„Science-Fiction öffnet eine Tür im Kopf“

Psychologie und Literatur: Science-Fiction-Verleger Sascha Mamczak über unendliche Weiten, Aliens und den legendären „sense of wonder“.

Der Autor Sascha Mamczak steht vor einer Raumschiff-Attrappe
Wir nehmen die Welt in einem bestimmten kognitiven Rahmen wahr. Science-Fiction ist die Kunst, diesen Rahmen zu sprengen. © Amelie Niederbuchner

Das futuristische Ambiente, vor dem Sascha Mamczak hier auf unseren Fotos posiert, hat nichts mit seinem Arbeitsplatz gemein. In einem verschlafen wirkenden Viertel aus Gewerbe- und Wohnhäusern im Münchner Osten betrete ich ein Bürogebäude mit obligater Glasfassade: „Penguin Random House Verlagsgruppe“. Der hierzulande wichtigste Science-Fiction-Herausgeber empfängt mich in Sportjacke und Jeans. In seinem Büro türmen sich in Lektoratsmanier Bücher, auch am Boden. Sternenposter? Laserschwerter? Fehlanzeige.…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

Büro türmen sich in Lektoratsmanier Bücher, auch am Boden. Sternenposter? Laserschwerter? Fehlanzeige. Science-Fiction ist für Mamczak Kopfsache.

Warum liest jemand Science-Fiction oder schaut Science-Fiction-Filme? Was fasziniert an dieser Art von Geschichten?

Das hängt davon ab, wen Sie fragen. Ganz grob gibt es drei Motive, denke ich. Das erste ist schlicht Unterhaltung. Insbesondere in Form von Filmen und Computerspielen eignet sich die Science-Fiction mit ihren fantastischen Kulissen und ihrer Kinetik ganz wunderbar als guilty pleasure für Menschen, die nach einem langweiligen Arbeitstag voller Excel-Tabellen in eine andere Welt mit Raumschiffen, Laserwaffen, Androiden, Aliens und so weiter eintauchen wollen.

Da kommt dann oft der Eskapismusvorwurf: Realitätsflucht!

Gegen Eskapismus ist nichts zu sagen, schließlich ist unsere Realität nicht unbedingt dazu angetan, dass man sich jeden Tag 24 Stunden lang darin aufhalten möchte. Ein zweites Motiv findet sich insbesondere bei einer ganz bestimmten Science-Fiction-Klientel: wissenschafts- und technikinteressierten Männern – auch Frauen, aber es sind in diesem Zusammenhang doch überwiegend Männer –, die in ihrer Jugend jede Menge Science-Fiction gelesen oder geschaut und davon die Vorstellung mitgenommen haben, man könnte einige der dort beschriebenen Ideen wirklich Realität werden lassen.

Vielleicht nicht gleich so aberwitzige Dinge wie „Wir bauen eine Sonne zum Reaktor um“, aber zum Beispiel: das Internet. Oder den Quantencomputer. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Fortschrittseuphorie, die Leute wie Bill Gates oder Elon Musk vor sich hertragen, einen Science-Fiction-Resonanzraum hat – die Idee, dass die Zukunft technisch machbar ist.

Das klingt, als sei Science-Fiction die Lektüre älterer Männer.

In der Jugend dieser Männer war die Science-Fiction noch ein sehr technikfixiertes Genre. Oder sie fühlten sich von dieser Spielart des Genres eben stark angezogen. Aber die Science-Fiction geht inzwischen in alle möglichen Richtungen und spricht ganz unterschiedliche Gruppen an. Übrigens hatten schon die Star Trek-Filme laut Umfragen mehr weibliche als männliche Zuschauer. Science-Fiction ist längst keine Männerdomäne mehr. Und das ist gut so – die Zukunft gehört schließlich nicht nur den männlichen Technokraten.

Unterhaltung, Technik – und was ist die dritte Anziehungskraft von Science-Fiction?

Das ist etwas ganz Science-Fiction-Spezifisches. Viele Menschen mögen Science-Fiction-Geschichten, weil sie eine Art Wow-Effekt erzeugen, weil sie uns überwältigen. Schon Jules Verne sprach von der „staunenden Verwunderung“, später dann wurde für dieses Erlebnis der Begriff sense of wonder erfunden. Die einfachste Form ist schlicht Größe: riesige Raumschiffe, unendliche kosmische Weiten, und wenn mir dieses Universum nicht groß genug ist, dann baue ich mir eben Parallelwelten.

Aber sense of wonder erzeugt auch der Erstkontakt mit Außerirdischen, die Erfindung einer Zeitmaschine oder andere gängige Science-Fiction-Motive. Sense of wonder ist ein sehr interessanter Begriff, man definiert das Genre sozusagen über das Gefühl, das es auslöst: Die Menschheit wird mit etwas Erhabenem konfrontiert. Nach meinem Geschmack allerdings wird dieser fast schon religiöse, trans­zendentale Touch in der Science-Fiction etwas zu sehr strapaziert.

In der Psychologie spricht man von awe-Erlebnissen, einer Ergriffenheit, die einen zum Beispiel beim Anblick eines atemberaubenden Sonnenuntergangs befällt oder wenn man von einem Musikstück berührt wird. Fällt sense of wonder in diese Kategorie von Gänsehautmomenten?

Ich denke, der sense of wonder in der Science-Fiction ist etwas komplexer als solche Ehrfurchtserlebnisse. Es ist eher wie das plötzliche Öffnen einer Tür im Kopf. Plötzlich nimmt man eine ganz neue Perspektive auf die Dinge ein, die um einen herum geschehen, vielleicht auch eine ganz neue Perspektive auf sich selbst. Science-Fiction heißt eben nicht nur „fremde Welten“, sondern diese Welten sind mit unserer Realität verknüpft. Science-Fiction ist realitätsentkoppelt und gleichzeitig realitätsgebunden.

Im Film Matrix etwa erfährt der Protagonist an einem Kippmoment des Plots, dass die Welt, in der er lebt, eine von außen herbeigeführte Halluzination ist. Und dann tritt er in die eigentliche Realität ein – eine dystopische, von Maschinen beherrschte Zukunft. Das ist ein ganz typischer Science-Fiction-Effekt: Die beiden Realitäten bedingen einander.

Es sind also nicht allein die „unendlichen Weiten“, mit denen Science-Fiction-Stoffe locken?

Weite, Größe, Exotik und natürlich der ganze tricktechnische Budenzauber der Filme – ich finde, irgendwann nutzt sich das ab. Was sich hingegen nie abnutzt, ist die Frage: „Was passiert, wenn du mal völlig anders auf die Welt blickst?“ Dieser Science-Fiction-Twist ist immer wieder neu und spannend.

Vor allem in den drogenbewegten 1960er Jahren gab es eine faszinierende Spielart von Science-Fiction, die nicht im Weltraum, im outer space angesiedelt war, sondern im inner space, in der Psyche. Worum ging es in diesen Geschichten?

Die Kernfrage damals war: Was ist das eigentlich im Inneren des Menschen, das uns nach außen treibt, das uns zu ewigen Pionieren und Eroberern macht? Etliche Science-Fiction-Geschichten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren reaktionäre Kolonisationsfantasien, und die Antwort darauf war eine literarische Bewegung, die nicht nach außen, sondern nach innen blickte, sich der menschlichen Psyche und ihrem oft verqueren Verhältnis zur Realität zuwandte.

Viele Romane von Philip K. Dick zum Beispiel sind in einer Art multisolipsistischen Welt angesiedelt, in der sich die Figuren unentwegt fragen: Passiert das alles um mich herum wirklich? Oder ist es ein Produkt meiner entweder gestörten oder manipulierten Psyche?

Muss man im Hirn einen Schalter umlegen, um sich auf die oft irrwitzigen Gedankenexperimente in der Science-Fiction ­einzulassen und sie zu genießen?

Samuel Taylor Coleridge nannte das vor über 200 Jahren – also lange, bevor der Begriff Science-Fiction erfunden ­wurde – willing suspension of disbelief. Das heißt, ich setze ­meine Skepsis bewusst für eine Weile aus, um mich auf ­einen ­fiktionalen Stoff einzulassen, in dem womöglich Geister oder andere übernatürliche Dinge vorkommen. Würde ich das nicht tun, hätte die Lektüre ja gar keinen Sinn.

Jeder weiß, dass die Welt von Der Herr der Ringe reine Fantasie ist, aber wenn ich Der Herr der Ringe lese, denke ich nicht ständig über diesen Umstand nach, sondern ich akzeptiere diese ­ausgedachte Welt eben. Bei der Science-Fiction funktioniert willing suspension of disbelief allerdings noch etwas anders.

Was genau ist dort anders?

Wie gesagt: Die Science-Fiction ist untrennbar mit unserer Realität verbunden. Wenn man einen Fantasy-Roman liest, schließt man sozusagen einen Vertrag mit dem Autor oder der Autorin: Ich begebe mich in deine Fantasiewelt, und dafür bekomme ich etwas von dir – Unterhaltung, Erkenntnis, was auch immer. Dieser Teil funktioniert bei der Science-Fiction ähnlich. Aber dann kommt noch etwas dazu. In der Science-Fiction trete ich in eine Fiktion ein, deren ganze Handlung auf der Behauptung basiert, dass es sich im Kern um unsere Welt handelt, nur eben eine Weiterführung oder Umgestaltung unserer Welt.

Manchmal so weit umgestaltet, dass sie kaum mehr erkennbar ist. Aber sie ist ständig präsent. Das hat nichts damit zu tun, dass eine Science-Fiction-Geschichte unbedingt wissenschaftlich logisch sein muss, sondern damit, dass man den Bezug zum Hier und Jetzt immer mitdenken muss. Nicht alle wollen und tun das, deshalb können viele Menschen mit Science-Fiction auch nichts anfangen. Die sagen dann: „Das gibt’s doch gar nicht!“ Oder: „Das geht doch gar nicht!“ Das Interessante an einem Science-Fiction-Stoff ist aber nicht, ob etwas geht oder nicht, sondern was daraus folgt.

Zum Beispiel?

Wenn ich eine Science-Fiction-Geschichte über Außerirdische lese, dann ist die Frage offensichtlich nicht: Gibt es Außerirdische? Das ist für die Science-Fiction völlig irrelevant. Sie setzt die Aliens schlicht in die Welt und stellt dann Fragen wie: Was machen die? Wie denken die? Was wollen die? Und vor allem: Was haben die mit uns zu tun?

Und da sind wir dann wieder beim sense of wonder. Worin ­genau wurzelt dieser Spaß am Türöffnen im Kopf, wie Sie es genannt haben? Welches Bedürfnis wird da befriedigt?

Vielleicht ist es intellektuelle Stimulation.

In der Psychologie spricht man von einem need for cognition.

Wir sind ja tendenziell unausgelastet mit der Realität, sonst hätten wir nicht diesen Fantasiemechanismus in uns. Wir wollen spekulieren, wir wollen darüber nachdenken, was sich hinter dem nächsten Hügel befindet, was in der Zukunft einmal sein könnte. Vielleicht erfüllt die Science-Fiction dieses Bedürfnis nach Antworten auf Fragen, auf die es womöglich gar keine Antworten gibt.

Was könnten das für Fragen sein?

Zum Beispiel die Frage, ob wir in einem Multiversum leben. Das wird von der Wissenschaft nicht ausgeschlossen, aber werden wir es jemals wirklich wissen? Für die Science-Fiction ist das ein gefundenes Fressen. Angenommen, im Universum nebenan führen wir beide dieses Gespräch, aber Ihre Fragen, der Ort, die Kleidung sind etwas anders. Und ein Universum weiter ist Ihr Zug nicht rechtzeitig in München angekommen, und wir werden das Gespräch später nachholen müssen. Das führt zu einem unendlichen Regress, da hört das Denken nicht auf – und genau das ist für mich das konstituierende Element von Science-Fiction.

Und das ist es, was Sie auch persönlich an diesem Genre reizt?

Natürlich war ich in meiner Jugend auch fasziniert von der kosmischen Weite und den atemberaubenden Zukunftsvorstellungen, die einem die Science-Fiction bietet. Aber mein persönliches sense of wonder-Erlebnis hatte ich, als mir bewusstwurde, dass es kein Ende für irgendetwas gibt. Einer meiner Lieblingsromane damals war Der lange Nachmittag der Erde von Brian W. Aldiss. Die Geschichte spielt in einer fernen Zukunft, in der die Erdrotation zum Stillstand gekommen ist.

Es gibt also eine immer der Sonne zugewandte und eine immer dunkle Seite der Erde, und auf der Sonnenseite hat sich eine bizarre Flora und Fauna entwickelt – etwa riesige Spinnen, die ihre Netze bis zum Mond bauen. Klingt irre, aber wenn man sich nur ein wenig mit Biologie beschäftigt, weiß man, dass sich das Leben immer anpassen und immer weitergehen wird. Diese Vorstellung hat mich damals tief beeindruckt. Wir sind immer unterwegs, von einem Realitätszustand in den anderen, es gibt immer ein Davor und Danach.

Sie zitieren in Ihrem Buch den Science-Fiction-Autor Robert Heinlein, der dem Genre einen „therapeutischen Effekt“ zusprach. Was könnte er damit gemeint haben?

Das Zitat stammt aus den frühen 1940ern. Science-Fiction war damals im Wesentlichen billige Heftchenliteratur für Jugendliche, entsprechend war ihr Ruf in der breiteren ­Öffentlichkeit. Heinlein sagte: Ja, vieles davon ist schauderhaft geschrieben, aber es ist die einzige Literatur, die uns mit einem Element vertraut macht, das sonst in der Kunst keine große Rolle spielt, nämlich dass sich Gesellschaften, Produktionsverhältnisse, Weltvorstellungen ebenso radikal verändern können wie zwischenmenschliche Beziehungen. Und Heinlein meinte, wenn man Science-Fiction als literature of change liest, ist man besser gewappnet, derartige Veränderungen zu verstehen und sich mit ihnen zu arrangieren.

Welche Veränderungen hat denn die Science-Fiction selbst über die Zeit durchgemacht, und inwiefern spiegeln diese Veränderungen den jeweiligen Zeitgeist und die Fragen, die die Menschen jeweils bewegten?

Ja, Science-Fiction reflektiert sehr stark, was in der Gesellschaft gerade vor sich geht. Viele setzen den Anfangspunkt des Genres bei Mary Shelleys Roman Frankenstein von 1818. Dort kann man gut beobachten, wie Shelley das, was in ihrer Zeit in der Luft lag – die technische Weltaneignung über alle bisher angenommenen Grenzen hinaus –, in ihren ­Roman einfließen ließ und extrapolierte: Was wäre, wenn der Mensch Leben erschaffen könnte, ohne einen göttlichen Funken, nur mit irdischen Bordmitteln, mit Leichenteilen, Chirurgie, Elektrizität? Frankenstein ist ein Roman über die menschliche Selbstüberschätzung, das macht ihn zu Science-Fiction.

Was war der nächste Sprung?

Jules Verne schuf in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Typ von Science-Fiction, der die Gegenwart als Zukunft erzählt. Jules Vernes Romane spielen nicht in fernen Zukünften und sind trotzdem futuristisch. Er tut nämlich so, als ob die technischen Möglichkeiten, die er beschreibt, schon existieren würden. Man müsste sie eben nur umsetzen – man müsste etwa diese riesige Kanone nur bauen, dann kann man damit eine Kapsel zum Mond schießen. Im Fall der Kanone war das rückblickend betrachtet Unsinn, aber dieser mit der Industrialisierung einsetzende tiefe Glaube an Fortschritt und Machbarkeit hat die Science-Fiction lange geprägt.

Und heute?

Das heutige Kernprinzip der Science-Fiction hat im Wesentlichen H.G. Wells Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt: Ich setze eine sense of wonder-Prämisse – Marsianer landen auf der Erde, jemand erfindet eine Zeitmaschine, auf einer Insel finden Klonexperimente statt – und spinne diesen Faden dann „logisch“ weiter.

Bei aller Fantastik ist es diese gedankliche Strenge, die die Science-Fiction auszeichnet. Dietmar Dath, der sich hierzulande am intensivsten mit Science-Fiction auseinandersetzt, nennt das „negative Induktion“: Es gibt einen Science-Fiction-Auslöser für eine Geschichte, der ganz und gar bizarr sein kann, aber dann verläuft die Geschichte streng innerhalb des Korridors, den dieser Auslöser vorgibt. An dieser Grundstruktur hat sich seit Wells wenig geändert, aber es gab natürlich konjunkturelle Themen.

In den 1940ern dominierte die Eroberung des Weltalls, in den 1950er und 1960er Jahren spielten oft Psikräfte eine Rolle, also die Idee, dass in unseren Gehirnen enorme Kräfte schlummern, die man entfesseln kann. Diese Science-Fiction-Strömung führte übrigens leider hin zur Scientology-Sekte, deren Gründer L. Ron Hubbard als Science-Fiction-Autor angefangen hat. In den späten 1960ern gab es dann eine wahre Themenexplosion im Genre, die Science-Fiction wandte sich soziologischen, psychologischen, politischen, auch ökologischen Fragen zu, und bei dieser Vielfalt ist es geblieben.

Gibt es aktuelle Trends?

Die künstliche Intelligenz und der Klimawandel – climate fiction – sind heute zwei ganz wichtige Themen. Was ja auch irgendwie klar ist: Beides wird die Welt, in der wir leben, grundlegend verändern. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass die Erhitzung des Planeten, die wir Menschen selbst in Gang gesetzt haben, das wichtigste Ereignis in der Lebenszeit unserer Kinder und Enkel sein wird.

Neben Romanen, die sich mit derart bedrohlichen Entwicklungen auseinandersetzen, gibt es ja auch Autoren wie etwa Iain Banks, der eine beinahe perfekte Zukunftsgesellschaft entworfen hat, die er schlicht Die Kultur nennt.

Ja, die moderne Science-Fiction ist nicht nur dystopisch. Iain Banks, der leider viel zu früh verstorben ist, entwirft mit seiner Kultur die bestechende Vision einer Gesellschaft, in der es keinen Mangel mehr gibt. Wir leben definitiv nicht in einer solchen Gesellschaft, aber sie ist auch nicht völlig undenkbar.

Während in vielen Science-Fiction-Geschichten eine Welt, in der den Menschen alles zur Verfügung steht und sie nicht arbeiten müssen, als Stagnation und ewige Langeweile beschrieben wird, ist das bei Banks ganz anders: Er zeichnet sie als eine dynamische Welt, in der die Menschen zum Beispiel große Freude an ausgefallenen Hobbys haben…

… wie etwa der Lebensaufgabe, T.C. Vilabiers Streichspezifische Sonate für ein noch zu erfindendes Instrument fehlerfrei zu ­spielen, nämlich auf eben jenem dann eigens zu diesem Zweck entwickelten Musikinstrument, der „körperresonanten Anta­gonistischen Hendekagonsaite“.

Banks hatte viele solcher grandios-skurrilen Einfälle, aber die Grundidee will ernst genommen werden: dass eine Gesellschaft ohne Mangel keine stagnierende Gesellschaft sein muss. Banks’ Geschichten spielen allerdings meistens nicht im Inneren dieser fast perfekten Gesellschaft – das wäre dann vielleicht doch nicht spannend genug –, sondern vorwiegend an ihrem Rand, wo es noch allerlei Reibung und Konflikte gibt.

Ein zentrales Thema in der Science-Fiction ist der Erstkontakt mit einer außerirdischen Zivilisation. In der Wissenschaft wird diskutiert, welche psychologischen und kulturellen Schockwellen ein solcher Erstkontakt bei uns auslösen könnte. Was meinen Sie?

Es wäre sicher das größte kulturgeschichtliche Ereignis aller Zeiten, und der Schock wäre vielleicht sogar ganz heilsam für uns. Die Menschheit ist ja inzwischen so sehr von sich selbst berauscht, dass wir die anderen Lebewesen auf unserem Planeten kaum mehr beachten. Wir nutzen sie für unsere Zwecke oder lassen sie aussterben. Mit dieser Selbstüberhöhung wäre es bei einem Kontakt mit einer anderen, womöglich überlegenen Zivilisation vorbei. Die Demütigung, dass wir nicht im Mittelpunkt stehen, würde uns guttun, denke ich. Wir würden kulturell einen großen Sprung nach vorne machen. Außer natürlich, die Aliens massakrieren uns.

Ja, spannend wäre vor allem, was das für Außerirdische sind. Was überwiegt in der Science-Fiction: die gütigen und weisen Aliens wie etwa in dem Spielberg-Film Unheimliche Begegnung der dritten Art? Oder die grausamen Eroberer à la Krieg der Welten?

Ich habe es nicht nachgezählt, aber ich vermute mal, dass die konfrontativ gezeichneten Aliens in der Science-Fiction in der Mehrzahl sind, denn die gütigen, engelsartigen Außerirdischen geben – Ausnahmen bestätigen die Regel – keine richtig gute Geschichte her. Die interessantesten Aliens sind für mich allerdings die, bei denen es zu Missverständnissen kommt: Wir verstehen ihre Motive nicht oder falsch und umgekehrt, auch deshalb, weil die Außerirdischen womöglich eine völlig andere Weltwahrnehmung haben.

In Ted Chiangs Kurzgeschichte Story of Your Life, auf der der Film Arrival basiert, werden zum Beispiel intelligente Lebewesen beschrieben, die die Zeit völlig anders wahrnehmen und antizipieren als wir und folglich auf eine Art und Weise handeln, die für uns kontraintuitiv ist. Und Peter Watts schildert in seinem großartigen Roman Blindflug eine außerirdische Lebensform, die hochintelligent ist, aber kein Bewusstsein ihrer selbst hat – was es nach unserem Stand der Wissenschaft eigentlich nicht geben kann. Watts geht aber sogar noch einen Schritt weiter und stellt die Frage, ob das menschliche Bewusstsein nicht eine evolutionäre Sackgasse ist.

Was meinen Sie: Könnten wir uns denn mit einer völlig andersartigen Intelligenz überhaupt verständigen?

Die Wahrscheinlichkeit, dass wir mit außerirdischen Wesen sofort und problemlos kommunizieren könnten, tendiert wohl gegen null. Aber dass eine Kommunikation überhaupt nicht möglich wäre, sehe ich auch nicht. Denn irgendwie müssen die Angehörigen dieser Spezies ja untereinander kommunizieren, also Signale von sich geben, die auch von uns wahrgenommen werden können, und sei es nur rudimentär. Man könnte sich dann erst mal auf eine Art Protokommunikation einigen. Menschen leben ja auch friedlich mit Katzen zusammen, ohne dass die beiden Spezies einander wirklich verstehen.

Stanislaw Lem war da nicht ganz so optimistisch. In seinem Roman Solaris schildert er die vergeblichen Bemühungen der menschlichen Wissenschaft, mit einem offensichtlich intelligenten Ozean, der einen fernen Mond bedeckt, in Kontakt zu treten.

Was Lem in Solaris macht, ist wunderbar. Er entwirft die „Solaristik“, einen riesigen theoretischen Apparat, der sich nur mit dieser Kontaktaufnahme befasst, und amüsiert sich über dieses theologisch anmutende pseudowissenschaftliche Gehabe, denn sein Alien, der Ozean, projiziert schlicht alles, was die Menschen hineinsenden, wieder zurück. Lem weist auf die menschliche Neigung hin, dass wir uns in allem Fremden, dem wir begegnen, letztlich selbst sehen. Oder sehen wollen. Aber die Existenz des Ozeans an sich ist gleichzeitig der Beweis, dass es tatsächlich etwas außerhalb von uns gibt.

Sie verwenden in Ihrem kleinen Einführungsbuch Science-Fiction den Begriff „ontologischer Schock“ für diese fremdartige Gedankenwelt, mit der uns Science-Fiction zuweilen konfrontiert. Was genau ist damit gemeint?

Die schleichende oder auch schlagartige Erkenntnis, dass ganz vieles außerhalb unseres jeweiligen kognitiven Referenzrahmens geschieht. Wir nehmen die Welt ja innerhalb eines bestimmten geistigen Rahmens wahr, und innerhalb dieses Rahmens erzählen wir uns die allermeisten Geschichten. Science-Fiction dagegen ist die Kunst, die diesen Rahmen sprengen will. Science-Fiction sagt, dass nur wenig auf der Welt wirklich so ist oder sein muss, wie es ist. Das ist der ganz spezifische Eskapismus der Science-Fiction: Sie entführt uns aus unserer kleinen Realität in eine viel größere, umfassendere Realität.

Fünf Buchempfehlungen von Sascha Mamczak

Ray Bradbury: Fahrenheit 451

Bradburys Klassiker entstand zwar vor dem Hintergrund der großen Ideologien, aber seine dystopische Welt ist keine brutale Diktatur, sondern das Resultat freiwilliger Entrationalisierung. Geht es aktueller? Heyne

Philip K. Dick: Ubik

Sind wir alle vielleicht längst tot, ohne es zu wissen? Und wenn ja, was macht das schon? Ubik ist eine so anarchische wie stringente Achterbahnfahrt durch Raum und Zeit – Science-Fiction-Kunst auf höchstem Niveau. Fischer Klassik

Ursula K. Le Guin: Freie Geister

Science-Fiction kennt keinen historischen Endzustand, also kann sie nicht utopisch sein. Aber sie setzt sich mit Utopien auseinander, und niemand hat das je klüger getan als Ursula K. Le Guin in Freie Geister. ­Fischer Tor

Kazuo Ishiguro: Klara und die Sonne

Wir bauen künstliche Intelligenzen, aber wer weiß schon, was darin wirklich geschieht. Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro sucht in diesem meisterhaften Roman nach dem Punkt, an dem Mustererkennung zu Emotion wird. Blessing

Kim Stanley Robinson: Das Ministerium für die Zukunft

Kim Stanley Robinson ist der politisch einflussreichste unter den aktuellen Science-Fiction-Autoren. Was schlicht daran liegt, dass seine Zukünfte eigentlich Gegenwarten sind – und trotzdem immer noch Möglichkeiten. Heyne

Sascha Mamczak ist Science-Fiction-­Verleger bei Heyne und Autor von Sachbüchern und Essays. Bei Reclam erschien 2021 sein Buch Science-Fiction. Mag ja sein, dass diese Literatur Kopfsache ist, aber etwas Ufo-Ambiente muss schon sein, sagte sich unsere Fotografin Amelie Niederbuchner und setzte Mamczak vor dem Münchner Futuro-Haus in Szene.

Psychologie und Literatur

In unserer Serie sprachen zuletzt:

Anna Katharina Hahn über die Dynamik in Familien (Heft 3/2022)

Helga Schubert über das Erinnern (Heft 12/2021)

Judith Hermann über das Trennende zwischen Liebenden (Heft 9/2021)

Thomas Hettche über das Märchenhafte im Alltäglichen (Heft 6/2021)

Anke Stelling über subtile soziale Ausgrenzung (Heft 3/2021)

Raphaela Edelbauer über das Mysterium der Zeit (Heft 12/2020)

Benjamin Maack über die Innenansicht eines Zusammenbruchs (Heft 9/2020)

Daniel Kehlmann über Magie und Wissenschaft (Heft 6/2020)

…und viele mehr.

Sie können diese Hefte über unsere Website nachbestellen: psychologie-heute.de/einzelhefte

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2022: Die Zeit, als alles neu war