Tatsächlich, da steht sie. Als ich im Hamburger Hauptbahnhof um 12.29 Uhr aus dem Zug steige, erwartet mich auf dem Bahnsteig von Gleis 11 eine Frau im Parka, meerwettergebräunt unter dem Mundschutz. Judith Hermann und ich haben ein Interview im Freien vereinbart, also ziehen wir an der Kunsthalle vorbei zur Binnenalster, suchen uns eine Parkbank und reden. Entgegen der Wettervorhersage ziehen dunkle Wolken auf, es fallen ein paar Tropfen, aber wir harren aus, und irgendwann bricht die Sonne durch.
Judith…
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Wolken auf, es fallen ein paar Tropfen, aber wir harren aus, und irgendwann bricht die Sonne durch.
Judith Hermann erweist sich als sehr freundliche und sehr bestimmte Gesprächspartnerin, ich hatte sie mir scheuer vorgestellt. Wir reden über ihren neuen Roman Daheim, der an einer unbestimmten Küste spielt, vielleicht ähnlich der ostfriesischen, an der die Berlinerin selbst seit einiger Zeit lebt. Sie verneint die Frage, ob es sie angesichts solcher Parallelen stört, wenn man sich die Erzählfigur unwillkürlich als Alter Ego von Judith Hermann vorstellt. „Man kommt beim Lesen nicht umhin, die Autorin mit dem Erzählten in Verbindung zu bringen“, sagt sie. „Wobei nur ich selbst weiß, inwieweit dieser Text tatsächlich autobiografisch oder autofiktiv ist.“
Frau Hermann, warum hat die Frau, die in Daheim als Erzählerin auftritt, keinen Namen – jedenfalls keinen, den man beim Lesen erfährt?
Tatsächlich ist mir das erst wirklich aufgefallen, als ich nach dem Erscheinen des Romanes mehrfach darauf angesprochen worden bin. Selbstverständlich hat diese Figur einen Namen, ich habe aber nicht die geringste Notwendigkeit gesehen, diesen Namen zu nennen. Ihn zu verschweigen ist also keine bewusste, sondern eine unbewusste Entscheidung gewesen; so vieles beim Schreiben ist unbewusst.
Als ich darüber nachgedacht habe, welche Motive ich für dieses Verschweigen gehabt haben könnte, kam es mir so vor, als hätte ich die Figur beschützen wollen. Der eigene Name kann ein persönlicher Schutzraum sein, und den wollte ich der Figur offenbar doch lassen. Ich wollte sie vor einem allerletzten Zugriff der Leser bewahren.
Im Roman mietet diese Frau ein einsames kleines Haus hinter dem Deich und lässt sich allein dort nieder, fernab ihres bisherigen Umfelds. In welcher Lebenssituation befindet sie sich?
Diese Frau ist Ende vierzig, sie ist über die Mitte des Lebens aller Wahrscheinlichkeit nach hinaus. Sie hat mit ihrer Familie, ihrem Mann und ihrer Tochter, in der Stadt gelebt, jetzt ist die Tochter groß und hat das Haus verlassen, um in die Welt hinauszuziehen, und diese Frau empfindet das erwachsen gewordene Kind als eine Zäsur, der sie eine weitere Zäsur hinzufügen will: Sie löst ihre Ehe auf, ordnet ihren Besitz und übergibt ihn mitsamt Fotos und Erinnerungsstücken an ihren Mann, sie wechselt den Ort ohne Gepäck. Sie beginnt einen neuen Abschnitt ihres Lebens – sehr entschieden, aber zunächst ohne Ziel.
An ihrem neuen Lebensort beginnt sie eine leidenschaftliche, aber nicht unbedingt feinfühlige Affäre, gleichzeitig ist da noch immer ein starkes Band zu ihrem Ex-Mann, mit dem sie lange Telefongespräche führt und Briefe wechselt. Woran ist diese Ehe gescheitert?
Ich würde gar nicht sagen, dass diese Ehe gescheitert ist. Sie hat ihre Zeit gehabt, und diese Zeit ist jetzt vorbei. Die Basis der Beziehung ist über lange Jahre hinweg das gemeinsame Aufziehen des Kindes gewesen, und als diese Basis wegfällt, gehen die Eltern auf eine eher undramatische Weise getrennte Wege, aber das Band zwischen beiden ist immer noch stark und auf eine wehmütige Weise liebevoll. Sie sind aufeinander bedacht, sie teilen einander ihre Gedanken mit. Die Erzählerin will dieses späte Leben schlicht für sich allein. Sie ist – so könnte man es nennen – auf einem Pilgerweg, auf dem sie auch ihre Vergangenheit noch einmal durchstreift.
Die Erzählerin schließt dort eine Freundschaft mit einer Frau namens Mimi. Sie ist nicht eben ein gewöhnlicher Mensch. Mal mäht sie splitternackt den Rasen, mal schwimmt sie durch das Schmutzwasser im Hafenbecken. Welche Bedeutung hat Mimi für die Erzählerin?
Mimi ist der Gegenpol zur eher zurückhaltenden Ich-Erzählerin. Die Erzählerin ist introvertiert, still, etwas verspannt, sie ist für sich – Mimi ist lebendig, kräftig, zielstrebig, sie kann heftig sein, sie ist eine ziemlich starke Person. Sie tritt mehr oder weniger umstandslos in das Leben der Erzählerin und sie bringt sie dazu, sich zu bewegen: Schau dir die Dinge an! Nimm sie wahr, nimm ihre Farben wahr. Geh ins Wasser, wenn du am Meer bist! Öffne dich. Mimi zeigt der Erzählerin in vielerlei Hinsicht eine neue Welt auf: Wärme, Sinnlichkeit, Zugang zu sich selbst. Mut. Und Wehrhaftigkeit. Sie weist sie auf all dies hin – sie ist eine Schwester und sie ist eine Führerin.
Ich habe Daheim nicht als einen bedrückenden, sondern eher lebenszugewandten Roman empfunden. Aber an besonderen Stellen tauchen en passant bedrohliche Zeichen auf, schwarze Blätter, schwarze Vögel, schwarzes Wasser, dunkle Augen ohne Weiß. Die mutmaßlich abgeschlossene Haustür steht morgens offen. In diesen Momenten entsteht eine Atmosphäre wie in einer Gothic Novel. Mögen Sie Schauergeschichten?
Selbstverständlich mag ich Schauergeschichten, ja, und diese Elemente sind in vielerlei Hinsicht eine Reminiszenz. Die Augen der Frau des Zauberers haben eindeutig etwas Bedrohliches, das schwarze Wasser ist de facto ein Abgrund, und die Vögel, die sich am Abend in den Bäumen sammeln, können Boten eines bevorstehenden Unglücks sein. Wenn man will, kann man diese Sequenzen als das jederzeit mögliche Aufkommen vom Ungewissen und vom Ungeheuren lesen. Ich habe mir schreibend eine Balance gewünscht zwischen der klaren Handlungsebene und dem Unheimlichen, dem Plötzlichen, das unter der Oberfläche der Dinge immer vorhanden ist.
Was lauert da in Ihrem Roman? Eine existenzielle Angst?
Es ist schön, dass ich Sie dazu gebracht habe, beim Lesen über diese Dinge nachzudenken. Ich stelle beim Schreiben eher Fragen, als dass ich Antworten gebe, und die Fragen werden, je älter ich werde, nicht weniger, sondern mehr. Schreiben bedeutet, diese Fragen zu formulieren und zu hoffen, dass ein geneigter Leser sie findet, aufgreift und etwas daraus macht, sie für sich selbst beantwortet und diese Antworten dann wiederum für sich behält. Literatur arbeitet immer mit Ungesagtem, Angedeutetem. Sie zeigt – und sie verbirgt.
Die Figuren Ihrer Romane und Erzählungen sind lebensnah, aber manchmal tauchen sonderbare archetypische Gestalten auf, etwa der freundliche Fahrradmechaniker in Ihrem vorangegangenen Roman Aller Liebe Anfang, der mitten in der Bürgerhaussiedlung so kryptische Sätze sagt wie: „Hier gibt es eine Zeitschleife, ist dir das schon aufgefallen?“ Macht es Ihnen Vergnügen, solche Figuren zu erfinden und einzuschleusen?
Ich glaube, ich erfinde sie gar nicht. Sie kommen aus Beobachtungen und Begegnungen, sie haben was mit einer bestimmten Art der Wahrnehmung zu tun. Man kann die Dinge pragmatisch und nüchtern sehen – oder man hört das Gras wachsen, sieht Gespenster und übertreibt, und ich neige sehr ausgeprägt zu Letzterem. Für mich gibt es das häufig – Begegnungen der dritten Art, seltsame Gespräche voller Koinzidenzen und Andeutungen. Blicke. Bemerkungen. Verwirrungen. Ein Gespräch, das mich mit einem komplett surrealen Gefühl zurücklässt, gegen das ich mich auch gar nicht wehren will. Hat das stattgefunden? Oder habe ich das geträumt?
Das Eindrucksvollste unter den unheilvollen Zeichen in Daheim ist die Kiste: die Kiste des Bühnenzauberers, in die sich die Protagonistin früher einmal als Probeassistentin gelegt hat, um zersägt zu werden; die Kiste, in der ein Kind von seiner Mutter grausam eingesperrt wurde; die Kiste, in der die Erzählerin einen Marder fangen will, der durch ihr Haus schleicht. Was hat es mit diesen Kisten auf sich?
Am Anfang des Romans stand eine simple und klassische Short Story – die Begegnung einer jungen Frau mit einem Zauberer, und in dieser Version war an der Kiste mit der zersägten Jungfrau nichts ungewöhnlich. Aber als ich die Erzählung zu Ende geschrieben hatte, tat sich wie in der russischen Matroschkapuppe in der Kiste für die zersägte Jungfrau unversehens eine zweite Kiste auf, eine Marderfalle, und in dieser Marderfalle eine dritte – eine Kiste für ein Kind. Fast eine Aufforderung – die unerwartete Ausrüstung für die Expedition, diesen Roman zu schreiben, in dem dann ja noch etliche weitere Kisten auftauchen.
Wenn man in einer Kiste steckt, ist man abgeschieden von der Umgebung. Tatsächlich scheinen viele Ihrer Figuren in Daheim, aber auch in Ihren Kurzgeschichten von einer Sphäre der Einsamkeit umgeben zu sein. Finden Sie das auch?
Ja, durchaus.
Meinen Sie, das ist eine Gesetzmäßigkeit bei uns Menschen: dass wir anderen nie so nah sein können, wie wir möchten, weil es da eine Trennwand gibt, weil jeder in seiner abgeschlossenen Welt, seiner Kiste lebt?
Ich nehme das so wahr, ja. Es gibt natürlich Momente großer Nähe zu anderen Menschen, aber letzten Endes ist man zwangsläufig doch in sich selbst eingeschlossen und allein. Jedem seine Gedankenwelt, jedem seine eigene Sicht der Dinge. Wenn wir beide hier auf diese kalte Alster blicken, sehen wir einerseits dasselbe und andererseits sehen Sie ziemlich sicher etwas völlig anderes als ich. Das trennt Sie von mir und mich von Ihnen. Und das trennt uns auch von den Menschen, denen wir nahestehen, die wir lieben.
Darin kann ein Abgrund liegen, aber eigentlich empfinde ich das gar nicht als schrecklich oder schwer. Das Wort Einsamkeit ist keine fixe Größe – es gibt andere Wörter, zum Beispiel das Wort Autonomie. Die Menschen, von denen ich in meinem Buch erzähle, sind autonom. Vielleicht muss man lernen, mit dieser Wahrnehmung des In-sich-selbst-Seins einverstanden zu sein, auch wenn das in manchen Momenten etwas Bitteres haben kann.
Manchmal habe ich schon den Eindruck, dass Ihre Figuren unter dieser Abgeschlossenheit leiden und sich nach echter Verbundenheit sehnen.
Na klar. Das tun sie. Sie sind Romantiker, sie leben von jedweder Sehnsucht.
Eine Ihrer Erzählungen im Band Lettipark heißt Solaris – wie der Roman von Stanislaw Lem, der von den vergeblichen Versuchen handelt, mit einer völlig fremden Lebensform Kontakt aufzunehmen. „Es gibt keine Brücken zwischen Solaris und Erde“, heißt es in Ihrer Erzählung. Ist jeder Mensch ein abgeschlossener Kosmos? Sind wir alle autistisch?
Autistisch – wenn ich Sie richtig verstehe, würde das bedeuten, dass es keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu uns geben kann.
Ja, so war die Frage gemeint.
Nein, das empfinde ich nicht so. Ich empfinde die vom anderen getrennte Wahrnehmung nicht als autistisch. Ich denke, dass andere Menschen einen deutlichen Zugang zu mir und ich einen deutlichen Zugang zu ihnen habe. Es gibt das Teilen von Glück und Freude und das Teilen von Trauer, es gibt Umarmungen. Und es gibt diese Momente des Begreifens und der großen Nähe – für einen Augenblick scheint sich ein Fenster zu öffnen, und dann verschließt es sich eben wieder. Wie die Linse eines Fotografen.
Es stimmt, meine Figuren haben eine große Sehnsucht nach Nähe, aber sie wissen auch, dass Nähe begrenzt ist und man am Ende wieder zu sich selbst zurückmuss – und wahrscheinlich sogar lange bei sich und für sich sein muss, um sich dann wieder auf andere einlassen zu können.
Man kann in Ihren Geschichten Fingerzeige suchen und finden, wie man die Kluft zu anderen verringern kann. Zählt Sex zu diesen Mitteln gegen die Distanz?
Jan Skácel schreibt es so: „…ich lausche, auf dem Rücken liegend, wie wir schwinden.“ Es ist die letzte Zeile des Gedichtes Fährgeld für Charon, das auf eine ziemlich sinnliche Weise auch den Akt beschreibt – und dann ebbt etwas ab und dieser schöne und traurige Satz fasst den Zustand des Entschwindens der Nähe, der Auflösung des Wir ein. Sexualität kann eine gemeinsame Sprache sein, es gibt eindrückliche und weniger eindrückliche Momente der Verschmelzung. Aber sie gehen eben vorüber – nach dem Sex ist jedes Lebewesen traurig. Das kann man betrauern. Aber es wäre ein wenig sinnlos, oder?
Nähe herstellen, Option zwei: Ihre Protagonistinnen sind oft leidenschaftliche Briefeschreiberinnen. Sind handgeschriebene Briefe der Königsweg, um einem anderen Menschen zu offenbaren, was in einem vorgeht, und ihn damit an seinem Innenleben teilhaben zu lassen?
Ja. Briefeschreiben bedeutet Mühe, und wenn man sich im digitalen Zeitalter auf diese Mühe einlässt, dann tut man das bewusst: Ich setze mich an den Schreibtisch und verbringe eine ganze Stunde damit, jemandem auf eine konzentrierte Weise mitzuteilen, wie es mir geht. Ich suche nach Worten.
Das ist etwas vollkommen anderes als ein Telefonat, geschweige denn eine Mail oder eine WhatsApp-Nachricht, es erfordert eine aus der Zeit gefallene Sorgfalt: Ich schreibe diesen Brief, stecke ihn in einen Umschlag, frankiere ihn, bringe ihn zu einem Briefkasten. Ich vermute, dass es eigentlich auch in Gesprächen auf diese Sorgfalt, auf das konzentrierte und stille Zuhören ankommt, wenn man einander durch Verstehen nahekommen möchte.
Schreiben Sie selbst gerne Briefe?
Das tue ich, und ich habe Freundschaften, die von diesem Briefeschreiben, von dem bewussten Verzicht auf andere Kommunikationsformen leben – ausgesprochen persönliche Begegnungen.
In Aller Liebe Anfang zeichnet der schweigsame Jason heimlich Porträts von seiner Frau.
Eine Person, die ein Bild ihres Gegenübers zeichnet, gibt diesem Gegenüber die Möglichkeit zu sehen, wie sie es wahrnimmt. Das ist eigenartig, es ist besonders und auch ein wenig fürchterlich. Man sieht sehr sicher etwas, von dem man eigentlich gar nichts wissen wollte und das man dann bedauerlicherweise nicht mehr vergessen kann. Aber manchmal sieht man eben auch etwas unerwartet Bestätigendes.
In Aller Liebe Anfang wird Stella von ihrem Mann gezeichnet, ohne dass sie das bemerkt, und als sie diese Zeichnungen Jahre später entdeckt, kann sie deutlich sehen, wie liebevoll und zärtlich der Blick ihres Mannes gewesen ist. Seine Zärtlichkeit ist in den Zeichungen fixiert, festgehalten. Aufgehoben.
Mit dem Daheimsein ist es in Daheim so eine Sache. Viele Figuren scheinen von einem unbestimmten Fernweh erfasst. Ist dieses Fernweh ein verkleidetes Heimweh, ein Gefühl von Heimatlosigkeit?
Ja, möglicherweise ist es das. Es gibt für mich und für meine Figuren wohl grundsätzlich die Frage nach dem richtigen Ort. Wäre das Leben nicht woanders besser oder leichter, wäre ich an einem anderen Ort nicht doch glücklicher gewesen? Es ist diese Thomas-Brasch-Empfindung: „Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“ Unruhe und Ambivalenz – hätte das Leben nicht einen anderen und besseren Verlauf genommen, wenn ich mich an dieser oder jener Stelle anders entschieden hätte – als ein Fernweh verkleidet.
Die Erzählerin sagt von sich selbst, sie habe keine Wurzeln. Ist ihr Umzug an die Küste ein Versuch, dort Wurzeln zu schlagen?
Ich glaube, sie fragt nach der Verzichtbarkeit von Wurzeln, sie denkt darüber nach und ihre Überlegungen enden unentschieden. Sie empfindet Wurzeln als Angriff auf ihre Autonomie: Wenn du verwurzelt bist, kannst du entwurzelt werden. In dem Moment, in dem ich Wurzeln schlage, gerate ich in Gefahr, diese Wurzeln irgendwann wieder kappen zu müssen. Ausreißen zu müssen. Also bleibe ich lieber ohne Wurzeln, weil ich dann nicht verwundbar bin? Die Erzählerin ist nicht an die Küste gezogen, um Wurzeln zu schlagen, aber durch ihre Begegnungen dort droht oder geschieht ihr am Ende genau das.
Wurzeln schlagen, das heißt auch: sich der eigenen Identität, der eigenen Biografie versichern. Tatsächlich lassen die Erzählerin an ihrem neuen Lebensort auf einmal Erinnerungen wie die Episode mit dem Zauberer nicht mehr los. Gleichzeitig tauchen Zweifel an diesen Erinnerungen auf.
Es stellt sich heraus, dass sie sich an Dinge erinnert, an die sich außer ihr offenbar niemand erinnert, die womöglich ganz und gar anders gewesen sind. Dahinter steckt so etwas wie eine psychoanalytische Frage: Wie verlässlich ist das, woran ich mich zu erinnern meine? Wie sicher ist es – und inwieweit habe ich mir etwas ausgedacht?
Was meinen Sie: Kommt es beim Erinnern darauf an, die Wahrheit zu archivieren? Oder eher eine stimmige Geschichte von sich und seinem Leben zu erzählen, wie eine Romanautorin?
Es ist unmöglich, das zu beantworten, wenn man gar nicht weiß, was die Wahrheit ist. Man kann Fragen stellen – so wie die Erzählerin ihren Bruder oder ihren geschiedenen Mann fragt: Kannst du dich daran erinnern? Wie ist das genau gewesen? Und wie sich herausstellt, erinnert sich ihr Mann an etwas völlig anderes als sie, und ihr Bruder erinnert sich an gar nichts, nur an sich selbst.
Man kann also die anderen zu Zeugen der eigenen Erinnerung aufrufen, aber man wird der Wahrheit dadurch nicht näherkommen. Man kann auch die eigenen Motive von damals nur noch rekonstruieren, das frühere Ich ist eine Vermutung, eine Mutmaßung, es ist dir eigentlich fremd. Diese Person, die ich mit zwanzig Jahren gewesen bin, die sich entschieden hat, dieses zu tun und jenes zu lassen, ist in einer Kapsel eingefasst, sie ist vollständig isoliert. Ich komme nicht mehr an sie heran.
Die Schlüsselerinnerung Ihrer Erzählerin – ob sie nun stimmt oder nicht – handelt von der schon erwähnten Zauberkiste, in der sie damals zum Schein zersägt wurde. Sie hat nun das alarmierende Gefühl, „etwas von sich in dieser Kiste verloren zu haben“, als läge „ein Teil von ihr noch darin, ein wesentlicher und nicht zu benennender Anteil“. Was könnte das sein?
Das muss ein Leser anhand seines eigenen Archivs der Vergangenheit, seiner ganz persönlichen Bibliothek von Erinnerungen selbst benennen. Arild, der Liebhaber der Erzählerin, nennt es „Seele“. Ihre eigene Antwort als Leser wäre vielleicht eine andere, und auch die Erzählerin gibt sich mit diesem Wort nicht wirklich zufrieden. Ich glaube, dass man sich in manchen Lebenskonstellationen auf eine gute Weise erschöpfen und verausgaben kann: Man lässt sich auf etwas ein, entscheidet sich für einen Weg – und verliert dabei ein Stück von sich selbst. Das ist der Preis, den man sehenden Auges zu zahlen bereit ist.
Entscheidend ist vielleicht gar nicht, ob die Erzählerin dieses verlorene Ich-Stück findet, sondern dass sie den Mut aufbringt, es zu vermissen und danach zu suchen.
Ja. Es geht um den Prozess, um die Entdeckung von Mut und Bewegung. Es geht nicht um ein Ergebnis.
Am Schluss öffnet sie jedenfalls eine Kiste und schaut nach. Welche Kisten müssen wir öffnen, wo und wie müssen wir nachschauen, wenn wir das Gefühl haben, nicht ganz vollständig zu sein und etwas von uns verloren zu haben?
Wir müssen uns aufeinander einlassen. Im Roman sind sich die Erzählerin und Arild völlig fremd, sie kommen aus ganz und gar unterschiedlichen Welten. Aber über viele kleine Gesten und in komischen Schritten entsteht in dieser anfangs rein sexuellen Beziehung schließlich eine gewisse Nähe. Beide haben Verluste, womöglich traumatische Ereignisse hinter sich und bringen es trotzdem noch einmal fertig, auf den anderen zuzugehen, ihm die Tür aufzumachen: Das ist mein Zimmer und du kannst es dir ansehen, du kannst es betreten, ich lasse dich herein. Dass diese Erzählerin sich auf andere Menschen und deren fremde Leben einlässt, bringt sie dazu, sich auch mit ihrem eigenen Leben noch einmal auf eine neue Art auseinanderzusetzen.
Der hellsichtige Fahrradmechaniker in Aller Liebe Anfang sagt: „Alles, was du empfindest, findet nur in dir statt, es gibt nur das ‚in uns‘ – sonst nichts. Das ist ernüchternd. Aber auch klar – du bist die Konstante.“ Bei sich selbst sein, ist dies das wahre Daheimsein?
Dieser Fahrradmechaniker sagt auch, dass die Orte, an denen du dich befindest, dich verändern, aber dass du niemals den Ort veränderst, an dem du lebst. Orte machen was mit dir, du machst nichts mit ihnen. Und genau das geschieht der Erzählerin in Daheim: Sie kommt an einen Ort, und diese Umgebung, die Fremde und die Menschen, denen sie dort begegnet, machen etwas mit ihr, sie führen zu einer unerwarteten Erweiterung ihres Horizonts.
Schon in Aller Liebe Anfang kam übrigens eine kleine Kiste vor, die Stella von ihrer Patientin Esther zum Abschied geschenkt bekommt. Als Stella diese Kiste aufmacht, stellt sie etwas enttäuscht fest, dass sie leer ist – und Esther sagt: „Natürlich ist sie leer. Füllen musst du sie selbst.“
Psychologie und Literatur
In unserer Serie sprachen zuletzt:
Thomas Hettche über das Märchenhafte im Alltäglichen (Heft 6/2021)
Anke Stelling über subtile soziale Ausgrenzung (Heft 3/2021)
Raphaela Edelbauer über das Mysterium der Zeit (Heft 12/2020)
Benjamin Maack über die Innenansicht eines Zusammenbruchs (Heft 9/2020)
Die Hefte können Sie bestellen unter: psychologie-heute.de/shop
Ich hatte mich an mich selbst erinnert. An das Kleid, das ich in der Kiste getragen hatte, ein knielanges Kleid mit Spaghettiträgern, blau mit weißen Punkten bedruckt. Meine Haare – glatt, kurz, braun. Und trotzdem war diese Erinnerung die Erinnerung an eine Fremde gewesen, an jemanden, den ich gar nicht kannte, dem ich nie begegnet war. Wer war sie. […]
Otis, hätte ich gerne gesagt. Ich hätte gerne geflüstert.Otis. Warum hat sie vor nichts Angst gehabt.
Über Dinge dieser Art kannst du manchmal nach dem Sex sprechen. Zusammen im Bett liegend, in den Vorhang vor dem offenen Fenster geht Wind. Du bist voller Vertrauen, nicht nur in den anderen, auch in das Leben an sich, fast alles ist gestillt, versunken in das eigene Empfinden. Otis und ich haben früher in der Stunde, die wir liegen geblieben sind, nachdem wir miteinander geschlafen hatten, oft auf diese Weise zueinander gesprochen. Eingehüllt in eine stille, taube Blindheit, zuversichtlich und zärtlich. Bevor wir wieder aufgestanden sind, uns angezogen haben, auseinandergegangen sind. Wir teilen uns das Bett nicht mehr, diese Gespräche sind vorbei, und es bleibt unklar, ob sie überhaupt zu etwas nutze gewesen sind, zu etwas hin- oder über etwas hinweggeführt haben
Aus dem Roman Daheim von Judith Hermann. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2021
Judith Hermann, 1970 in Berlin geboren, wurde gleich mit ihrem Erstling berühmt, dem 1998 erschienenen Erzählungsband Sommerhaus, später. Es folgten weitere Bände mit Kurzgeschichten, darunter Lettipark, sowie der Roman Aller Liebe Anfang. Ihr neuer Roman Daheim ist schon kurz nach Erscheinen ein Bestseller.