„Manchmal überraschen mich meine eigenen Texte“

Psychologie & Literatur: Anke Stelling schildert im Interview, auf welch subtile Weise Menschen einander mit der Sprache ausgrenzen.

Die Autorin Anke Stelling schaut nachdenklich
„Der Text ist klüger als die Autorin.“ Das klingt nach einer Mystifizierung. Aber bei mir ist es ein bisschen so.“ © Anne Schönharting

Ein Vormittag im Oktober in Berlin. Anke Stelling sitzt in ihrer Arbeitswohnung vor dem Rechner, bereit zum Skype-Gespräch. Im Hintergrund hört man Verkehrslärm. Die Schriftstellerin wirkt freundlich und konzentriert. Bei jeder Frage hört sie aufmerksam zu, überlegt dann einen Moment und formuliert danach sehr schnell mehrere komplexe Beobachtungen hintereinander. Manchmal hält sie auch während des Sprechens inne, prüft kritisch ein Statement, begleitet von Kommentaren wie: „Oh, vielleicht stimmt das so…

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Sprechens inne, prüft kritisch ein Statement, begleitet von Kommentaren wie: „Oh, vielleicht stimmt das so doch nicht.“ Dann setzt sie neu an, probiert einen neuen Gedanken. Dieser einerseits suchende, andererseits präzise Denkstil prägt auch den Ton der Ich-Erzählerin in Stellings preisgekrönten Romanen Schäfchen im Trockenen und Bodentiefe Fenster.

Frau Stelling, viele Ihrer Texte machen die Grenzen zwischen sozialen Milieus zum Thema. Schon im Roman Nimm mich mit prallten zwei Figuren mit verschiedener Sozialisation aufeinander. In Ihren neueren Büchern ist das Thema noch präsenter. Ist das eine bewusste Entscheidung?

Dass sich die Frage nach sozialen Milieus wie ein Bogen über alle meine Bücher spannt, wurde mir erst klar, nachdem ich immer wieder darauf angesprochen wurde. Das fing schon beim ersten Roman Gisela an – er erzählt aus dem Leben einer Kassiererin. Auf Lesungen hat man mir und meinem Mitautor damals häufig kritisch zurückgemeldet, dass es nicht glaubhaft sei, dass wir über ein so prekäres Milieu schreiben. Das hat mich gewundert. Selbst wenn die Erzählung auch Rolle und Maskerade war, fand ich es doch überraschend, dass man uns die Fähigkeit absprach, uns in Figuren hineinzuversetzen, die eher körperlich arbeiten und knappe finanzielle Möglichkeiten haben. In der Kritik schwingt außerdem die Gewissheit mit, dass wir als Schriftsteller ohnehin nur aus einem bürgerlichen Milieu stammen könnten. Das traf aber nicht zu.

Haben Sie mit dem Publikum über diese soziale Frage diskutiert?

Ich wusste zu der Zeit nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Ich war nicht gut darin, mit Kritik oder bestimmten Zuschreibungen umzugehen – und mir fällt das auch bis heute schwer. Als Gisela erschien, beendete ich gerade mein Studium am Literaturinstitut Leipzig und hatte mir noch keine Gedanken darüber gemacht, welche Themen für andere Menschen literaturfähig sind. In Leipzig wurde das nicht diskutiert, und eine Trennung der sozialen Mileus wurde auch nicht vorgelebt: Es gab dort einige Studierende, die waren die Ersten in ihren Familien, die eine Uni besuchten, andere kamen ohne Abitur, einer war Straßenbahnschaffner. Da waren bunte Biografien dabei, die sich auch in den Themen der Texte widerspiegelten. Das alles ist natürlich 25 Jahre her.

Über soziale Spaltung und Gentrifizierung wird heute viel diskutiert. Im Roman Schäfchen im Trockenen springen Sie mitten in diese Konflikte hinein. Freunde und Freundinnen, die in Berlin ein Wohnprojekt gründen wollen, entzweien sich auch an unterschiedlichen sozioökonomischen Realitäten. Wollten Sie bestehende Verhältnisse anprangern?

Beim Schreiben gehe ich eher suchend vor. Es gibt bestimmte Fragen, die mich beschäftigen. Oder ich erlebe Phänomene im Kontakt mit anderen, die ich selbst nicht begreife. Oder ich habe Gefühle, bei denen ich mich frage, wo sie herkommen. Dann baue ich die Geschichte drum herum – wobei „bauen“ schon zu planvoll ist. Das Schreiben selbst ist ein Prozess, in dem etwas Eigenes entsteht. Manchmal hört man Leute so etwas sagen wie: „Der Text ist klüger als die Autorin.“ Das klingt dann schnell nach einer Mystifizierung. Aber bei mir ist es ein bisschen so. Während des Schreibens kommt etwas hinzu, es gibt einen Erkenntnisgewinn. Was ich wirklich über ein Thema denke, was mir dazu wichtig ist, das weiß ich eher, wenn ein Buch fertig ist.

Sie sind nach dem Schreiben klüger als vorher?

Manchmal überraschen mich jedenfalls meine eigenen Texte. Vor allem, wenn ich sie nach langer Zeit noch mal lese. Als ich vor ein paar Monaten den Erzählband Grundlagenforschung zusammengestellt habe, in dem Kurztexte aus vielen Jahren enthalten sind, habe ich in einigen Passagen Gedanken gefunden, die ich vergessen hatte. Als ich sie wieder las, war ich froh, dass dort etwas konserviert ist, was mir entfallen war. Mit dem Abstand habe ich auch entdeckt, dass in den frühen Texten bereits Erkenntnisse mitschwingen, die mir in der damaligen Lebensphase noch gar nicht bewusst waren, die ich in meinem Leben noch gar nicht selbst erlebt hatte. Der Text hat also bereits ein verborgenes Wissen transportiert.

Die Suche nach dem Verborgenen ist Ihnen wichtig. Die Ich-Erzählerin Resi aus Schäfchen im Trockenen sagt an einer Stelle, sie interessiere sich für „die Hinterseite der Brotboxen und Doodlelisten, Kontoauszüge und Komposteimer“. Was verbirgt sich denn auf dieser Hinterseite?

In meinen beiden letzten Romanen geht es viel um Mutterschaft und auch um die Klage, wie anstrengend Carearbeit ist und wie allein Mütter damit sind. Da wollte ich unter anderem zeigen, dass der planerische und emotionale Aufwand für Mütter oft hoch ist und für andere quasi unsichtbar. Unter dem Stichwort mental load wird das mittlerweile auch mehr diskutiert. Auf der Hinterseite von Familienalltag und Muttersein spielt sich aber nicht nur diese Mehrarbeit und Isolation ab.

Da sind auch Liebe, die Erfahrung, gebraucht zu werden, die Erfahrung von Sinn und die nahe Beziehung zu den eigenen Kindern. Wenn man diese vielschichtige Erfahrung erlebt, sie aber nie in eine Form gießt, löst sie sich schnell in Luft auf. In einer Familienszene, die aufgeschrieben ist, stecken dann aber alle diese unterschiedlichen Aspekte gleichzeitig drin: Selbst wenn die Dialoge beispielsweise Missverstehen, Ärger und Überforderung ausdrücken, wird trotzdem spürbar, dass da auch eine Verbundenheit ist.

Wie gelingt es Ihnen, diese gegensätzlichen Aspekte im Text auszudrücken?

Das läuft häufig über Identifikation mit den einzelnen Figuren. Man kann sich vor allem durch den Dialog in einer Familienszene mit allen Beteiligten identifizieren. Mit der überforderten Mutter. Aber auch mit dem Kind, das ratlos vor der Mutter steht und nicht richtig weiß, was mit ihr ist und was es jetzt damit machen soll.

Die Dialoge in Ihren Romanen spiegeln auch oft die soziale Stellung der Einzelnen. Etwa wenn die Figur Vera an dem Tag, an dem sie eine Eigentumswohnung bezieht, sagt: „Zu meinem Glück fehlen mir jetzt nur noch zwei Katzen.“ Wo finden Sie solche Sätze?

Es ist ein großer Teil meiner Arbeit, die Welt durch Sprache wahrzunehmen und dann anhand von wenigen Sätzen eine Figur erlebbar zu machen. Die vielen Fragmente speichere ich wahrscheinlich oft über Jahre. Ich gehe aber nicht mit dem Notizbuch herum oder belauere mein Gegenüber beim Reden. Den Satz mit den zwei Katzen habe ich bestimmt auch vorher schon irgendwo gehört oder gelesen. Wenn ich dann am Schreibtisch sitze, zapfe ich meinen ganzen Erfahrungsschatz an.

Dann fällt mir dieser Satz ein und ich entdecke, dass er für ein gewisses Maß an Privilegien steht. Auf der anderen Seite schwingt da aber auch mit, dass die Figur Vera versucht, sich selbst zu beruhigen, sich zu sagen: „Guck mal, jetzt haben wir es geschafft.“ Auch wenn sie vielleicht unsicher ist und ihr einiges fehlt, von dem sie gerade nichts wissen will. All diese Aspekte stecken in dem einen Satz.

Ihr Fokus auf Sprache bezieht sich auch auf einzelne Wörter. Resi erklärt etwa, warum sie das Wort „Elternstammtisch“ hasst. Wollen Sie Leser dafür sensibilisieren, mehr auf das zu achten, was sie sagen?

Klar. Und das ist nicht nur mein Beruf, sondern auch mein Hobby – vielleicht auch einfach eine nervige Angewohnheit. Meine Kinder zum Beispiel könnten ein Lied davon singen. Bei uns sind immer wieder Wörter und Sätze verboten, werden von mir auf den Index gesetzt. Da bin ich schon sehr pingelig. Ich achte zu Hause weniger auf Tischmanieren als auf Sprechmanieren.

Was ist denn verboten?

Lange war zum Beispiel „Isso“ verboten. Das war 2016 ein Jugendwort des Jahres, mir war es komplett neu. Die Phrase wird als Totschlagargument eingesetzt, um nicht mehr über eine Sache reden zu müssen. Ich finde es falsch, wenn man Sprache auf diese Art als Machtinstrument benutzt. Und natürlich finde ich ein Wort wie „geil“ aus dem Mund eines Fünfjährigen auch nicht unbedingt toll. Ich würde gar nicht sagen, dass man bei uns in der Familie nicht fluchen darf, aber man sollte schon wissen, wie man Schimpfwörter dosiert. So findet letztlich eine gesellschaftliche Diskussion zu Hause am Küchentisch statt: Welche Begriffe üben Macht aus? Wo wird durch Sprache etwas verschleiert oder werden Leute ausgegrenzt?

Resi erlebt genau so eine Ausgrenzung im Freundeskreis. Was haben Sie beim Schreiben über diese Art Gruppendynamik gelernt?

Ausschluss findet permanent statt und ist wahrscheinlich einfach ein Merkmal menschlichen Zusammenlebens – Ingroup und Outgroup sind immer da. Das ist auch nicht nur negativ, Abgrenzung hat auch etwas Gutes, zum Beispiel eine Schutz- und Verteidigungsfunktion. Es kann nicht der Anspruch sein, dass alle immer bei allem mitmachen können. Durch das Schreiben meiner letzten Romane und auch durch meine Kinderbücher bin ich mittlerweile für solche Ausgrenzungsdynamiken ziemlich empfänglich, das tut mir auch selbst psychisch gar nicht so gut. Ich achte dann immer häufiger auf das Thema, nehme es immer stärker wahr.

In der Sozialpsychologie gibt es zahlreiche Theorien, die beschreiben, dass Menschen sich durch die Zugehörigkeit zu Gruppen und Abgrenzung zu anderen auch Sicherheit und Selbstwert verschaffen.

Das steht außer Frage. Worauf es sich aber meiner Meinung nach lohnt zu achten: Wie findet das statt? Wird offen darüber gesprochen, dass nicht jede und jeder mitmachen kann, werden unterschiedliche Chancen transparent gemacht, kann man es noch besprechen? Oder wird so getan, als gäbe es keine sozialen Unterschiede? Das ist ja in dem Freundeskreis in Schäfchen im Trockenen so. Viele der Figuren geben nicht zu, dass sie mehr Geld und Entscheidungsfreiheiten haben als die Protagonistin und ihr Mann. Sie nehmen vielleicht nicht mal bewusst wahr, dass sie seit einiger Zeit eher unter Menschen sein wollen, die ganz ähnlich gestellt sind wie sie selbst.

Warum ist es Ihnen so wichtig, diese Unterschiede sichtbar zu machen?

Vor einiger Zeit habe ich ein neues Wort gelernt: Kontingenzbewältigung. Ich musste es hundertmal nachschlagen, aber inzwischen weiß ich, was es bedeutet. Es beschreibt die Fähigkeit, Unsicherheiten und Uneindeutigkeiten auszuhalten und zu verstehen, dass Dinge auch immer anders sein können, als man selbst sie gerade sieht. Diese Fähigkeit ist komplex und unterschiedlich weit verbreitet, manche Menschen sind dazu kaum fähig. Denn Widersprüche machen Menschen Angst, Stress und vielleicht auch Schuldgefühle. Wenn alle sich beispielsweise in homogenen Gruppen abschotten, brauchen sie diese Fähigkeit nicht. Dann fällt es gar nicht auf, dass es noch andere Realitäten gibt. Dann haben eben alle Kinder ein teures Mobiltelefon und Markenklamotten und man hat ausreichend Geld. Man braucht sich dann nicht mehr zu fragen: „Wie gehe ich damit um, dass ich mehr finanzielle Möglichkeiten und Bildung als andere habe?“

Was für einen Umgang mit sozialen Unterschieden würden Sie sich wünschen?

Wer weniger finanzielle Mittel hat oder zu einer Minderheit gehört, spürt die Unterschiede oder auch unausgesprochenen Grenzen in sozialen Kontakten oft stärker, muss häufig damit umgehen. Man kann also sagen: Die Fähigkeit, Unstimmigkeiten und Widersprüche auszuhalten, wird denen abverlangt, die weniger Möglichkeiten haben. Das stört mich. Da denke ich dann: Vielleicht könnten sich auch die, denen es gut geht, häufiger daran erinnern, wo sie stehen, und daraus folgern: Ich muss mich gar nicht permanent abschotten, zum Beispiel in einem Wohnprojekt wie bei Schäfchen im Trockenen. Ich kann aushalten, dass da auch Leute sind, die wirklich weniger Geld und Sicherheit haben als ich. Das wäre doch möglich. Ich halte den Umgang mit solchen unterschiedlichen Realitäten für eine komplexe Fähigkeit. Es lohnt sich für fast alle, sie zu üben.

Ihre Ich-Erzählerin hat diese Fähigkeit. Sie benennt Wider­sprüche und unsichtbare Grenzen. Warum haben Sie aus dieser subjektiven Sicht erzählt?

Ich wollte zeigen, was passiert, wenn man sich gegen bestimmte Unstimmigkeiten wehrt oder offen sagt, was einem auffällt. Wie schnell man ins Abseits gerät, wenn man anfängt, herauszutreten aus einem Gruppenkonsens und zum Beispiel sagt, dass man die Veränderung der Lebenshaltung im eigenen Freundeskreis schwierig findet. Resi ist Schriftstellerin, ihre Situation ist meiner nicht unähnlich. Anfangs habe ich gezögert, eine Autorin zur Erzählerin zu machen, das gilt schnell als Nabelschau und als uninteressant für Leser.

Aber es funktioniert: Resi schreibt darüber, was ihr auffällt. Und zwar Jahre, nachdem sie die Unstimmigkeiten das erste Mal registriert hat. Die Situation, die entstehen kann, wenn man jahrelang zu etwas schweigt und es dann sehr offen ausspricht, die kennen wiederum sehr viele Menschen. Dann kommt es auf der anderen Seite oft zu großen Verletzungen. Die Freundinnen und Freunde werfen Resi Verrat vor und zweifeln daran, dass sie jemals ehrlich war. Dadurch, dass sie auch noch darüber schreibt, wird das Thema riesig. So erscheint nicht nur der persönliche Bruch endgültig. Auch die sozialen Unterschiede, die viel zu spät ausgesprochen wurden, erscheinen nun unüberbrückbar.

Teilen Sie die Einstellung, dass Herkunftsmilieus und soziale Prägungen so stark sind, dass man sie letztlich nicht überwinden kann?

Dass Menschen sich mit zunehmendem Alter immer mehr zu den Werten und Lebenshaltungen hinbewegen, die sie ursprünglich kennengelernt haben, ist eine Erfahrung, die ich in den letzten Jahren verstärkt mache. Ob es eine bewusste oder unbewusste Entwicklung ist – es gibt diese Hinwendung zum Herkunftsmilieu. Eine Freundin von mir, die noch mal 15 Jahre älter ist als ich, sagte einmal, dass ihr immer klarer werde, dass nicht sie ihr Leben lebt, sondern ihr Leben sie. Das fand ich ganz schön.

Die Fantasie, dass man alles bestimmen und gestalten kann, die Vergangenheit verlassen oder überwinden kann, die bröckelt mit zunehmendem Lebensalter. Dann denken die einen eben, dass es jetzt doch passend ist, das Geld der Eltern für eine Eigentumswohnung zu nehmen und die damit verbundenen Werte zu teilen, die anderen fallen zurück, akzeptieren vielleicht, dass sie nie zu einer Mittel- oder Oberschicht gehören werden. Wobei, das klingt jetzt auch ein bisschen plakativ…

Was stimmt für Sie nicht?

So eindeutig ist Herkunft nicht. Viele Menschen fühlen sich zwischen den Milieus. Ich selbst könnte zum Beispiel gar nicht genau benennen, aus welcher Schicht ich komme. Ich bin einerseits Aufsteigerkind in zweiter Generation, meine Eltern haben sich rausgearbeitet aus ihrem Milieu. Bildung und bestimmte Umgangsformen waren ihnen sehr wichtig, andererseits hatten sie kein Abi, konnten nicht studieren. Die Uneindeutigkeit macht es also auch hier schwer. Es entstehen Missverständnisse. Ich höre zum Beispiel oft – wie meine Protagonistin Resi – den Vorwurf: „Du kannst dich aber doch bestimmt nicht als arm bezeichnen!“ Und ich sage dann manchmal: „Na ja, willst du mal meinen Rentenbescheid sehen?“ Was aber natürlich stimmt: Ich habe mittlerweile ein enormes Bildungs- und Aufmerksamkeitskapital, vor allem in den letzten Jahren – und davon profitieren wiederum auch meine Kinder.

Sie erzählen aus der Sicht einer Figur, die ähnliche soziale Verhältnisse kennt wie Sie selbst. Sollten Schriftsteller nicht eher eine nüchterne oder neutrale Haltung einnehmen, in der sie allen Figuren gerecht werden?

An Neutralität glaube ich nicht, finde sie auch nicht sinnvoll. Doch ich weiß mittlerweile, dass es für einen guten Text wichtig ist, sich nicht zu sehr in Ärger und Wut zu verstricken. Zum einen muss ich mich in soziale Konflikte verwickeln lassen, denn die Ich-Erzählerin ist ja wütend und prägt mit diesem Ton den Roman. Wenn ich es aber übertreibe, wenn ich nur über Ungerechtigkeiten wettere und um mich schlagen will, dann ist der literarische Text irgendwann tot. Virginia Woolf hat in dem berühmten Essay Ein Zimmer für sich allein bereits darauf hingewiesen. Sie erlebte oft die Benachteiligung als Frau in der damaligen Literaturszene. Doch sie riet, beim Schreiben dazu Distanz einzunehmen, sonst geht es im Text hinterher nur noch darum. Ab einem bestimmten Punkt stört die Wut also den Schreibprozess.

Die Rolle der Wütenden haben Sie im Text aber gut durchgehalten.

Ich bin oft gefragt worden, wie ich das ausgehalten habe, so lang in dem Furor der Ich-Erzählerin zu bleiben. So ein Roman braucht schließlich seine Zeit, bis er fertig ist. Aber als Anke bin ich natürlich nicht die ganze Zeit in dieser Wut, jedenfalls nicht in meinem Leben. Wenn ich mich in den Text begebe, klar, dann muss ich mich auf eine bestimmte Temperatur bringen, aber das muss man beim Schreiben immer, um einen Sound zu finden. Zwischendurch habe ich als Schriftstellerin aber auch Feierabend, komme zur Ruhe und überlasse den Figuren ihre Probleme.

Wie genau kamen Sie aus der wütenden und ohnmächtigen Stimmung wieder raus?

Da rettet mich, dass ich verschiedene Jobs habe, dass Kunst und Leben bei mir eben nicht permanent eins sind. Auch da stimme ich der Protagonistin Resi zu, die das Mutter- und Hausfrausein nur aushält, weil sie auch Schriftstellerin ist – und umgekehrt. Auch mir tut dieser Wechsel zwischen den Berufen und Welten gut. Ab und zu was Handwerkliches zu tun, kochen, putzen, bügeln und etwas mit Menschen zu machen, das ist ein guter Ausgleich.

Das klingt jetzt sehr bescheiden. Sie sind mittlerweile eine gefragte Person in der deutschen Literaturlandschaft. Sind Sie zufrieden damit, wie Ihre Sichtweise auf eine gespaltene Gesellschaft aufgenommen wird?

Ach, ich weiß nicht. Mal finde ich es sehr gut, mal nimmt es mich mit, wenn ich zum Beispiel negative Rückmeldungen bekomme. Wenn auf zehn Leserinnen und Leser, die meine Bücher genau so verstanden haben, wie ich sie verstanden haben will, nur eine einzige Stimme kommt, die sagt: „Hä, was soll das denn?“, dann wende ich mich dieser einen kritischen Stimme zu, statt mit den anderen zehn einen Kaffee trinken zu gehen. Ich denke über Kritik sehr lange nach und komme aus dem Grübeln nur raus, wenn ich meinen Verstand einsetze und mir sage: „Okay, es kann doch auch nicht sein, dass alle es gut finden, das wäre doch unheimlich.“ Wenn alle gleich dächten und sich einig wären, dann wäre ja auch Schluss, dann bräuchte ich dazu nichts mehr zu schreiben. Das ist eine Sichtweise, die mir weiterhilft.

Psychologie und Literatur

In unserer Serie sprachen zuletzt:

Raphaela Edelbauer über das Mysterium der Zeit (Heft 12/2020)

Benjamin Maack über die Innenansicht eines Zusammenbruchs (Heft 9/2020)

Daniel Kehlmann über Magie und Wissenschaft (Heft 6/2020)

Isabel Bogdan über das Weiterleben mit der Trauer (Heft 3/2020)

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Juli Zeh über die Vergeblichkeit verbissener Identitätssuche (Heft 8/2019)

Stephan Thome über die bedrohliche Verlockung des Fremden (Heft 5/2019)

Sie können diese Hefte über unsere Website nachbestellen: psychologie-heute.de/shop

Leseprobe

Auch die Welt der Brotboxen und Doodlelisten, Kontoauszüge und Komposteimer, Adventskalender und Läusemails muss eine Hinterseite haben, und ich werde nicht aufhören, mich zu drehen und alles zu verwirbeln, damit sie vorkommt, damit ich selbst noch vorkomme in dem Leben, das mein eigenes ist. Klingt pathetisch? Ist mir egal. Auch die Wahl meiner Stilmittel werde ich mir nicht diktieren lassen. Ich kann kein Klavier, ich nehme Klanghölzer. Ich bin’s meinem einen und einzigen Leben schuldig: mich nicht einschüchtern zu lassen von meiner Scham und meiner Angst.

Aus Anke Stellings Roman Schäfchen im Trockenen. Verbrecher, Berlin 2018

Anke Stelling, Jahrgang 1971, wuchs in Stuttgart auf und studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie hat zahlreiche Romane und Erzählbände veröffentlicht, einige wie ihren Erstling Gisela (1999) zusammen mit dem Autor Robby Dannenberg. Außerdem schreibt sie Kindertheaterstücke und Kinderbücher. Für ihren Roman Schäfchen im Trockenen erhielt sie 2019 den Preis der Leipziger Buchmesse. Zuletzt erschien ihr Erzählband Grundlagenforschung. Stelling lebt in Berlin in einem Wohnprojekt und hat drei Kinder.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2021: Wege aus der Depression