich anruft (ohne aufs Display meines Handys geschaut oder personalisierte Klingeltöne programmiert zu haben). _
Zählen Sie Ihre Punkte zusammen.
Mehr als 43 Punkte: extrem empfänglich.
39–43 Punkte: sehr empfänglich.
35–38 Punkte: empfänglich.
27–34 Punkte: durchschnittlich empfänglich.
23–26 Punkte: eher verschlossen.
19–22 Punkte: verschlossen.
Weniger als 19: extrem verschlossen.
Laut Beitman nutzen Menschen mit hoher Punktzahl Zufälle regelmäßig als Entscheidungshilfe. Menschen mit niedriger Punktzahl tun dies nur bei Zufällen, die ihnen häufiger widerfahren. Beitman ist überzeugt: Wer sich gedanklich mit dem Thema Zufall beschäftige, dessen Punktzahl werde mit der Zeit steigen.
Literatur
Florian Aigner: Der Zufall, das Universum und du. Die Wissenschaft vom Glück. Brandstätter, Wien 2017
Bernard Beitman: Connecting with coincidence: The new science for using synchronicity and serendipity in your life. Health Communications, Deerfield Beach 2016
Laurence Browne: Some difficulties in coincidence analysis. Dissertation an der University of Queensland, 2013
Keith E. Stanovich: How to think straight about psychology. Prentice Hall, Upper Saddle River 2012 (10. Auflage)