Frau Fricke, in Ihren Büchern ging es bisher oft um Probleme jüngerer Großstädter; Eltern spielten eher indirekt eine Rolle. Im Roman Töchter steht nun die Beziehung zweier Frauen zu ihren Vätern im Vordergrund. Wie kam es dazu?
Am Anfang wusste ich nur, dass ich über zwei Frauen um die vierzig schreiben will, die ganz viel miteinander reden. Obwohl das allein natürlich noch keinen Roman füllt, habe ich ausführlich darüber nachgedacht, welche Themen in dem Alter relevant sind: Neben Karriere und Beruf…
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eben auch wieder in den Fokus, dadurch dass sie alt werden, krank werden, sterben. Ich beobachte das auch in meinem Berliner Umfeld: Zwischen 20 und 40 Jahren waren die Eltern gefühlt irgendwie weg. Mit 25 habe ich noch gedacht: Ab jetzt macht jeder seins. Und dann kommt plötzlich eine Phase, wo man sich den Eltern wieder annähert. Auch viele Freunde fangen plötzlich an, erstaunlich liebevoll über ihre Eltern zu sprechen. Ich weiß mittlerweile, wie deren Väter und Mütter heißen, was sie machen, Gespräche fangen oft mit der Frage an: „Wie geht es deinen Eltern?“ Ich finde das schön. Ich war nur überhaupt nicht drauf vorbereitet. Dass der Kontakt mit den Eltern in dieser mittleren Lebensphase wieder wichtiger wird, hat sicher damit zu tun, dass man in der Zeit eine Art Zwischenbilanz für das eigene Leben zieht. Da entstehen oft auch Fragen zur Herkunft, zu Vergangenem: Man will noch viel mit den Eltern bereden – und die Zeit dafür läuft langsam ab.zu tun, dass man in der Zeit eine Art Zwischenbilanz für das eigene Leben zieht. Da entstehen oft auch Fragen zur Herkunft, zu Vergangenem: Man will noch viel mit den Eltern bereden – und die Zeit dafür läuft langsam ab.
Sind das ganz individuelle Vaterkonflikte, die Sie da im Roman darstellen, oder stehen sie prototypisch für das Verhältnis von erwachsenen Töchtern zu ihren Vätern?
Vielleicht beides. Die beiden Protagonistinnen Martha und Betty haben ja schon eine Geschichte und tauchen bereits im Roman Ich habe Freunde mitgebracht auf. Da sind sie jünger, andere Probleme treiben sie um. Martha ist immer noch die Vernünftigere, ihr Leben ist geordneter als das der Schriftstellerin Betty. Von ihrem Vater hat Martha nie Bestätigung oder Zuneigung bekommen, sie sehnt sich danach. Diese Schwierigkeit kennen wahrscheinlich viele Menschen: Aus irgendeinem Grund sind sie ihren Eltern „nicht genug“, ob nun nicht erfolgreich genug, nicht hübsch genug, nicht intelligent genug. Bei der Figur Martha kommt erschwerend hinzu, dass sie mit Ihrem Vater Jahrzehnte kaum Kontakt hatte, erst nach dem Tod seiner zweiten Frau wendet sich der Vater wieder seiner Tochter zu – und wird dann bald schon schwer krank. Vater und Tochter haben nur noch begrenzt Zeit, ihre Beziehung zu vertiefen. Die Schriftstellerin Betty hadert damit, dass einer ihrer Väter, also einer der Freunde ihrer Mutter, eines Tages verschwunden ist, obwohl sie ihn sehr geliebt hat. Über den konkreten Verlust ist sie weggekommen, aber bei ihr bleibt das Gefühl, dass Menschen, die man liebt, von heute auf morgen verschwinden können. Eine große Machtlosigkeit ist die Folge. Sie will diesen Vater deshalb suchen und mit ihm reden. Ihre Geschichte ist natürlich sehr zugespitzt – doch viele Frauen kennen sicher diese Leerstelle, die ein abwesender Vater hinterlässt, und die bleibende Sehnsucht nach ihm.
Ein schwerwiegendes Thema, an das Sie jedoch sehr unterhaltsam und bissig herangehen. Sie erzählen die Konflikte als turbulenten Roadtrip in eine Sterbeklinik in der Schweiz. Warum diese Form?
Neben der Tatsache, dass ich von Anfang an wusste, dass ich ein Buch schreiben will, in dem zwei Frauen reden, wusste ich auch, dass die beiden in einem Auto sitzen sollen. Ich wollte so viele Themen wie möglich in einen alten Golf packen: die Freundschaft, den Tod, der mitfährt, die Annäherung zwischen Vater und Tochter, die Lebensgeschichte des Vaters. Das kann man in einem geschlossenen Raum gut zeigen. Ich finde es schön, dass die drei ständig herumfahren und immer wieder Einflüsse von außen auf sie zukommen. Also reisen sie quasi in einer durchlässigen Kapsel durch eine fremde Welt. Das ist nicht nur dramaturgisch spannend, es gibt dadurch auch unglaublich viele Möglichkeiten. Und ich will ja beim Schreiben Spaß haben. Ich will mich amüsieren. Andererseits muss es natürlich auch wehtun.
Was war denn beim Schreiben von Töchter für Sie schmerzhaft?
Schreiben ist für mich eine Art Selbstgespräch, man muss immer ein bisschen sich selbst auskratzen. Ich brauche bei jedem Buch einen Schmerz, an den ich andocken kann, zu dem ich Zugang habe. Ich schreibe dann über einen bestimmten Punkt hinaus, über den ich bisher noch nicht weiter nachgedacht habe. Im Fall von Töchter waren es Themen wie Verlust, Einsamkeit und die Sehnsucht nach dem Vater, in die ich aufgrund meiner eigenen Biografie einsteigen konnte. Das sind natürlich Sachen, die man normalerweise gut unter Verschluss hält. Fast verheilte Wunden, an die ich dann wieder herangehe. Ich glaube, das ist nicht ungewöhnlich, das machen viele Schreibende.
Was haben Sie in Sachen „abwesende Väter“ beim Schreiben herausgefunden? Was sehen Sie jetzt anders?
Vor dem Schreiben war mir zum Beispiel überhaupt nicht klar, dass Väter eigentlich in allen Generationen abwesend waren, ob sie nun bei der Arbeit waren und Geld verdienten oder im Krieg. Erst jetzt verändert sich das. Die heutigen Kinder haben es zum ersten Mal mit anwesenden Vätern zu tun! Ich finde, man versteht die eigene Geschichte besser, wenn man mehr in Generationen und gesellschaftlichen Umständen denkt. Aufgrund dieser umfassenderen Sicht kann ich jetzt viel besser verstehen, warum mein Vater zu mir so war, wie er eben war. Er ist in den 1940ern geboren, die Generation wurde von kriegstraumatisierten Vätern großgezogen, woher sollte man da lernen, dass es auch anders geht? Ich finde es hilfreich, immer mit zu bedenken: Wie sind die eigenen Eltern aufgewachsen? Unter welchen Umständen und unter welchem Druck? Und dann in den Blick zu nehmen, ob das, was man von ihnen erwartet, überhaupt realistisch ist. Solche Prozesse spielen auch bei den Protagonistinnen eine Rolle, sie sehen ihre Väter plötzlich nicht nur als Bezugsperson, sondern auch mit ihrer Geschichte, ihrer Tragik. So entzerrt sich die persönliche Kränkung etwas. Es entsteht Verständnis. Man kann einander eher verzeihen. Ich bin eh ein großer Freund des Verzeihens.
Hat sich Ihr Verhältnis zu Ihren eigenen Eltern durch die Arbeit am Manuskript verändert?
Meine Eltern haben das Buch beide gelesen. So sind schönerweise Gespräche entstanden, die wir vorher nie geführt hatten und von denen ich sonst nicht gewusst hätte, wie ich sie anfangen soll. Während der zwei Jahre, die ich an dem Buch schrieb, habe ich darüber überhaupt nicht gesprochen und in dieser Stille, in diesem Nachdenken tauchten immer mehr Fragen auf. Meine Mutter kennt mich natürlich und sieht genau, wo sich das Autobiografische von der Fiktion trennt. Wir haben viel über Vergangenes gesprochen und das hat unsere Beziehung unglaublich verbessert. Zum Glück. Das Schreiben über die eigenen Eltern kann auch nach hinten losgehen, das habe ich bei Schriftstellerkollegen mitbekommen. Oft kommt es nach der Veröffentlichung zu Dramen.
Hatten Sie denn im Vorfeld Angst vor so einem Eklat?
Ich habe nicht darüber nachgedacht. Schreiben hat einen Vorteil: Man sitzt in seinem Zimmer am Computer und kann da sehr offen sein, was man in einem Gespräch vielleicht nicht immer kann. Das Schreiben öffnet, ich vergesse manchmal sogar, dass das veröffentlicht wird. Beim Schreiben fühle ich mich geschützt, es macht mich auf eine gute Art hemmungslos.
Vorhin haben Sie gesagt, Schreiben solle nicht nur schmerzvoll sein, sondern auch Spaß machen. Was gefällt Ihnen, was amüsiert Sie während der Arbeit?
Dialoge machen mir Spaß. Manchmal sind es einzelne Sätze, an denen ich mich freuen kann, die mich beim Schreiben selbst überraschen. Es kann sein, dass ich dann tatsächlich nach einem fertigen Satz denke: „Wow, der ist klug!“ Und dann werden die Zeilen davor gestrichen und es bleibt nur der eine Satz stehen. Ich mag das, es gibt mir die Hoffnung, beim Schreiben etwas klüger zu werden. Denn diese Sätze würden mir nicht aus dem Stand einfallen – man muss sich dort hinschreiben. Wenn man ein, zwei Stunden durchschreibt, dann kommt man einfach irgendwann zu einem Satz, der es wert war.
Man merkt Ihren Texten an, dass Sie auf jeden Satz achten. Sie sind pointiert. Gerade Familienromane spielen sonst gern mal auf 800 Seiten. Ihr Roman Töchter umfasst nur 240 Seiten – warum bevorzugen Sie die Kürze?
Ich bin selbst kein Fan von diesen langen Romanen. Ein epischer Stil ermüdet mich, ellenlange Naturbeschreibungen finde ich schlimm und öde. Letztlich ist es aber weniger eine Frage des Geschmacks, sondern des Prozesses. Ich bin ein langsamer Schreiber, eben weil jeder Satz mir wichtig ist. Da würde ich bei 700 Seiten ja sieben Jahre brauchen. Weil ich mich aber oft innerhalb von wenigen Jahren sehr verändere, die Dinge anders sehe, reifer werde, könnte ich zu einem langen Buch, wenn es endlich fertig wäre, vielleicht gar nicht mehr stehen. Dann würde ich mir vermutlich die ersten Seiten anschauen und denken: „Welches Mädchen hat das denn geschrieben? So kann ich das aber nicht stehenlassen!“ Ich brauche also die konzentrierte Zeitspanne – das kürzere Format.
Sie haben vier Romane in einem guten Jahrzehnt geschrieben. Wie sehen Sie selbst Ihre Entwicklung vom ersten Roman Durst ist schlimmer als Heimweh bis jetzt? Was hat sich verändert?
Neulich habe ich ein Exemplar des ersten Romans aus der Kammer geholt, um es einem Freund zu schicken, der danach gefragt hat. Beim Reinlesen habe ich gedacht: „O Gott, das muss man aber wirklich lesen wollen.“ Mein erster Roman war noch sehr autobiografisch, zwar mit dramaturgischer Handlung, Verdichtungen und Verfremdungen, aber er war mit wenig Abstand erzählt, Schrecken oder Verletzungen aus Jugendzeiten sind noch ziemlich eins zu eins abgebildet. Das habe ich danach nie mehr so gemacht. Heute stecke ich in meinen Büchern zwar irgendwie auch drin, aber die Handlung ist komplett fiktiv. Ich erzähle also mit mehr Abstand, mehr Handwerk. Daneben spiegeln meine Romane aber auch immer wieder, was mich in einer Lebensphase umtreibt. In dem Buch Ich habe Freunde mitgebracht mache ich mich über eine Stimmung lustig, die ich damals mit Mitte dreißig in meinem Berliner Umfeld wahrgenommen habe. Alle waren in Medien- und Kreativjobs unterwegs, allen ging es gut – dennoch beschwerten sich alle permanent. Ich fand es nicht zum Aushalten. Damals hatte mir mal jemand erzählt, er sei bei einem Therapeuten gewesen, der ihn gefragt habe, welche „Losigkeiten“ er habe: Schlaflosigkeit, Erfolglosigkeit… Ich fand das toll und habe fünfzig solcher Wörter gesammelt, die für mich alle in den Jammermodus passten. Heute, zehn Jahre später, sind es zum Glück existenziellere Themen, die mich beschäftigen, die losgelöst sind von meiner sozialen Blase.
Entwicklungspsychologen würden darin einen Schritt in Richtung Reife sehen: raus aus der Bezogenheit auf sich und der direkten emotionalen Betroffenheit, hin zu einer umfassenderen Sichtweise mit mehr Abstand und mehr Humor.
Na, dann bin ich beruhigt! [Lacht.] Mit dem Humor ist es so: Ich habe schon früh gemerkt, dass er eine Möglichkeit ist, das Geschehen wie von oben aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Ohne Humor wäre ich wahrscheinlich gar nicht durchs Leben gekommen. Schon vor den Zeiten, als ich zu Schreiben anfing, hatte ich die Fähigkeit, über die Schwierigkeiten zu lachen, in denen ich steckte. Nicht, dass ich damals schallend gelacht hätte. Aber ich wusste, es gibt die Option, herauszutreten und zu sagen: All das wäre von außen betrachtet nicht ohne Witz. Ich lache aber später. Nächstes Jahr.
Neben Humor ziehen sich auch Reisen und Autofahrten durch Ihre Romane: Warum ist das so wichtig?
Dass die Protagonisten permanent Auto fahren, liegt daran, dass ich nicht gut fahre und eine Sehnsucht danach habe. Vor einiger Zeit bin ich mit dem Auto nach Italien gefahren wie Martha und Betty in Töchter, ich hatte dort ein Stipendium. Vorher hatte ich noch mal drei Fahrstunden genommen, nachdem ich zwanzig Jahre lang nicht gefahren bin, und bin dann in einem alten Golf, den mir mein Onkel geschenkt hatte, losgefahren Richtung Süden. Am Ziel bin ich nie angekommen, ich habe den Wagen vorher gegen die Wand gesetzt. Aber meine Fahrt hatte viele der glücklichen Momente, die ich auch im Buch beschreibe. Auf der Autobahn fahren, laut Musik hören, unabhängig sein. Man kann im Auto alles machen, was einem in den Sinn kommt: singen, rauchen, mit sich selbst sprechen, abbiegen und anhalten, wo es einem gefällt.
Ist es für Sie wichtig, in Bewegung zu sein, um gut schreiben zu können?
Das auch. Dass es in meinen Büchern so viel ums Reisen geht, hat jedenfalls damit zu tun, dass ich selbst viel und gerne reise und unterwegs eben auch viel schreibe. Mich macht das Reisen extrem wach und neugierig, in Berlin bin ich nicht immer in diesem Zustand, da dümpele ich auch manchmal vor mich hin, bin nicht so aufmerksam. Reisen hat immer eine Erlebnisgarantie: Fahr los und du erlebst etwas.
Wie ist das mit den inneren Erlebnisreisen? In Ihren Texten schwingt ein gewisser Spott gegenüber Psychotherapie oder einer bestimmten Art von Innerlichkeit mit.
Ich habe mal eine Therapie gemacht, was damals durchaus nötig war. Aber ich fand das langweilig, weil ich dachte, mir werden hier keine Fragen gestellt, die ich mir nicht schon selbst gestellt habe. Es gab auch keine überraschenden Antworten. Ich traue Therapeuten nicht so richtig über den Weg. Zum Beispiel irritiert mich die teure Ausbildung: Wie viel Geld muss in der Familie sein, um so was zu bezahlen? Ich fühlte mich in meiner Therapie, als würde ich den Dreck von der Straße mitnehmen in dieses saubere, aufgeräumte Zimmer, wo eine ganz gepflegte Dame saß. Ich hatte das Gefühl, dass diese Frau keinerlei Lebenserfahrung in der Welt hatte, aus der ich komme – einem eher proletarischen Milieu. Da sind dann zwei Welten in einem Raum und zwischen uns steht eine Kleenexpackung auf dem Tisch.
Auch Ihre Protagonistinnen haben eine gewisse Skepsis gegenüber aufgeräumten, gradlinigen Lebensentwürfen, sie wirken eigensinnig, subversiv, unangepasst.
Ja, es ist ein Reiz für mich, eine Freude, dass sich meine Figuren den Ansprüchen verweigern. Sie machen nicht alles mit. Auch deshalb mache ich mich lustig über Therapien, Yoga, vegane Ernährung. Ich lebe mitten im gepflegten Teil von Kreuzberg, man sieht überall Frauen mit Kinderwagen, schöne Altbauten, Bioläden, Yogastudios. Da irgendwie noch das Rockige reinzubringen, etwas, das nicht aufgeräumt oder durchtherapiert ist, finde ich wichtig. Das hat bei mir, aber auch bei meinen Figuren mit Herkunft zu tun: Der Vater von Martha wohnt in einer kleinen Sozialwohnung, ohne Geld. Betty kommt aus ähnlichen Verhältnissen. Ich glaube, die frühe soziale Prägung ist entscheidend. Auch wenn die beiden Frauen äußerlich gesehen in das kulturell geprägte, großstädtische Berlin gehören, fremdeln sie immer noch mit den Verhältnissen.
Sie selbst bewegen sich nun seit gut 15 Jahren im Literaturbetrieb. Auch dieses Milieu ist ein bildungs- oder sogar großbürgerliches. Fremdeln Sie selbst noch?
Auf jeden Fall ist es vorteilhaft, wenn man als Schriftsteller aus einem Elternhaus kommt, das bereits akademisch, intellektuell, kulturell geprägt ist – der Berufswunsch ist dann nicht so abwegig. Da, wo ich herkomme, wäre die Idee, Schriftsteller zu werden, ungefähr so aufgenommen worden, als hätte ich gesagt: „Ich will Prinzessin werden.“ Auch deshalb habe ich mich erst mit Ende 20 in Leipzig am Deutschen Literaturinstitut beworben. Ich bin als Jugendliche ohne Abitur von der Schule geflogen, hatte seitdem beim Film gearbeitet und dort meinen Unterhalt verdient. In Leipzig durfte ich aufgrund besonderer Begabung studieren, für mich war das eine Art Wiedergutmachung. Allerdings war ich noch nie im Leben einem Schriftsteller begegnet und plötzlich standen sie in den Seminaren vorn und haben unterrichtet. Ich sagte in den ersten zwei Jahren kaum ein Wort, habe mich nicht getraut. Dafür habe ich viel anderes gemacht. Ich war Studentensprecherin, habe Partys organisiert, Bierkästen geschleppt, den Fotokopierer repariert, das konnte ich ja alles. Und ich habe viel gelesen und geschrieben, das erste Mal in meinem Leben. Denn vorher, in der Zeit, in der meine Freunde sich Wissen draufgeschafft haben – zwischen 16 und Mitte 20 –, habe ich nur geackert. Ich fühle mich bis heute nicht als Intellektuelle. Ich habe aber Erfahrungen mit dem Leben gemacht und viele unterschiedliche Welten und Menschen gesehen. Und das wiederum ist fürs Schreiben unwahrscheinlich wertvoll und gut.
Psychologie und Literatur
In unserer Serie sprachen zuletzt:
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Lucy Fricke, 1974 in Hamburg geboren, lebt heute in Berlin. Viele Jahre hat sie beim Film im Bereich Skript/Continuity gearbeitet, danach studierte sie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Ihre Bücher und Texte sind mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet worden, für Töchter erhielt sie den Bayerischen Buchpreis. Fricke ist außerdem Veranstalterin von HAM.LIT, einem großen Festival für junge Literatur und Musik in Hamburg. Romane: Durst ist schlimmer als Heimweh (2007), Ich habe Freunde mitgebracht (2010), Takeshis Haut (2014), Töchter (2018)