„Im echten Leben ist es auch oft still“

Die Romane von Milena Michiko Flašar handeln von Menschen, die sich isoliert und einsam fühlen. Warum ihr sensible Figuren am Herzen liegen.

Die Autorin Milena Michiko sitzt auf einer Parkbank vor einer grünen Hecke.
Die Autorin Milena Michiko Flašar gibt in ihren Büchern dem Innenleben ihrer Figuren eine Stimme. © Mafalda Rakoš für Psychologie Heute

Das „Café Weimar“ in Wien ist morgens noch leer. Milena Michiko Flašar kennt sich aus, sie steuert zielsicher auf einen Vierertisch zu. Ein bisschen Abstand halten, aus Respekt vor der Pandemie. Schon wieder. Immer noch. Wir bestellen Melange und Wasser.

Dann nimmt die Schriftstellerin vorsichtig zwei ihrer Romane aus einer Umhängetasche, platziert die mit Klebezetteln versehenen Exemplare auf der Tischplatte. Während wir reden, legt sie gelegentlich die Hand auf eins der Bücher. Sorgsam. Bedächtig. Im…

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auf der Tischplatte. Während wir reden, legt sie gelegentlich die Hand auf eins der Bücher. Sorgsam. Bedächtig. Im Gespräch selbst gibt Flašar dagegen ein rapides Tempo vor. Ihre Worte wählt sie präzise, fast luzide. Beide Facetten, die Klarheit und den Sinn für Details findet man auch in ihren Romanen. Dort thematisiert sie häufig die Lebenswelten zurückgezogener, manchmal verzweifelt einsamer Figuren.

Im Bestseller Ich nannte ihn Krawatte ist der Ich-Erzähler ein noch bei den Eltern lebender junger Mann, der dort monatelang sein Kinderzimmer nicht verlässt. Diese Art Rückzug wird in Japan hikikomori genannt, vereinzelt wird dieses Phänomen auch von europäischen Psychologinnen und Psychiatern beschrieben. Die Autorin ist selbst erstaunt, dass sich Leser und Leserinnen aller Altersstufen mit diesem Jungen an der Schwelle zum Erwachsensein identifizieren, der mit der Welt nicht mehr zurechtkommt und sich von ihr und allem abschottet.

Milena Michiko Flašar schottet sich in dem Gespräch keineswegs ab, sie ist zugewandt, lässt sich auf jede Frage ein, mal sachlich, mal leidenschaftlich.

Frau Flašar, Ihre Romane kreisen oft um Themen wie Isolation und Einsamkeit. Warum ist Ihnen das wichtig?

Einsamkeit ist eine Grunderfahrung des Menschen. Wir alle kennen das Gefühl, allein zu sein. Deshalb greife ich das auf. Im Roman Ich nannte ihn Krawatte geht es tatsächlich vor allem um Isolation, der Protagonist Hiro zieht sich für Monate ganz aus der Welt zurück. Im darauffolgenden Roman Herr Katō spielt Familie ist es anders gelagert. Der Protagonist im Rentenalter fühlt sich unter anderen Menschen allein, in der eigenen Familie abgekapselt. Er kommt nicht aus sich heraus, kann nicht kommunizieren, ist dadurch zutiefst einsam.

Aber es stimmt: Auch wenn ich es nicht bewusst zu meinem Thema gemacht habe, beschreibe ich oft einsame Figuren. Wobei ich die Frage stellen möchte, ob das nicht für die Literatur generell gilt. Wenn ich darüber nachdenke, welche Stoffe ich zuletzt gelesen habe, sind es meistens einsame Protagonisten, die beschrieben werden. Figuren, die sehr bei sich sind, sich von anderen getrennt fühlen.

Warum sind isolierte Menschen als literarische Figuren so ergiebig?

Gerade einsame Protagonisten reflektieren oft intensiv, sie sind vielschichtig und beobachten außerdem genau, was in der Welt vor sich geht. Dadurch erfährt man beim Lesen auch etwas über das, was draußen passiert, betrachtet das Geschehen gemeinsam mit der Figur mit etwas Abstand. Ich glaube, dass dieses Spannungsfeld von Innen und Außen etwas ist, was für Schriftstellerinnen und Schriftsteller spannend ist.

Nur das Äußere zu beschreiben, nur eine offensichtliche Handlung darzustellen wäre relativ plump. Ich will eher davon schreiben, wie sich eine Person in diesem Außen bewegt, wie sie die Welt sieht, was sie empfindet. All das hat viel mit Psychologie zu tun, man taucht beim Schreiben tief in die Psyche einer Figur ein.

Die Introvertierten und Sensiblen sind heute auch in psychologischen Ratgebern und Fachbüchern öfter Thema als noch vor 20 Jahren. Das Interesse am Thema scheint groß zu sein.

Vielleicht hat es damit zu tun, dass ihre Position im Alltag oft untergeht. In der lauten Welt sind es die Stillen, die ungehört bleiben. Ich gehöre wahrscheinlich selbst zu den sogenannten Sensiblen oder Introvertierten. Von daher liegen mir solche Figuren am Herzen. Übersehen werden aber nicht nur die Zurückhaltenden. Es sind auch die Minderheiten. Menschen, die irgendwie „anders“ sind. Menschen ohne soziale Bildungs- oder Aufstiegschancen. Menschen, die unter die Räder gekommen sind.

Der Protagonist Hiro ist einer von ihnen. Er schließt sich in seinem Kinderzimmer ein. Es ist seine Art, gegen den Strom zu schwimmen. Auf eine sehr leise Art sagt er nein. So wie die Schule ist, so wie seine Eltern sind, so will er nicht erwachsen werden. Er lehnt das ab. Er ist kein Charakter, der explodiert und wild um sich schlägt. Er implodiert, fällt in sich selbst hinein. Das fand ich spannend.

Wie finden Sie Stoffe und Figuren, bei denen Spannung zwischen Innenleben und Außenwelt entstehen kann?

Ach, vollkommen unsystematisch. Oft recherchiere ich erst mal wild im Internet, komme von einem Thema aufs nächste, bleibe irgendwo hängen. Nach meinem Roman Okaasan. Meine unbekannte Mutter, in dem die Hauptfigur am Schluss nach Japan reist, kam in mir der Wunsch auf, mich literarisch selbst noch bewusster nach Japan zu bewegen. Als Halbjapanerin kenne ich die Kultur, bin regelmäßig in Tokio, habe aber noch nie in dem Land gewohnt oder gearbeitet, bin nie dort zur Schule gegangen. Ich wollte dennoch ausprobieren, ob sich Japan für mich als poetischer Ort eignen könnte.

Also habe ich viel gelesen, um zu verstehen, was dort im Moment aktuell ist, und bin auf das Schlagwort Hikikomori gestoßen. Und ich konnte es am Anfang gar nicht fassen, dass es das wirklich gibt, dass junge Menschen für Jahre in ihrem Kinderzimmer bleiben. Das hat mich gepackt. Das war natürlich genau das, was mich interessiert, die perfekte Figur für mich. Auch weil ich mich in meinen Stoffen gern im Kleinen bewege. Als ich mit dem Schreiben anfing, wollte ich anfangs tatsächlich nur schildern, wie ein Protagonist Zeit in seinem Zimmer verbringt. Aber damit bin ich nicht wirklich weitergekommen.

Was hat Ihnen gefehlt?

Das Gegenteil von Isolation: dass die Person aus dem Zimmer hinausgeht, den Rückzugsort hinter sich lässt. Nachdem ich schon einige Monate Entwürfe gemacht hatte, kam mir plötzlich der Satz in den Sinn: „Ich nannte ihn Krawatte“, der dann auch Titel des Buchs wurde. Ohne dass es mir vorher bewusst gewesen wäre, ist mir durch diesen Satz klargeworden, dass es mir nicht nur um eine Person geht. Es sind zwei Menschen, von denen ich erzählen will, es ist nicht nur der Junge. Mit dieser Einsicht ist dann alles organisch ins Laufen gekommen. Alles andere, was ich davor zum Thema geschrieben hatte, habe ich weggelegt.

Hatten Sie beim Schreiben den Eindruck, dass sich in der reinen Isolation nichts entwickeln kann?

Mehr noch, ich habe gemerkt, dass es eine komplette Isolation gar nicht gibt. Hiro will jede Begegnung vermeiden, er ist am Anfang der Meinung, dass dies nur zu Komplikationen, Missverständnissen und Leid führt. Aber er erkennt gegen Ende des Buches, dass eine komplette Abschottung nicht existiert. Man kann sich wegsperren, kann alle Kontakte kappen – und doch ist man immer mit den anderen verbunden. Sogar wenn man in seinem Zimmer bleibt.

Hiro ist zum Beispiel durch Geräusche, durch Gesten immer noch mit den Eltern verbunden. Und er macht ja auch seine Eltern zu Hikikomori. Sie können nicht mehr verreisen oder abends weggehen, sie müssen sich um ihn kümmern, stellen ihm beispielsweise seine Mahlzeiten vor die Zimmertür. Der Sohn ist anwesend durch seine Abwesenheit: Da ist das leere Sitzkissen, der Teller, den er vor der Tür zurücklässt. Die Gegenstände, die Stille, daraus spricht der Sohn. Und deshalb nehmen die Eltern sein Dasein möglicherweise noch deutlicher wahr.

In Familientherapien ist es häufig Thema, dass auch abwesende Personen im System eine Rolle spielen. Haben Sie sich diese Erkenntnis beim Schreiben erarbeitet oder war Ihnen das schon vorher klar?

Ähnliche Gedanken sind mir schon vorher durch den Kopf gegangen. Ich habe zur Vorbereitung viele Fallgeschichten gelesen, beispielsweise über ein junges Mädchen, ebenfalls Hikikomori, das sich ausgerechnet in der Küche des Hauses eingesperrt hat. Wenn die Küche als Herz des Hauses, wo man gemeinsam isst und sich trifft, wegfällt, wenn Mutter, Vater und alle Geschwister sich im eigenen Haus neu platzieren müssen, dann wird schnell deutlich, dass die ganze Familie in die Problematik eingebunden ist – die Architektur der Familie verändert sich.

Es drängt sich aber auch die Frage auf: Was können die Eltern machen? Können sie etwas beitragen, um die Isolation zu beenden?

Ich werde bei Lesungen oft gefragt: „Wie können die Eltern es zulassen, dass das Kind sich einschließt? Wie können sie einfach zuschauen? Ich an ihrer Stelle würde die Tür aufbrechen und meinen Sohn herauszerren.“ Aber ich glaube, das ist zu einfach gedacht. Das funktioniert vielleicht in seltenen Fällen. Aber die Eltern wissen meist, dass es schon vorher eine Dynamik gab, die dazu geführt hat, dass ein Kind sich zurückzieht. Es ist ein Geflecht aus Schuld und Scham, vielleicht auch von einem gewissen Verständnis. Die Hoffnung, dass es bald von selbst besser wird, spielt sicher auch eine Rolle. Dann wird es nicht besser – und man richtet sich in der neuen Situation ein.

Die Dynamik, dass man alles einfach weiterlaufen lässt, fast so, als ob es dieses Problem nicht gäbe, gibt es bei vielen Familienthemen. Nicht nur bei Entwicklungen von Kindern, auch wenn sich eine Entfremdung zwischen Partnern einschleicht wie im Roman über Herrn Katō und seine Frau. Das Thema schwirrt einem dann im Hinterkopf herum, aber man versucht, damit zu leben.

Es klingt, als hätten Sie viel Verständnis für den Rückzug Ihres Protagonisten. Stimmt der Eindruck?

Jedenfalls würde ich mir wünschen, dass sich Leserinnen und Leser mitfühlend in ihn hineinversetzen können und dadurch ihren eigenen inneren Hikikomori-Anteilen begegnen. Die meisten werden sich mit der extremen Form der Isolation nicht eins zu eins identifizieren können, sehr wohl aber mit Anteilen davon, und so wird aus dem persönlichen Schicksal einer Figur auch das des Lesers.

Was heißt das konkret, dem „inneren Hikikomori“ zu begegnen?

Der Teenager Hiro erkennt während der Isolation, was er alles versäumt hat. Als er noch zur Schule ging und Freundschaften pflegte, hat er nie das Wort ergriffen, wenn er etwas hätte sagen sollen. Er ist nie aktiv geworden, hat nie eingegriffen, wenn er es hätte tun sollen. Er hat seinen Freund im Stich gelassen, seine Freundin, die gemobbt wurde, und Schrecklicheres. Er spürt sein Versagen sehr genau. Und ich glaube, das geht vielen Menschen so.

Fast jeder kennt Situationen, in denen er etwas unterlässt. Man sieht etwas Schlimmes, aber schaut weg, als würde es einen nichts angehen. Es gibt ganz alltägliche Momente, in denen stecken wir alle den Kopf in den Sand und tun, als ob wir kurz weg wären. Wir kappen die Verbindung zur Welt. Ich glaube, das kennt jeder und ich schließe mich da auch mit ein.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Teile des Romans spielen auf einer Parkbank. Der Jüngere, Hiro lernt dort den älteren Geschäftsmann Tetsu kennen. Die beiden freunden sich an. Hiro will das am Anfang gar nicht. Er ist fast zu schüchtern, um die Hand zu heben und zu grüßen. Doch plötzlich sitzt der Ältere neben ihm auf der Bank. Am Anfang steht noch die Aktentasche zwischen ihnen, später steht sie an der Seite. Das sind Momente, in denen Hiro langsam beginnt, den Kontakt zu bejahen und zu wagen.

Im echten Leben, fernab von Büchern, ist es dagegen oft so, dass man eher aufsteht und weggeht, wenn jemand auf der Bank neben einem Platz nimmt. Oder dass man es gar nicht zulässt, dass sich ein Gespräch entspinnt. Man hat sofort Angst: „Oh, hoffentlich wird das jetzt nicht zu intensiv. Hoffentlich fasst mich das jetzt nicht zu sehr an.“ Und natürlich ist es bisweilen auch gut, auf den eigenen Instinkt zu hören. Aber häufig versäumen wir etwas im alltäglichen Kontakt, sind viel zu reserviert und abgegrenzt.

Die Szenen im Park sind wohltuend. Es entsteht beim Lesen eine Sehnsucht, diese Ruhe, dieses Zarte, diese kleinen Gesten auch erleben zu können.

Ich wollte zeigen, dass es für die beiden auch sein Schönes hat, eine Zeit aus ihrer Welt, aus ihrem Takt und Rhythmus herauszufallen. Der Ältere hat seine Arbeit verloren, hat aber auch Muße, hat Zeit nachzudenken. Und für den Jüngeren ist es ebenfalls eine Auszeit. Er hat sich aus der Familie und Schullaufbahn ausgeklinkt, auch er kann ins Innere hineingehen. Das ist ein Moment von Langsamkeit, fast wie ein Sabbatical, das die beiden da irgendwie miteinander teilen.

An einer Stelle sagt der Ältere zum Jüngeren: „Ich bin da und du bist da und das genügt.“ Sie müssen nichts tun, nichts leisten, haben einen perfektionistischen Drang hinter sich gelassen. Auch bei Herrn Katō gibt es ähnliche Szenen: Die Momente, in denen Herr Katō und seine Frau sich näherkommen, sind immer die, in denen sie ein bisschen aus dem Alltag und der Tretmühle herausfallen und kurz zusammen den Mond betrachten oder sich gemeinsam eine Wurzel anschauen.

Klingt schön.

Ja. Und wahrscheinlich kommt das in unser aller Leben zu kurz, man ist ja ständig in Aktion. Ich kenne viele Leute, die sagen, sie haben gar keine Zeit, gar keine Ressourcen, gar keine Energie mehr, neue Freundschaften zu knüpfen. Das ist etwas traurig, dass man so eingeschränkt wird oder sich selbst einschränkt. Man ist daran, wie ich finde, auch selbst beteiligt.

Die Annäherungen, die Sie beschreiben, sind oft sehr zart, klein, beiläufig. Große Handlungsbögen sucht man vergeblich. Warum ist Ihnen das wichtig?

Ich mag das ganz Kleine. Im Ausschnitthaften, zum Beispiel auf der Parkbank, sehe ich auf engem Raum zusammengestellt, was auch außerhalb davon in der Welt wirkt. Vor allem bei Ich nannte ihn Krawatte war mir der Aspekt der Sparsamkeit wichtig. Fast wie bei einer japanischen Tuschezeichnung – die nur den Gegenstand zeigt, nicht aber den Hintergrund – wollte ich das Wesentliche der Figuren herausarbeiten. Die Beschreibungen habe ich knapp gehalten, nur wenige Worte gewählt.

Im Grunde waren es die Figuren selbst, die eine solche Sparsamkeit einforderten. Ein übervolles dramatisches Setting hätte sie erdrückt. Auch bei Herrn Katō verhält es sich so. Er ist kein Mann, der große Sprünge wagt. Er ist in vielen Dingen geradezu krankhaft kleinlich. Auch für seine Persönlichkeit war es wichtig, eher kammerspielartig zu erzählen.

Sie haben also für die einsamen, introvertierten Figuren in ­Ihrem Roman ein Setting geschaffen, in dem sie sich entfalten können?

Ich würde sagen: ein Setting, in dem man die inneren Entwicklungen dieser zurückhaltenden Personen überhaupt mitbekommen kann. Mir liegt allerdings generell nichts daran, epische Handlungsstränge auszubreiten. Im echten Leben ist es doch auch nicht so, dass alles sofort umgerissen wird, nur weil etwas passiert: Veränderungen geschehen unterschwellig und ganz langsam, fast ohne dass man es selbst merkt. Und erst im Nachhinein lässt sich sagen: Das war eine Phase, in der hat sich etwas gewandelt. Im echten Leben ist es auch oft eher still.

Wie ist Ihnen das Verknappen handwerklich gelungen: Haben Sie erst viel gestrichen? Oder haben Sie sich von Anfang an kurz gehalten?

Bei der Krawatte war es aus einem Guss. Ich habe mit dem ersten Satz begonnen, habe alles runtergeschrieben bis zum Schluss. Dieser Prozess war beinahe magisch, auch für mich selbst im Nachhinein. Ich bin dankbar, dass ich das erleben durfte. Es war schön, so konzentriert einen Text zu erarbeiten. Ich war wochenlang den ganzen Tag nur mit dieser Figur zusammen, es hat immer ein Wort zum nächsten geführt.

Das klingt jetzt komisch, ich möchte nicht sagen, dass das nicht ich gewesen wäre, die das geschrieben hat. Aber es hat sich angefühlt, als ob ich es mitschreiben würde. Ein wunderbarer Prozess. Das saß dann auch sofort. Ich habe den Computer zugeklappt, das Manuskript abgegeben. Es musste nur noch minimal geändert werden. Bei Herrn Katō, den ich danach geschrieben habe, war es dann schon wieder ganz anders. Es hat mehrere Versionen gegeben.

Warum sind die Schreibprozesse so unterschiedlich? Weil die Bücher anders sind?

Ich glaube eher, weil sich auch meine eigene Lebenssituation verändert. Als ich über Hiro schrieb, war ich noch allein, wir hatten noch kein Kind. Da schreibt es sich anders. Man muss nicht denken, was man sonst noch zu tun hat, man kann sich ganz auf den Prozess einlassen und, wenn es wichtig ist, bis in die frühen Morgenstunden schreiben.

Als ich dann Herrn Katō schrieb, war unser Sohn schon im Kindergartenalter. Das ist eine andere Situation, ähnlich ist sie auch jetzt noch: Ich bin natürlich immer auch Autorin, aber gleichzeitig bin ich eine Mutter, die sich Gedanken macht und die einen geistigen Spickzettel hat, was noch alles zu tun ist. Das sind zwei sehr unterschiedliche Rollen, die ich vereine. Beide sind kreativ, aber auf vollkommen andere Art. Oft habe ich den Kopf so voll, dass ich mich bemühen muss, dort ein Abteil freizubekommen fürs Schreiben. Ich mache es dennoch.

Das Thema Isolation war durch die Coronapandemie in den letzten Jahren präsenter denn je. Die Belastung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen durch Einsamkeit war und ist oft Thema. Sind wir über diese Phase der Zurückgezogenheit hinweg?

Mein Gefühl ist, dass sich viele Menschen an den Zustand gewöhnt haben, sich zu isolieren, dass es schwierig ist, diese Gewohnheiten des Rückzugs wieder aufzugeben oder zu ­verlassen. Viele Unsicherheiten und Ängste sind noch immer da, die belasten alle und sind auch nicht von der Hand zu weisen. Dennoch glaube ich, dass es wichtig ist, immer wieder bewusst in Kontakt zu treten, sich also zu bemühen, auch den persönlichen Kontakt wieder bewusster herzustellen. Und nur wenn das nicht möglich ist, die technischen Möglichkeiten zu nutzen.

Müssen wir Einsamkeit im Leben manchmal hinnehmen? Können wir sie überhaupt ganz überwinden?

Das ist eine schwierige Frage. Ich weiß keine Antwort darauf. Um aber bei Hiro zu bleiben: Möglich sind Begegnung und Kontakt wohl nur, wenn man es will. Und zum Wollen gehört auch ein Minimum an Aktion. Hiro zum Beispiel lässt sich schließlich auf den älteren Freund ein, dem er tagtäglich auf der Parkbank begegnet, und fängt sogar an, ihn zu suchen, als dieser eines Tages nicht auftaucht. Er geht der Verbindung nach.

Ich glaube, den Kontakt mit anderen zu wagen und aufzubauen, das ist eine Art Selbstverpflichtung. Auch in der Pandemie, auch in Phasen des Zweifels oder Stresses. Im Alltag sagen wir oft „Ich melde mich bei dir“ oder „Ich ruf dich an“ und tun es dann nicht. Man kann sich nicht bei allen melden. Aber die Personen, denen man sich verbunden fühlt, brauchen auch Zuverlässigkeit und Einsatz. Nur so kann die Beziehung wachsen.

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Leseprobe

Der Park war durch seine Anwesenheit kleiner geworden. Er bestand nun aus nur mehr zwei Bänken, seiner und meiner, den paar Schritten, die uns voneinander trennten. Wann würde er aufstehen und gehen? Die Sonne war von Süden nach Westen gewandert. Es kühlte ab. Er verschränkte die Arme. Die Zeitung lag aufgeblättert auf seinen Knien. Eine Schar Schulkinder kam lärmend über den Rasen gestolpert. Zwei ältere Frauen unterhielten sich über ihre Krankheiten. So ist das Leben, sagte die eine, man wird geboren, um zu sterben. Er war eingeschlafen. Schwerer Kopf. Die Zeitung flatterte zu Boden. Jederzeit kann es zu Ende gehen, hörte ich, manchmal habe ich gar kein Gefühl mehr da drinnen.

Im Schlaf löste sich sein Gesicht auf. Silbrige Strähnen in der Stirn, unter den Lidern jagte ein Traum den anderen. Zuckende Oberschenkel. Ich empfand etwas, dünn wie der Faden Speichel, der aus seinem offenen Mund heraushing. Noch fehlte mir aber das Wort dafür. Erst jetzt fällt es mir ein. Mitgefühl. Oder der jähe Impuls, ihn zuzudecken.

Als er endlich erwachte, sah er müder aus als zuvor.

Auszug aus Milena Michiko Flašar: Ich nannte ihn Krawatte. © 2012, 2020 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin

Milena Michiko Flašar, 1980 in St. Pölten geboren, ist eine­­ japanisch-österreichische Schriftstellerin. Bisher hat sie vier Romane veröffentlicht: Ich bin; Okaasan – Meine unbekannte Mutter; Ich nannte ihn Krawatte; Herr Katō spielt Familie. Sie erhielt verschiedene Arbeitsstipendien und Literaturpreise. Ihr Bestseller Ich nannte ihn Krawatte wurde auch als Hörspiel und Theaterstück adaptiert. Flašar lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Wien.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2023: Selbstmitgefühl