Herr Thome, Ihre Protagonisten stehen oft vor der Aufgabe, sich mit dem Fremden auseinanderzusetzen. Was interessiert Sie an diesem Thema?
Das hat mit persönlichen Erfahrungen zu tun. Mit 23 bin ich für ein Jahr als Austauschstudent nach China gegangen. Aus Neugierde und Abenteuerlust. Und weil es sich für mein Philosophiestudium anbot, auch östliche Denker kennenzulernen. Mit minimaler Vorbereitung, zwei Ferienkursen Chinesisch, war ich dann 1995 plötzlich da. Es war eine sehr profunde Erfahrung von…
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zwei Ferienkursen Chinesisch, war ich dann 1995 plötzlich da. Es war eine sehr profunde Erfahrung von Fremdheit! Alles war unbekannt, ich verstand die Leute nicht, konnte Straßenschilder und Speisekarten nicht lesen. China war zu der Zeit noch wenig geübt in und geprägt von der Anwesenheit von Ausländern. Einerseits war ich enorm verunsichert. Manchmal, wenn ich mich überfordert in mein Zimmer zurückzog, die Welt draußen ausblenden wollte, habe ich anderseits bereits geahnt, dass ich gerade eine wertvolle Erfahrung mache. Ich gewann zum Beispiel schnell die Einsicht, dass der Teil der Welt, in dem wir uns auskennen, dem wir kognitiv gewachsen sind, letztlich klein und der größte Teil der Welt uns fremd ist. Seitdem bin ich für das Thema sensibel.
Wie genau prägt diese Erfahrung Ihr Schreiben?
Sie läuft immer mit. Man kann literarisch daran auf unterschiedliche Art andocken. Nachdem mir etwa bewusstwurde, dass Fremdheit allgegenwärtig ist, stellte sich mir bald die Frage, ob das, was wir als bekannt oder prägend bezeichnen, also etwa die Familie oder die Heimatregion, uns wirklich so vertraut ist, wie wir denken. So kam es zu meinem ersten Roman Grenzgang, der in meiner Heimatstadt Biedenkopf spielt, ein dort wichtiges Volksfest beschreibt und in dem die Protagonisten mit der Frage ringen, ob sie dort zu Hause sind oder Fremde bleiben. Als ich mich an den Roman wagte, wohnte ich bereits in Taiwan, wo ich mittlerweile seit über zehn Jahren lebe. Von Asien aus auf meine Wurzeln und die hessische Provinz zu schauen – das schien mir die richtige Distanz. Zumal man als ein im Ausland lebender Deutscher auch ständig gefragt wird, wie es dort ist, wo man herkommt, was das Land ausmacht.
Viele Menschen haben Angst vor allem Fremden, fliehen sofort wieder ins Vertraute. Sie dagegen scheinen auf das Unbekannte zuzugehen.
Das stimmt nur zum Teil. Denn eine gewisse Ambivalenz ist immer da. Das Fremde ist einerseits bedrohlich, andererseits aber auch verlockend. Man merkt, dass es da etwas zu entdecken gibt. Es ist sicher auch kein Zufall, dass meine Doktorarbeit den Titel Die Herausforderung des Fremden trägt. Da ist irgendwas, ein Stachel, eine Aufgabe. Doch in meiner Zeit in China habe ich diesbezüglich auch sehr schnell eine recht ermutigende Erfahrung gemacht: Eine Annäherung ist möglich. Fremdheit ist kein Zustand, keine Eigenschaft. Man kann nicht pauschal sagen: „China ist fremd.“ Ob etwas fremd oder vertraut ist, ist Ausdruck einer Beziehung – und die ist dynamisch. Ich kann lernen, mit der Fremdheit umzugehen, sie tendenziell auch überwinden. Für mich war die Sprache anfangs der Schlüssel: Je mehr Chinesisch ich sprach, desto mehr Möglichkeiten hatte ich, das Fremde zu verstehen, die Schilder zu lesen, mit Leuten zu reden. Irgendwann hatte ich immer häufiger das Gefühl: „Aha, das hier war mir vor zwei Monaten oder vor zwei Jahren noch total unverständlich – aber heute verstehe ich es.“ Dieser Prozess geht bis heute weiter. Eine gewisse Einsatzbereitschaft ist, denke ich, wichtig. Aber man wird dafür belohnt. Der Teil der Welt, über den ich etwas weiß und den ich verstehe, vergrößert sich ein bisschen. Das ist eine Errungenschaft, ein Erfolgserlebnis.
In Ihrem aktuellen Roman Gott der Barbaren haben Sie auch ein Thema gewählt, das hierzulande ziemlich fremd wirken dürfte: den Taiping-Aufstand im China des 19. Jahrhunderts. Warum dieser scheinbar abseitige Stoff?
Primär wollte ich meine Erfahrung mit und in China literarisch verarbeiten. Ich beschäftige mich nun mein halbes Leben mit dieser Kultur, habe sie zu meinem Lebensmittelpunkt gemacht, aber das Thema kam in meiner bisherigen literarischen Arbeit gar nicht vor. Im Gegenteil wurde ich von der Kritik sogar oft als ein Experte für deutsche Mittelschichtsschicksale und das „ganz normale Leben“ gesehen. Das ist vollkommen verständlich und selbstverschuldet, schließlich spielen drei meiner Bücher hauptsächlich in Bonn, Berlin, Biedenkopf. Dennoch hatte ich den Wunsch, meine Beschäftigung mit Ostasien – auch mit meinem westlichen Blick darauf – in einen Roman einfließen zu lassen. Autobiografisch wollte ich dabei nicht vorgehen, in einer Geschichte der Machart „Junger Mann kommt nach China“ wäre der Kontinent schnell zur exotischen Kulisse geworden. Ich habe also einen Ansatz gesucht, der mitten in die Kultur Chinas führt. Dann bekam ich ein Buch über die Taiping-Revolte in die Hand und war sofort begeistert: Dieser Stoff, dachte ich, hat alles, was ich brauche, um ihn zu erzählen.
Können Sie das genauer erklären?
Zum einen taugt die Zeit um 1860, als China einerseits durch die britische Kolonialmacht geprägt war, andererseits deutsche Missionare durchs Land zogen, als Setting für eine Art Abenteuerroman. Zum anderen findet man in den historischen Begebenheiten auf den zweiten Blick vieles, was uns heute seltsam bekannt vorkommt: Eine Gruppe religiöser Fanatiker – in dem Fall Chinesen, die sich zu einem kruden Christentum bekennen – führt eine blutige Rebellion gegen das Kaiserreich an, Millionen Menschen kommen ums Leben. Dazu mischt sich England in den Konflikt ein, will wirtschaftliche Interessen wahren, einen freien Opiumhandel erzwingen. Im Grunde wird hier der Beginn einer Globalisierung deutlich, mit der wir heute zu tun haben. Aufgrund all dieser Aspekte wurde der Stoff für mich erzählenswert. Nicht zuletzt findet sich darin aber auch vieles von dem wieder, was mich schon seit langem interessiert und womit ich mich auch in meiner akademischen Arbeit beschäftigt habe, beispielsweise die konfuzianische Philosophie. Da war so ein Gefühl: Wahrscheinlich wird es schwierig, dieses Buch zu schreiben. Aber wahrscheinlich kann auch keiner außer mir diesen Stoff auf diese Weise schreiben. Das hat mir als Antrieb ausgereicht.
Wie haben denn Ihre Leser auf den fremden Stoff reagiert?
Unterschiedlich. Bei einem Buch mit 700 Seiten, das vor über 150 Jahren in China spielt, waren einige schon abgeschreckt, wussten nicht, ob sie sich das zutrauen. Von denen, die das Buch gelesen haben, kamen viele positive Resonanzen. Und es gab eine sachliche Anmerkung, die sich durch alle Rückmeldungen zog. Sie lautete: „Wie kann es sein, dass ich von diesem blutigen Bürgerkrieg, der 20 Millionen Tote forderte, der ein historisches Ereignis ersten Ranges ist, gar nichts gewusst habe?“ Wenn so ein Erstaunen aufkommt oder auch die Frage entsteht, warum wir hier in Deutschland von Chinas Geschichte und von der Kolonialgeschichte generell so wenig wissen, dann fühle ich mich in meinem Tun bestätigt. Nicht bezüglich der Qualität meines Buches. Sondern in dem Punkt, dass Romane als ein Medium für die Vermittlung von historischen Ereignissen gut dienen können. Und dass sie es schaffen, fremde Kulturen und deren Geschichte erfahrbar zu machen – und damit die unbekannten Teile der Welt.
Kann es sein, dass Stoffe, die nicht vor unserer Haustür, sondern in unbekannten Ländern oder Epochen spielen, im Literaturbetrieb gerade im Trend sind?
Mit dem Wort Trend bin ich vorsichtig, doch eine Häufung gibt es sicherlich. Das hat wohl auch damit zu tun, dass wir uns heute stärker darüber bewusst werden, dass die Welt kleiner wird, dass das Fremde nicht irgendwo da draußen weit weg ist, sondern im Flüchtlingsheim um die Ecke oder in der Wohnung gegenüber. Es ist also unumgänglich, sich damit zu beschäftigen. Vielleicht drängt der Lesergeschmack ein Stück weit in die Richtung der immer komplizierter und bunter werdenden Welt, und das wäre gut. Ich behaupte, dass viele Menschen, die skeptisch sind, wenn syrische Flüchtlinge in ihrem Ort leben, sofort anders denken würden, wenn sie einen Roman lesen würden, der wirklich zeigt, was die Menschen durchgemacht haben. Dann können sie jedenfalls nicht mehr einfach sagen: „Die sollen weg!“ Möglicherweise ist das naiv, aber ich denke, das Erzählen von solchen Schicksalen erzeugt eben doch eine Bereitschaft, die Sicht des anderen, bisher Fremden zumindest wahrzunehmen.
Apropos Perspektivwechsel: Dieses Stilmittel prägt Ihr Werk. Was macht es für Sie so wichtig?
Tatsächlich ist das in allen meinen Romanen zentral. Ich will dem Leser ermöglichen, selbst immer wieder aus der Position der verschiedenen Figuren heraus auf das Geschehen zu gucken. So kann man bei der Lektüre auch eher ein Gefühl für die Distanz und die Widersprüche entwickeln, die zwischen den Figuren herrschen. Wenn in Gott der Barbaren der britische Lord mit seiner Armee auf Peking zumarschiert und man dann zum chinesischen General wechselt, der auf der anderen Seite der Mauer sitzt und Panik hat, dann bekommt der Leser die Möglichkeit, von beiden Seiten die Distanz auszumessen, die zwischen den Welten besteht. Gleichzeitig kann er beiden Seiten nachspüren. Auch in den Romanen Fliehkräfte und Gegenspiel geht es um Perspektivwechsel. Beide erzählen vom selben Paar, aber einmal aus der Sicht des Mannes, Hartmut, einmal aus der Sicht der Frau, Maria. Wenn man historische Ereignisse oder wie bei Hartmut und Maria ein ganzes Eheleben aus je unterschiedlichen Perspektiven miterlebt, muss man vieles hinterfragen, und oft stellt man fest: So unterschiedlich die jeweiligen Sichtweisen sind, kann man doch am Ende nicht sagen: Das ist die richtige und das ist die falsche, hier ist der Schuldige und da das Opfer. Beide Perspektiven haben ihre Berechtigung.
In der Psychotherapie wird viel mit Rollentausch und Perspektivwechsel gearbeitet. Dies soll die Fähigkeit zur Empathie trainieren.
Ich glaube, dass auch Romane unsere Empathie schulen können. Literatur hat diese Komponente, sie erweitert generell unsere Fähigkeiten, uns in andere Personen hineinzuversetzen, das kann unser Nachbar sein, der Partner oder eben ein chinesischer General aus dem 19. Jahrhundert, von dem wir zu Beginn der Lektüre zu wissen glauben, dass wir sein Handeln und Denken nicht nachvollziehen können – und hinterher gelingt das eben doch. Wenigstens zum Teil.
Schult auch das Schreiben die Empathie? Können Sie sich nach Abschluss von Gott der Barbaren noch besser in die chinesische Kultur hineinfühlen?
Mich hat beim Schreiben etwas ganz anderes umgetrieben. Im Arbeitsprozess war es für mich eher eine Herausforderung, zum einen das Fremde verständlich und zugänglich zu machen – und andererseits die Grenzen aufzuzeigen und darzustellen, wo jemand aus einem Weltbild heraus handelt, das wir nicht kennen. Zum Beispiel eben bei dem chinesischen General: Ich habe seine Sätze ja auf Deutsch geschrieben. Schon das ist eine Verfremdung, denn er spricht schließlich chinesisch. Ich war also immer auf der Suche nach einem glaubwürdigen Satzbau, nach passenden Formulierungen für diese Person, so dass man auch ein Gefühl dafür entwickeln kann, dass dieser General eine für uns fremde Sprache spricht, dass er einer Kultur entstammt, von der nicht alles verständlich ist. Immer wieder geht es also auch darum, die Grenze zu beschreiben, zu zeigen, dass ein Teil des Fremden auch fremd bleibt.
Was fasziniert Sie als Autor an dieser Grenze zwischen bekannt und fremd?
Wo die Grenze anfängt, wird es interessant. An den Grenzen arbeitet man sich ab. Das wird wohl besonders in der Beziehungsgeschichte von Maria und Hartmut deutlich: Wenn der Protagonist Hartmut merkt, dass er seine Frau Maria nicht mehr kennt und auch gar nicht versteht, warum sie plötzlich nach Berlin ziehen will, wenn ihm dämmert, dass sie in der Beziehung einsam war, dann beginnt für ihn durch diese Grenze – er kann seine Frau in dem Moment weder verstehen noch umstimmen – ein endloser Prozess der Fragen und der inneren Arbeit. Meine Figuren sind deshalb oft auch so selbstreflexiv: Eine Antwort ist nur der Beginn der nächsten Frage. Zum Verschwinden gebracht werden kann die Grenze jedenfalls nicht. Es bleibt nur, immer wieder bewusst zu registrieren, wenn man jemanden nicht versteht, wenn man etwas nicht mitbekommen hat in einer Freundschaft oder Beziehung. Die Ehe ist da ja geradezu paradigmatisch für das Thema Grenzen. Da ist man 30 Jahre lang verheiratet, versucht immer wieder, den anderen zu verstehen. Doch der verändert sich im Lauf der Zeit, und so löst sich die Grenze nie auf. Wie Hartmut in Fliehkräfte sind wir also gefordert, uns einen Reim darauf zu machen, was für Grenzen uns aufgezeigt werden.
Die Beziehungsdynamik, die Sie bei Maria und Hartmut sichtbar machen, ist komplex. Wie haben Sie da über zwei Bücher hinweg die Übersicht behalten?
Ganz einfach. Es war anfangs gar nicht geplant, zwei Romane über dieses Paar zu schreiben. Der Anlass für Fliehkräfte war eine reale Person, jemand, der für mich von klein auf eine wichtige Bezugsperson war und den ich näher verstehen wollte. Mit Respekt und manchmal auch Befremden habe ich häufig bemerkt, dass dieser Mann in einer bestimmten Weise nicht erwachsen wurde: Er hörte nie auf, infrage zu stellen, wer er ist und was er tut. Als Heranwachsender hatte ich das Gefühl, dass meine Freunde und ich zwar ähnlich empfinden, doch die anderen Erwachsenen um uns herum hatten auf bestimmte Fragen längst eine endgültige Antwort gefunden. Ich finde es aber zutiefst menschlich, wenn jemand sich infrage stellt, ob nun freiwillig oder gezwungenermaßen. Aus dem Grund habe ich mich auch immer geärgert, wenn in Rezensionen zu dem Buch stand, Hartmut sei ein Spießer. Denn für mich ist er das Gegenteil. Ein Spießer ist doch gerade jemand, der nichts infrage stellt, der alles schon weiß, der auch weiß, wie man am besten die Hecke schneidet. Jedenfalls habe ich dieser Figur nachgespürt und der zerrütteten Ehe. Nach einem Drittel des Buches wurde die Ehefrau immer wichtiger. Ich überlegte, wie sie sein könnte, wie ihre Geschichte ist – und plötzlich erschien diese Maria mir immer interessanter. Häufig kam mir nun auch beim Schreiben der Gedanke: „Weiß Hartmut eigentlich das, was ich hier herausfinde, über seine Frau?“ Und das war natürlich nicht der Fall. Als ich das Buch fertig hatte, war mir klar, die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Und wenn man nicht fertig ist, dann muss man halt weitererzählen. So ist es gekommen, dass ich mich fünf Jahre lang täglich mit diesen beiden Figuren beschäftigt habe.
Was treibt Sie zu so einer Hingabe und Genauigkeit?
Ich glaube, Kunst ist Genauigkeit. Für das Schreiben stimmt es jedenfalls. Erst wenn man ins Detail geht, sich genau überlegt, mit welchen Worten man etwas beschreiben will und aus welcher Sicht man es schildert, kann man der Geschichte gerecht werden. Bei Fliehkräfte und Gegenspiel hat mich das Vorgehen aber auch einfach formal gereizt. Ich wollte wissen, wie es ist, eine Geschichte, die man schon kennt, überraschend und aus einer anderen Warte zu erzählen. So kann man genau sehen, wie oft die beiden aneinander vorbeireden, in welchen Punkten sie die Unwahrheit sagen, wo die Darstellung von Hartmut aus dem ersten Roman nicht hinhaut. Damit wollte ich auch Spannung erzeugen. Tatsache ist allerdings, dass sich dieser zweite Roman viel schlechter verkauft hat als Fliehkräfte. Für viele Leser war es wahrscheinlich doch so, dass die Geschichte auserzählt war.
Haben Sie abschließend einen Tipp, wie man in Beziehungen die Entfremdung, die Sie beschreiben, vermeiden kann?
Nun bin ich kein Psychologe, der Lösungen erarbeitet, sondern kann zum Glück Geschichten einfach schreiben und dann wirken lassen. Wenn man die Handlung analysiert, würde man vielleicht feststellen, wie sehr das Verschweigen bestimmter Gefühle dazu führt, dass sich die Fremdheit vertieft. Aber soll man dann daraufhin sagen: „Leute, redet drüber, kehrt nichts unter den Teppich“? Ich glaube, oft ist genau das Gegenteil richtig. Man kann das Ganze schwer auf Flaschen ziehen. Zwei Menschen, die so unterschiedlich sind wie Hartmut und Maria, müssen also selbst ein Gespür dafür entwickeln, wann Offenheit und wann Verschlossenheit notwendig ist. Ich kann ein persönliches Beispiel nennen: Seit acht Jahren bin ich mit einer taiwanischen Freundin zusammen, sehr glücklich, würde ich sagen. Aber wir sind kulturell so unterschiedlich geprägt, dass manchmal Situationen entstehen, wo wir fassungslos voreinander stehen und uns fragen: „Wer bist du eigentlich? Kenn ich dich?“ Das ist oft spannend, weil man eine Neugier aufeinander bewahrt, aber manchmal scheinen die Unterschiede auch plötzlich unüberbrückbar. Als wir etwa einmal auf das Thema Todesstrafe zu sprechen kamen, äußerte meine Freundin die Meinung, dass diese Strafe bei manchen Verbrechen vielleicht doch angemessen sein könnte. Das ist für hiesige Verhältnisse eher progressiv, die meisten Ostasiaten stellen die Todesstrafe generell nicht infrage. Mein spontaner Impuls war, sie zu schütteln und zu sagen: „Das kannst du doch nicht wirklich meinen!“ Doch gleichzeitig war mir klar, dass es angesichts der Kluft zwischen den Kulturen, in denen wir aufgewachsen sind, eine absurde Überreaktion gewesen wäre. Also habe ich nur gesagt, dass ich es anders sehe. Ich könnte es mir jetzt zur Aufgabe machen, meine Freundin von meiner Sicht der Dinge zu überzeugen. Aber ich kann es auch so stehenlassen.
Serie: Psychologie und Literatur
Zuletzt erschienen in unserer Reihe mit Schriftstellerinterviews:
Gerbrand Bakker: „Vieles bleibt unsagbar“ (Heft 2/2019)
John von Düffel: „Vielleicht gibt es das unabhängige Selbst irgendwann nicht mehr“ (Heft 12/2017)
Bodo Kirchhoff: „Ohne die Melancholie wäre mein Leben ärmer“ (Heft 3/2017)
Stephan Thome wurde 1972 in Biedenkopf in Hessen geboren. Er studierte Philosophie und später Sinologie, unter anderem an der FU Berlin. Seit über zehn Jahren lebt er in Taiwan. Drei Romane – Grenzgang, Fliehkräfte und Gott der Barbaren – standen jeweils auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis, zählten also für die Jury zu den sechs besten deutschsprachigen Büchern des jeweiligen Jahrgangs.